Mein Sprengel

Dieser Text entstand im Zuge meiner Tätigkeit als Wahlhelfer bei der Wiener Gemeinderatswahl 2010. Jedes Wahllokal wird von Bediensteten der Gemeinde Wien geleitet. Die wahlwerbenden Parteien dürfen Wahlhelfer zur Verfügung stellen. Ohne diese Helfer wäre eine Wahl, in der uns gewohnten Form, nicht durchführbar.

6 Uhr 15 – 0 abgegebene Stimmen.
Enttäuscht stehe ich in der, zum Wahllokal umfunktionierten Schulklasse. Niemand will meinen Ausweis sehen oder nimmt mir einen Amtseid ab. Ich erwartete das, hat mir doch die Juristin der Grünen all die „Do´s and Dont´s“ meines Wahllokal-Dienstes erklärt. Nein, da steht nur Anna, 40+, leicht überfordert, Sekretärin in einem Betrieb der Stadt Wien und hat Kuverts, Formulare, Stimmzettel vor sich liegen. Anna reicht mir die Hand. „Simma per du.“ Sie hat das schon öfter gemacht, aber eben in einem ganz anderen Sprengel und nicht als Leiterin des Wahllokals. „Wo sind die anderen?“ Anna zuckt mit den Schultern. Egal. Werde ich eben an Annas Seite die Demokratie verteidigen, lege meine Sachen auf den Platz neben ihr und hänge die Kandidatenlisten auf.

Die Sache mit den Vorzugsstimmen scheint sich niemand so genau überlegt zu haben, denn erstens ist das System recht kompliziert und zweitens passen die Plakate kaum in die Wahlzelle. Bis 17 Uhr muss das Tixo halten. Mein Sprengel-Wahllokal, eines der über 1800 in Wien, wird genau 10 Stunden geöffnet haben und rund 500 Wahlberechtigten die Möglichkeit der Stimmabgabe bieten.

Motorrad-Susi, den Namen hat sie nur in meinem Kopf, stiefelt in schwarzer Lederkluft, Motorradhelm am Arm tragend, locker ins Lokal. Sie ist die zweite Beamtin, eher 45+, und unter der Woche als Kindergärtnerin beschäftigt. Bin mir nicht sicher, ob ich ihr meine Kinder überantworten würde, doch im Wahllokal ist sie wunderbar. Sehr penibel wird sie Ausweise entgegen nehmen und Stimmzettel verteilen. Meinen Platz neben Anna muss ich allerdings räumen. 10 Minuten später kommt der Ordner. Er erinnert an Obelix, die Comicfigur. Gleich darauf erscheint eine Dame der ÖVP. Sie war bei jeder Wahl der letzten 20 Jahre dabei und führt einen kleinen Betrieb in der Gegend. Ihre erste offizielle Tätigkeit ist das Aufstellen der Nespresso-Kaffeemaschine. „Bitteschön, ich habe 18 Kapseln mitgebracht. Sie sind alle herzlichst eingeladen.“ Auch die drei Senioren der SPÖ, die eben das Wahllokal betreten, hören das gerne. Mich sieht die Oberseniorin – nennen wir sie „Hilde“ – recht streng an. Nein, sie sei für die Listenführung zuständig, weshalb ich meinen Platz abermals räumen muss. Nein, und da könne ich auch nicht sitzen. „Hier sitzen meine Leut.“ Ich werde an einen Einzeltisch am Ende des Raumes verbannt.

7 Uhr 5 – 2 abgegeben Stimmen. Obelix, der Ordner war noch schnell einmal zu Hause, weil der Schulwart – „dieser Trottel“ – keine Häferln herausrücken wollte. Mittlerweile haben zwei Personen in Bergschuhen ihre Stimme abzugeben. Kaum jemand weiß, dass jeder Wahlberechtigte eine Nummer hat. Die steht auf dem Brief, den man vor der Wahl vom Magistrat zugeschickt bekommt. Hat man ihn nicht dabei, muss man die Nummer erst im Wählerverzeichnis suchen. Dieses Verzeichnis ist nach Adressen sortiert und besteht aus rund 18 eng beschriebenen A4 Blättern. Das Aufspüren des Namens auf den Listen erledigen zwei der drei SPÖ Senioren und die ÖVP Dame. Hilde trägt die Nummer des Wählers, den Namen und die laufende Nummer auf eine neue Liste ein. Ich darf nichts machen.

7 Uhr 30 – 10 abgegebene Stimmen.
Der Ordner lehnt am Türrahmen und meint mit Blick auf den leeren Gang: „Des zaht sich heut wieder.“ Die Wahlbeteiligung ist das Thema im Wahllokal. Das Wetter soll schön werden, doch wir sehnen uns nach Wählern, nach Betätigung. Die Jungen kommen sicher später. Allerdings weiß man bei denen nicht, was sie wählen. „Unsere Generation“, meint Hilde, „bleibt ja einer Partei treu.“ Zustimmendes Nicken bei den anderen beiden SPÖ Senioren und der ÖVP. Apropos: Was ist mit der FPÖ? Nein, da ist kein Vertreter. Laut Wahlplakat glaubt HC an uns. Das muss reichen.

8 Uhr 30 – 16 abgegebene Stimmen
Der Mann mit der dicken Geldbörse ist da. Wir, die Abgesandten der jeweiligen Parteien, die von 6 Uhr 15 bis zirka 18 Uhr 30 über den korrekten Ablauf der Wahl wachen, bekommen 45 Euro Aufwandsentschädigung. Hilde nimmt auch das Geld ihrer beiden SPÖ Kollegen in Empfang und steckt es in ein Kuvert. Die SPÖ Vertreter werden dazu angehalten, die Aufwandsentschädigung der Partei zu spenden. Geht man von drei SPÖ Vertreter pro Sprengel aus, so sind das bei 1800 Sprengel rund 243.000 Euro Steuergeld, über die sich die SPÖ heute freuen darf. Dafür bekommen die SPÖ Vertreter aber auch etwas geliefert: nämlich zwei Semmeln – Wurst oder Käse – eine Topfengolatsche und Kaffee. Ich kann meine 45 Euro behalten, muss mir aber meine Wurstsemmeln selber kaufen. Die ÖVP Dame gewinnt unseren internen Vergleichskampf. Sie darf die 45 Euro behalten und bekommt Essen geliefert. Theoretisch, denn praktisch hat sie verzichtet. „Ich mag keine Wurstsemmeln.“

9 Uhr 00 – 25 abgegebene Stimmen
Langsam tröpfeln die Wähler in unser Wahllokal. Hilde geht im Klassenzimmer ein paar Schritte auf und ab. Sie liest Postkarten, die Kinder an ihre Lehrerin geschickt haben: „Grüße aus der Türkei. Na bitte. Die können aber ned gut Deutsch.“

9 Uhr 30 – 36 abgegebene Stimmen
Junge Sozialdemokraten bringen die Verpflegung. Die Topfengolatschen sind leider aus und Hilde ist kurz sauer auf ihre Partei. Zwischen uns entbrennt eine Diskussion über Ladenöffnungszeiten. In der Gegend gibt es eine Bäckerei, die auch am Sonntag geöffnet ist. Die ÖVP Dame und die Beamtinnen finden das wunderbar. Hilde ist dagegen. Ich stimme ihr zu. Der Sonntag wird zum Wochentag degradiert, wenn alle Geschäfte aufsperren dürfen. Motorrad-Susi erzählt von Amerika, wie toll das dort ist, weil man eben alles zu jeder Zeit machen könne. Meine Frau ist Amerikanerin und mag das österreichische System. Hilde lächelt mich das erste Mal an.

10 Uhr – 53 abgegebene Stimmen
Wie hoch ist die Wahlbeteiligung nach drei Stunden? Das erste Mal seit 25 Jahren versuche ich mich an einer Gleichung. Die ÖVP Dame ist da geübter. Zieht man die Wahlkartenwähler ab, kommt sie auf eine Wahlbeteiligung von 36 %.

10 Uhr 30 – 67 abgegebene Stimmen
Sohn und Vater heißen gleich, haben die gleiche Adresse und Vater pfaucht uns an, weil wir nicht sofort wissen wer, wer ist. Ein komisches Phänomen stellt sich ein. Es scheint uns allen nicht wichtig zu sein, welcher Partei einer seine Stimme gibt, solange er oder sie nur zu uns wählen kommt. Sind die Wähler dann im Wahllokal wollen wir, dass sie diesen Brief mit der Nummer parat haben und sich kooperativ verhalten. Ein „Wir“ und ein „Sie“ entsteht. „Wir“, die in dem Wahllokal arbeiten und „Sie“ die Bürger, die diese Einrichtung nutzen. Eine fast peinliche Unterbrechung dieses „Wir“-Gefühls passiert, als die Bezirksgrößen der verschiedenen Parteien das Lokal besuchen, um ihren Vertreten „guten Tag“ oder „Grüß Gott“ zu sagen. Ich bin froh, dass niemand von den Grünen auftaucht. Abgesehen davon sind diese Besuche verboten. Nur Wählern und uns ist es gestattet, sich im Wahllokal aufzuhalten. Selbst die jungen Sozialdemokraten hätten ihre Wurstsemmeln vor dem Klassenzimmer austeilen müssen.

11 Uhr 30 – 114 abgegebene Stimmen
Telefonisch wecke ich meinen Sohn, der hundert Meter Luftlinie entfernt in seinem Bett liegt. Er soll mir Tee und ein Lineal bringen. Die zwei SPÖ Senioren und die ÖVP Dame brauchen eines, um die Namen der Wähler nach der Stimmabgabe besser auf dem Wählerverzeichnis markieren zu können. Der Ordner fragt, wann er auf Mittagspause gehen darf. Anna will ihm eine Stunde geben. Bald ist Halbzeit und wir fragen uns, auf wie viel Stimmen wir kommen werden. „Sicher 200“, meint Hilde, „da frisst der Hund keine Gummibärli.“

12 Uhr – 142 abgegebene Stimmen
Anna hat Mitleid mit mir. Sie ordnet an, dass ich vier Wählerverzeichnis-Listen von den SPÖ Senioren zu bekommen habe. Bei uns geht es jetzt zu, wie beim Bingo. Kaum betritt ein Wähler das Lokal, hoffen wir dass er eine Adresse nennen wird, die auf unserer jeweiligen Liste steht. Vor dem Lokal bildet sich eine Schlange. Wir arbeiten schnell, konzentriert und haben Spaß. Die ÖVP Dame hat sich mit Hilde verbrüdert und ich bin seit der Lineallieferung meines Sohnes, sowieso jedermanns grüner Schwiegersohn. Punkt 12:30 verlässt uns der Ordner. Ich übernehme.

13 Uhr 30 – 205 abgegebene Stimmen
Hilde bietet allen „Kekserl aus der Slowakei“ an und ein junger Mann bittet um einen neuen Stimmzettel. Er hat sich beim Ausfüllen geirrt. Er muss sich vor uns hinstellen und den ursprünglichen Stimmzettel in kleine Papierschnipsel zerreißen.

14 Uhr 10 – 237 abgegebene Stimmen
Es geht Schlag auf Schlag. Gemeinsam hoffen wir die 300 Marke durchbrechen zu können. Keiner von uns scheint sich zu fragen, für welche Partei das jetzt gut oder schlecht sein könnte. Wir glauben, es ist für uns alle gut.

16 Uhr 30 – 300 abgegebene Stimmen
Geschafft. Wir haben die Hürde genommen und lachen. Ein anderer Ordner bestätigt uns, dass in unserem Wahllokal die Stimmung viel besser ist als nebenan.

17 Uhr
Wahlschluss. Die Tür geht zu. Niemand darf hinein, niemand hinaus. Alle sind aufgeregt. Bevor wir anfangen, meint Anna, dass es bei der Auszählung bitte nicht zu hektisch werden soll, sie sich aber schon jetzt bei uns für die wunderbare Zusammenarbeit bedanken will.

Wir schieben die Tische zusammen. Ich öffne die Wahlurne und leere den Inhalt aus. Die Kuverts werden nach Farben getrennt. Wir öffnen die blauen Kuverts und sortieren die Stimmzettel. Natürlich wurden die Stimmzettel ausgefühlt, um gelesen zu werden, trotzdem hat man das Gefühl in die Privatsphäre eines anderen Menschen einzudringen. Hier deklarieren sie sich, kreuzen an, stimmen zu oder protestieren. Darüber nachdenken darf man nicht, denn die Arbeit ist anstrengend. Alles muss immer wieder überprüft und gezählt werden. Die Stimmzettel haften ein bisschen aneinander und wenn einer von uns einen Fehler macht, muss alles neu gezählt werden.

Das Ergebnis der Gemeinderatswahl wird zuerst ermittelt. Der Souverän vor dem Fernsehschirm will wissen, wie er abgestimmt hat. Wir zählen, so schnell wir können. Natürlich freut sich jeder, wenn der Haufen mit den Stimmen für die eigene Partei groß ist, doch stolz macht uns, dass wir fehlerfrei gearbeitet haben. Der eigentliche Ausgang der Wahl wird uns sowieso noch länger ein Geheimnis bleiben. Von einem Sprengel auf über 1800 zu schließen ist nicht möglich. Derzeit beschäftigt uns der physisch vorhandene Wählerwille. Leider ist der nicht immer eindeutig und ich höre mich, wie ich dafür plädiere, eine bestimmte Stimme der FPÖ zuzurechnen. Die ÖVP Dame bringt ein Gegenargument vor und Anna entscheidet. Wir sind alle zufrieden. Noch ein paar mal ist so eine Entscheidung notwendig und jeder in diesem Klassenzimmer verhält sich vorbildlich. Man spürt, wir sind stolz darauf unparteiisch zu sein.

Nach dem Bezirksergebnis wird es noch einmal anstrengend. Die Vorzugsstimmen müssen ausgezählt werden. Es gibt drei verschiedene Vorzugsstimmen und von jeder Partei eine Liste für die jeweilige Kategorie. Das System ist offensichtlich nicht darauf ausgelegt, von den Wählern verstanden zu werden. Viele haben ihren Wunschkandidaten in die falsche Spalte geschrieben.

Punkt 19:00 ist es geschafft. Der Wille des Souveräns wird telefonisch weitergeleitet und liegt in fein säuberlich ausgefüllten Tabellen vor Anna. Nach über 12 Stunden Wahldienst sind wir erschöpft. Lachend reichen wir uns die Hände. Die Tür geht auf. Wir müssen nicht mehr unparteiisch sein und wünschen uns trotzdem gegenseitig alles Gute. Bis zur nächsten Wahl.