# 19 Siebenbürgische Zeitung

Vormittag. Die Zwillinge sind im Kindergarten. Nicht einmal zur Jobsuche verlasse ich die Wohnung. Habe einen riesigen Pickel auf der Nase und sehe aus wie Rudolf, das Rentier. Zu allem Überdruss ist Papa bei uns eingezogen. Das wäre schon zu seinen Lebzeiten nervenaufreibend gewesen, doch er starb vor vier Monaten und das macht die Sache nicht einfacher.

Hier muss ich anmerken, dass Sophie keine große Hilfe ist. Sie sieht Papa nicht, hält mich für verrückt und meint, dass viele hässlich entstellte Menschen arbeiten gehen.

Vor einer Woche stand Papa vor der Tür und die einzige Überraschung war, dass ich nicht überrascht war. Er ist ein Teil von mir, wie die Zwillinge oder meine Nase. Sollte diese je wieder normal aussehen, wird mich das auch nicht überraschen.

Ich freute mich sehr, ihn zu sehen. Wir haben uns umarmt, uns geküsst. Er musste sich setzen, weil sein Knie wieder schmerzt. Bei rund 40 Kilo Übergewicht wundert mich das nicht, doch sein Hauptproblem liegt, meiner Meinung nach, wo anders: Er will einfach nicht akzeptieren, dass er ein Geist ist.

Und sein Tod hatte keinen Einfluss auf seine Persönlichkeit. Wie gehabt dreht sich alles um ihn, und vier Fünftel seiner Sätze beginnt er mit „Folgendes…“ Was folgt, ist meist eine Art Arbeitsanweisung an mich. Jetzt sitzt er in dem großen, grünen Fauteuil – seinem Lieblingssessel -, den ich Trottel aus seiner Wohnung zu uns gebracht habe, und kommandiert mich herum.

Den halben Vormittag haben wir gestritten, weil er unbedingt Auto fahren will. Mein Vater wurde zu einer Zeit sozialisiert, als das eigene Auto gleichbedeutend war mit dem Besitz eines Harems und einer Goldmine. Sein letzter Wagen gehörte allerdings seiner Freundin. Die wollte ich nicht anrufen. Was hätte ich ihr sagen sollen? „Der Geist meines Vaters verlangt nach dem alten Daewoo?“

„Ruf ich sie eben an. Wo ist mein Handy?“, fragte er mich vom Sessel aus. Sein Handy habe ich abgemeldet. Sophie meinte, es sei ungesund, wenn ich vor dem Einschlafen seine Nummer wähle, um seine Stimme auf der Mailbox zu hören.

Ich versuche, ihn abzulenken. Mein Vater liebt Geschichte. „Papa, wann genau wurde Maximilian der Erste geboren?“

„Frag nicht so blöd, bring mir lieber meine Zeitung“, kommt es postwendend retour.

Ich weiß, welche Zeitung er will. Es muss die Siebenbürgische Zeitung sein. Die Leserschaft dieser Zeitung hat ein Durchschnittsalter von 80+ und schrumpft täglich. Siebenbürgen – das einst deutschsprachige Siedlungsgebiet in Rumänien -, gibt es nur noch rein geographisch. Diese Zeitung bietet auch keine News im eigentlichen Sinn. Sie besteht zu zwei Drittel aus Todesanzeigen. Das verbleibende Drittel bildet eine Art gedruckte Nabelschnur in die Vergangenheit der schwindenden Leserschaft.

Papa hatte die Zeitung durchgehend seit 1950 abonniert und mit ziemlicher Sicherheit jede Ausgabe gelesen. Ich habe sie abbestellt. War kein Problem, die sind dort sehr gut organisiert, wenn es um Todesfälle geht.

Ich habe einfach nicht die Nerven, ihm das jetzt zu beichten. Ein Lichtblick. Eine Ausgabe habe ich. Die kam erst nach seinem Tod.

Wunderbar. Endlich sitzt er still und friedlich im grünen Fauteuil. Solange er die Siebenbürgische Zeitung liest, kann ich mich wieder meinem Pickel widmen.

Moment, es klingelt an der Tür.

Der Postbote brachte einen eingeschriebenen Brief. Als ich unterschrieb, meinte er mit Blick auf meine Nase, dass ich es mit Zahnpasta versuchen soll. Zahnpasta gegen Pickel?

Und plötzlich fiel es mir ein. Ich sprintete ins Wohnzimmer. Papa war verschwunden. Auf dem Fauteuil lag die aufgeschlagene Zeitung mit seiner Todesanzeige. Geboren in Siebenbürgen, Hermannstadt 1932, gestorben in Wien 2012.

Jetzt stehe ich im Badezimmer vor dem Spiegel, habe Zahnpasta auf meiner Nase und weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.