# 38 – Benny On Brexit
Von Politik verstehe ich nicht viel, doch zu manchen Themen hat man rein zufällig ein persönliches Naheverhältnis. Womit wir beim Brexit wären.
Es ist schon lange her, aber Harriet und ich waren einmal ein Paar. Sie war das britischste Geschöpfe, das man sich vorstellen kann und noch dazu eine Schönheit, weil einer ihrer gichtkranken Vorfahren einst eine indische Prinzessin geschwängert hat.
Anfangs war ihr Deutsch so schlecht, wie mein Englisch, weshalb wir uns außerhalb des Schlafzimmers oft missverstanden. Wir gingen aber nur wenig raus und wenn dann um zu feiern. Nach einer Flasche Wein begann sie meist zu singen. Das war nicht irgendeine Grölerei oder so. Wenn Harriet sang, nahm der DJ die Kopfhörer ab und reichte ihr ein Mikrophon. Nach kurzer Zeit sangen meist alle mit und es wurde noch mehr getrunken.
Harriet liebte Musik, tanzte bis zur Erschöpfung und versprühte eine unbändige Lebenslust. Männer und Frauen fühlten sich gleichermaßen von ihr angezogen, was mich oft in Schwierigkeiten brachte. Einige sahen die Tanzerei als Einladung, sie zu begrapschen, doch immer, wenn ich dazwischen ging, funkelte sie mich böse an. Sie wollte selbst entscheiden, wie und wann sie jemanden in die Schranken wies. Meist war sie bei Partys aber sowieso von lachenden Zuhörern umgeben. Und auch sie lachte, mit offenem Mund, weit ausladend und blieb doch immer auf eine vollkommen unbeschreibliche Art Tochter aus adeligem Haus.
Mit Harriet konntest du überall hingehen. Ihr Charme und ihre Intelligenz waren klassenübergreifend. Sie unterhielt sich am Anarchistentreff genauso animiert wie bei der Veganerclubtagung oder dem Empfang des deutschen Botschafters. Ein wohlmeinender deutscher Bekannter hatte uns da eine Einladung zukommen lassen. Natürlich waren wir nicht angemessen gekleidet und nur darauf aus, so viel wie möglich zu essen und zu trinken, doch ein Sekretär des Botschafters fragte mich ehrfürchtig am Ende des Abends, ob ich ihm Harriets Telefonnummer geben könnte, weil sich der Botschafter so für ihre Ausführungen über die Interessen der verschiedenen Nato-Partner begeistert hat. Für eine Flasche Champagner gab ich ihm eine Nummer. Ich hoffe, das Wiener Tierasyl hat sich über seinen Anruf gefreut.
Die wilderen Partys verließen Harriet und ich nie vor Morgengrauen, wobei der Ablauf sich nur geringfügig unterschied. Harriet war meist stockbesoffen und nicht fähig, sich ohne meine Hilfe auf zwei Beinen zu halten. Gerufene Taxis hielten kurz, sahen uns und fuhren weiter. Oft trug ich sie einfach nach Hause. Das dauerte zwar wegen der vielen Pausen recht lange, hatte aber den Vorteil, dass sie sich noch auf dem Weg übergab.
Da standen, bzw. knieten wir dann im Morgenlicht in einem der Parks auf dem Heimweg. Ich hielt ihre langen, braunen Haare, während sie ihren Mageninhalt lautstark über diverse Blumenarrangements verteilte. War alles heraußen, dreht sie sich immer zu mir. Noch mit ein wenig Kotze um die Mundwinkel sah sie mich an, lächelte und fragte: „Do you love me, Benny?“ Jedes Mal antwortete ich:„I love you very much, Harriet“, woraufhin sie mein Taschentuch nahm, sich den Mund abwischte und meinte: „Well, you must be a bloody wanker, if you love a woman who has barf on her face. Come on. Let’s go!“ Forsch schritt sie voran in die falsche Richtung, bis sie nach wenigen Meter wieder kollabierte.
Das Zusammenleben mit ihr war einfach, wenn man sich an gewisse Regel hielt. Sie war zu mir in meine kleine Wohnung gezogen, zahlte unpünktlich die Hälfte der Miete, bestand aber darauf, einen wesentlichen Teil des Betrages in Form eines Geschenkes refundiert zu bekommen. Ich war froh, dass sie überhaupt zu mir gezogen war. Alle unsere männlichen Bekannten beneideten mich und selbst bei den Damen war mein Ansehen dank ihr gestiegen. Ansprüche an die Ausstattung der Wohnung hatte Harriet nicht. Ihr Geschmack betreffend Kleidung und Einrichtung war ausgeprägt seltsam. Mit größter Gelassenheit trug sie Farbkombinationen, für die man in Italien ins Gefängnis gewandert wäre.
Harriet war auch eine enthusiastische Köchin. Über Stunden kreierte sie unbeschreibliche Gerichte. Sie wird das nicht so gesehen haben, aber ich denke, das Verzehren ihrer durchwegs ungenießbaren Speisen war der ultimative Liebesbeweis. Meist kochte aber sowieso ich. Sie kommentierte, schimpfte, meinte, dass meine Gerichte langweilig wären. Babyfood nannte sie was ich kochte und sie in rauen Mengen verschlang.
Die Hausarbeit wurde gemeinsam nicht erledigt. Wurde das Chaos unüberbrückbar, luden wir Freunde und Verwandte zu einem Putz-Happening ein. Gemeinsam verbrachten wir ein Wochenende singend, trinkend und eben putzend. Harriet stand bei diesen Festen Gummihandschuhe schwingend in der Mitte, rauchte, sang und verteilte Gin Tonic. Sonntag abend verließen die erschöpften Gäste unsere saubere Wohnung mit dem Gefühl, etwas Großartiges geleistet zu haben.
Zu ihrer Heimat hatte sie ein gespaltenes Verhältnis. Einerseits verachtete sie gewisse englische Traditionen, andererseits ließ sie nie einen Zweifel daran, dass sie Großbritannien für die zivilisierteste Nation des Planeten hielt. Eine ihrer Gehirnhälften freute sich, dass es kaum noch britische Kolonien gab, während die andere nicht verstand, warum ein Land nicht von der kultiviertesten aller Nationen kolonialisiert werden will.
Der Gipfel ihrer Gespaltenheit wurde bei Hochzeiten im britischen Königshaus erreicht. Harriet bestand immer darauf, dass wir uns das gemeinsam im Fernsehen ansehen. Da saß sie dann gebannt vor dem Gerät und überhäufte die Queen bzw. ihre Familie mit den unflätigsten Beschimpfungen. Trotzdem wollte Harriet keine Sekunde der Übertragung versäumen.
Einmal fragte sie mich ganz im Ernst, ob ich ihr einen Topf bringen könnte, weil sie jetzt dringend pinkeln müsste. Ich habe mich geweigert. Wenig später sprang sie auf, weil im Fernsehen gerade das magische Wort „Yes“ gesprochen wurde und sich ein Ringwechsel ankündigte. Es war aber nie die Blase, die sie ins Badezimmer trieb, sondern die Tränen der Rührung, für die sie sich ein klein wenig schämte.
Was ich erst nach und nach begriff, war, dass ihr lautstarkes Auftreten für Demokratie und Gleichberechtigung immer aus ihrer ganz eigenen Perspektive heraus geschah. Sie selbst sah sich nie als geknechtete Person. Vielmehr war sie eine Art gnädiger Lord, der es der Dienerschaft ab nun frei stellte, für den Haushaltsvorstand zu schuften.
Nachdem unsere Freunde nicht mehr zum gemeinsamen Putzen mit Gin kommen wollten, mussten wir doch eine Putzfrau engagieren. Harriet war die Erste, die die Putzfrau nach ihrem vollen Namen fragte, ihr – ein paar Brocken, Slowakisch, Ungarisch, Serbisch oder Russisch sprechend – die Hand schüttelte, um anschließend auf Englisch über die sozialen Ungerechtigkeiten in der Heimat der sich wundernden Dame zu referieren.
Wie der Staubsauger funktionierte, wusste Harriet nicht. Aber wehe, die Putzfrau war schlampig. Da konnte die politische Lage in ihrem Herkunftsland noch so prekär sein, nie wieder würde Harriet sie engagieren.
Wie sie ihren Lebensunterhalt und das Musikwissenschafts-Studium finanzierte, wurde mir nie ganz klar. Sie behauptete, ihr Vater wäre wohlhabend, aber unsagbar geizig. Nur ab und an würde er ihr einen Tipp für den Kauf einer bestimmten Aktie zukommen lassen, woraufhin sie, wie von der Tarantel gestochen, ihren Broker anrief, um genau diese Aktie zu ordern. Wenige Tage später wurden die dann wieder verkauft. Meist klappte das und brachte ihr Geld für ein paar Monate.
Manchmal, wenn ihr Vater anrief, hob ich das Telefon ab und es war klar, dass mich der alte Herr nicht leiden konnte. Er wollte Harriet lieber heute als morgen zurück auf der Insel sehen. Unbedeutender Wurm, sowjetischer Satellit oder ganz einfach „little prick“ nannte er mich Harriet gegenüber.
Mein Vater mochte Harriet, nur meine Mutter fragte immer ängstlich, ob wir auch sicher verhüten würden. Aber ja, Harriet hatte zu einer Zeit, wo wir noch alle um Studienbeihilfe ansuchten, ihren eigenen Broker. Erst von ihr erfuhr ich, was so jemand tut. Überhaupt öffnete sie mir die Augen für Teile der Welt, die ich ohne sie nie wahrgenommen hätte.
Was ich an ihr aber am meisten schätzte, war ihr so ausdauernder Sinn für Humor. Sie konnte auch auf Deutsch zu jeder Tageszeit Sätze präsentieren, die zwar wenig Grammatik, dafür aber viel Witz hatten und dir am trübsten Februartag ein Lächeln auf den Mund zauberten. Natürlich war sie auch unberechenbar und egozentrisch, aber nie langweilig. Und wenn sie „Let it be“ sang, dich dabei umarmte und dir tief in die Augen sah, hättest du alles für sie gegeben.
Nach eineinhalb Jahren stritten wir wegen irgendeiner Kleinigkeit einmal eine Woche lang. Wieder war dem Streit ein Telefonat Harriets mit ihrem Vater vorausgegangen. Was genau die beiden besprochen hatten, weiß ich nicht, doch hatte er anscheinend mehr Einfluss auf sie, als ich das damals für möglich gehalten habe. Streiten konnten wir damals dann auch besser, weil mein Englisch in der Zwischenzeit recht gut geworden war. Ihre Deutschkenntnisse hatten sich kaum entwickelt. Am darauf folgenden Sonntag hatte sie ihre Sachen gepackt, war bei mir aus und bei dem wohlmeinenden Deutschen eingezogen. Ich war am Boden zerstört, betrank mich unvollständig und putzte anschließend die Küche.
Auch wenn ich mich sehr über eine Rückkehr ihrerseits gefreut hätte, stellte sich doch nach einem Monat so etwas wie Erleichterung ein. Das ständige Herumtänzeln um ihre Befindlichkeiten war auf die Dauer ermüdend. Ich fragte mich auch, was ihr überhaupt an mir gefallen hatte und kam zum Schluss, dass wahrscheinlich ich es war, der das Fundament bereitgestellte hatte, auf dem sie ihre ganze Widersprüchlichkeit ausleben konnte. Nie hätte sie es zugegeben, aber eigentlich brauchte sie mich mehr als umgekehrt.
Lang hörte ich nichts von ihr, bis ich den Deutschen zufällig in einer Bar traf. Bei ihm war sie wohl nur eine Woche geblieben, doch seine Augen glänzten, als er von ihr sprach. Noch Jahre lang schickte er ihr Geburtstagsglückwünsche und Facebook- Freundschaftsanfragen, die sie nie beantwortete. Der Deutsche wusste auch, dass Harriet mittlerweile Ehefrau und Mutter geworden war. Das Kind stammt aber vom nigerianischen Butler ihres adeligen Ehemannes.
Wie auch immer. Ich habe Harriet geliebt und sollte sie je an meine Tür klopfen, würde ich sie augenblicklich herein bitten. Dass die Brexitabstimmung aber so ausgegangen ist, wie sie eben ausgegangen ist, wundert mich kein bisschen. Berechenbar war Harriet nur selten und wenn auf der Insel alle ein wenig sind wie sie, wird es ihnen ganz leicht fallen, gleichzeitig wunderbar gescheit, und ein wenig beschränkt zu sein.