#21 Appalachian Waltz
Es gibt den Regen, der seine Tropfen auf den Balkon und in die Hängematte peitscht. Und Minuten zuvor: die Zwillinge, die darin schaukeln, Arm in Arm, neben den Sonnenflecken an der Wand.
Es gibt die Tage an denen Sophie mir mit erhobenem Zeigefinder droht, mich zu verlassen. Meist einmal pro Monat, inmitten eines hormonellen Tumultes. Und wenn ich ihr das sage, schreit sie noch lauter.
Es gibt die Momente, wo wir still neben einander sitzen, jeder für sich einen Teil der Zeitung liest und sie ganz selbstverständlich nach meiner Hand greift, als wäre mein Körper eine Erweiterung des ihren und ich bekomme eine Gänsehaut, weil es mich so glücklich macht.
Es gibt den alleinstehenden Herrn Truppel, den Vermieter, der mir erzählt, wie gerne er einen Aufzug direkt von seiner Garage in seine Wohnung hätte, weil er dann weder das dreckige Stiegenhaus noch seine Mieter sehen müsste. Die sechzig jährige Frau Herta, die Chefin des Sexshops, wo ich manchmal aushelfe, gibt es. Vor einem Regal mit Dildos schwärmt sie von einem jungen Mann, der am anderen Ende der Welt lebt und so schöne Emails schreibt.
Es gibt die Angst, wenn die Zwillinge alleine über die breite Straße gehen, oder wenn sie Fieber haben und wir die ganze Nacht nicht schlafen. Es gibt das Spital und Sophies Mutter, die es nie wieder verlassen wird. Es gibt Schmerztabletten, die Verzweiflung und das Eis vom De Franco. Letzteres kommt regelmäßig wie der Frühling.
Es gibt meine Dummheit, wenn ich der Welt die Schuld gebe, das Versagen und die dumpfe Wut. Es gibt das Federballspiel und den heiligen Ernst, mit dem die Kinder in den neuen Fußballschuhen auf und ab schreiten. Es gibt die Tränen, die Panik und den schwarzen Tod.
Es gibt die Liebe, die dich umarmend beschützt und doch ziehen lassen muss. Es gibt die Trauer, wenn nichts verloren geht, aber alle Atome deines Körpers wieder getrennt von einander durch das Weltall rasen. Und es gibt den Appalachian Waltz von Mark O’ Connor, der mich wie ein süßer Traum glauben lässt, es hat alles einen Sinn.