Neid
Roman in 10 Kapiteln mit wiederkehrendem Personal
von Ivo Schneider
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Für Vincent
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Kapitel 1
Von weitem hörten sie die Lokomotive der Liliputbahn. Parallel zur Prater Hauptallee, zwischen den alten Kastanienbäumen und dem Auwald, rumpelte sie auf den Schienen entlang. Der Zug war eine Attraktion für Kinder, aber ab und zu sah man auch erwachsene Passagiere ohne Begleitung, die auf die vorbeiziehenden Bäume starrten, als wären sie Mitglieder einer Wiener Schule des Zen-Buddhismus.
Peter sah Papa auffordernd an. Florian Schuster verstand seinen achtjährigen Sohn sofort, reagierte aber für Peter unerwartet. Er hob die dreijährige Hanna hoch und fragte sie: „Will mein kleines Engelchen Liliputbahn fahren?“
Peter runzelte die Stirn. Engelchen wollte. Zu dritt überquerten sie die Allee und Papa kaufte die Fahrscheine.
Peter liebte den Zug, das Rattern der Räder, das Pfeifen der Lokomotive, den Fahrtwind. Klar, dass Papa ihn nicht fragen musste, doch warum sollte Hanna mitkommen?
Liliputbahnfahren war eine der wenigen Aktivitäten, die Peter bis dahin ausschließlich mit Papa unternommen hatte. Florian Schuster schien die Fahrt mit seinem Sohn genauso zu genießen wie umgekehrt. 14 Minuten, die beide, scheinbar schwebend unter dem grünen Blätterdach, ohne Streit verbrachten. Einmal im Kreis fühlte sich Peter eins mit Papa. So zusammengeschweißt in ihrem Rausch waren sie, dass sie sich während der Fahrt nie mit anderen Personen unterhielten, ja schon bei der Platzwahl darauf achteten, nicht durch Fremde gestört zu werden.
Christina Schuster, sonst die Seele, die feste Burg, der Schutzschild vor der Welt, hatte nie den Reiz dieser 14 Minuten verstanden und wartete immer am Spielplatz, bis Ehemann und Sohn, glücklich strahlend, zurück kamen.
In den warmen Monaten war man oft im Prater. Lieber hätte Florian Schuster die freie Zeit im eigenen Haus mit Garten verbracht, doch allein mit seinen Einnahmen aus dem Ingenieursbüro, welches Brückenprüfungen durchführte, würden er nie den geforderten Betrag aufbringen. Erst wenn Christina, die technische Chemie studiert hatte, wieder eine volle Stelle bekam, konnte man das überlegen. Bis dahin genoss die Familie das weitläufige Grün des Praters.
Für Peter war die Fahrt mit der Liliputbahn nicht nur eine reine Vater-Sohn Aktivität sondern, bis zu einem gewissen Grad, auch die Antwort auf die Frage, warum man überhaupt einen Vater benötigte.
Hannas Geburt hatte keine große Erschütterung in Peters Leben verursacht. Einzig Mamas mangelnde Aufmerksamkeit war ein Wermutstropfen. Peter redete sich ein, dass dies eine vorübergehende Erscheinung war und solange überall in der Wohnung nur Fotos von ihm an der Wand hingen, keine Gefahr für seinen Status als Christinas Lieblingskind bestand. Mama verbracht zwar viel Zeit mit Hanna, aber an ihrem Gesicht war klar abzulesen, dass sie diese Zeit nicht wirklich genoss.
Peters Taktik, in dieser ersten Zeit besonders nett zu Christina zu sein, ging voll auf und er war sich sicher, dass Mama ihren Entschluss, ein zweites Kind zu bekommen, bereits bitter bereute. Nichtsdestotrotz, der Entschluss konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden, obwohl Peter oft überlegte, warum es nicht möglich war, Hanna zu verschenken. Florian Schuster hatte oft erklärt, dass Kinder ein großes Geschenk sind und andere Erwachsene sich dafür dumm und dämlich zahlen würden.
„Aber Geschenke sind doch gratis?“, hatte Peter gefragt, doch Florian antwortete: „Nichts im Leben ist gratis, mein Sohn!“
Eine erste Ahnung, dass Papa Recht haben könnte, überkam Peter auf einem dreistündigen Marsch über das Schneebergmassiv. Da Mama ständig müde war, musste Peter mit Papa viel gemeinsam unternehmen. Wandern, Fahrradfahren, Drachensteigen, alles Aktivitäten, die Peter weit weniger schätzte als Chemiekastenspielen mit Mama, Legobauen mit Mama, oder Mickey-Maus-Schauen mit Mama. Christina war aber müde, musste sich ständig ausruhen, weil Hanna nie zur gleichen Zeit einschlief. Lärm in der Wohnung musste vermieden werden, also wurde Papa in die Natur geschickt. Peter verstand das vollkommen und hätte, in aller Stille, das Wochenende mit dem Gameboy verbracht. Das wiederum wollte Florian Schuster nicht und deshalb musste Peter mitkommen.
Hoch oben, auf dem langem Marsch zwischen Latschen und Felsen, wo der Wind einem ständig ins Gesicht blies, wurde Peter klar, dass Hanna wirklich nicht gratis war und er einen Teil des Preises in Form von Frischluft-Aktivitäten zu bezahlen hatte.
Abgesehen von dem Umstand, dass Peter mehr Zeit mit Papa verbringen musste, hatte Hannas Geburt das Verhältnis zwischen Florian und seinem Sohn kaum beeinflusst. Papa war da, war ein Teil des Haushaltes, wie eben ein Bett, ein Fernseher oder das Sofa. Diese besondere Übereinstimmung zwischen Vater und Sohn, diese magischen Momente waren ausschließlich auf die Fahrten mit der Liliputbahn beschränkt. Dass Papa Hanna in den Schlaf sang, sie fütterte, sie wickelte, ihr ins Ohr flüsterte, ließ Peter kalt. Vielmehr freute es ihn, wenn Papa mit Hanna spazieren gehen musste und Mamas Aufmerksamkeit wieder ganz auf Peter konzentriert war. Solange er Mama hatte, konnte sich Hanna Papa nehmen, mit ihm machen, was sie wollte.
Oft hatte sich Peter im ersten Lebensjahr seiner Schwester über den Rand der Krippe gebeugt und ihr den Handel, den Geschwisterdeal, erklärt.
„Ich hab die Mama und du bekommst den Papa, okay?“ Hanna hatte jedes Mal gelächelt und Peter dies als eindeutige Zustimmung gedeutet. Ausdrücklich ausgenommen von diesem Geschäft waren einzig die Liliputbahnfahrten mit Papa. Peter hatte Hanna gegenüber öfters darauf hingewiesen und ihr im Tausch dafür sein Fahrrad angeboten.
Wieso konnte sich Hanna jetzt, nur zwei Jahre später, nicht mehr an ihre Zustimmung zu diesem Geschäft erinnern?
Peters Gesicht entspannte sich, als die Diesellok um die Ecke bog und langsam näher kam. Wie befohlen stand er auf, nahm die Hand der kleinen Schwester, während Florian mit dem Kinderwagen an den Rand des Bahnsteigs ging.
Die blaue Diesellokomotive sah wunderschön aus, wie sie, die Waggons hinter sich herziehend, in die Station einfuhr. Gleichmäßiges Schweben durch die Landschaft, eins werden mit dem satten Grün der Bäume, ohne Lärm oder Geruchsbelästigung, das war das Ziel.
Der Zug hielt. Papa erspähte einen leeren Waggon, lief hin, deutete den Kindern nachzukommen und verstaute den Kinderwagen. Peter wollte Hanna an der Hand zu dem leeren Waggon führen, doch Hanna blieb einfach stehen. Peter zog an Hannas Hand und meinte enthusiastisch: „Komm Hanni, schnell, sonst fährt der Zug davon.“
Hanna blieb einfach stehen, sah den Zug böse an und schüttelte ihren dunkelbraunen Haarschopf. Papa deutete den Kindern, sich zu beeilen. Peter zog heftiger an der Hand der Schwester. Vergebens. Hanna rührte sich keinen Meter, bekam einen Gesichtsausdruck, der nichts Gutes erahnen ließ.
„Hanni, bitte, der Zug fährt weg!“
„Nein!“, war alles was Peter zu hören bekam. Wertvolle Sekunden vergingen. Blitzschnell musste sich Peter etwas einfallen lassen und entschied sich, Mamas bewährte Verhandlungsstrategie anzuwenden.
„Du musst nicht, wenn du nicht willst. Dann bleibst du einfach alleine hier und ich fahre mit Papa.“
Der Satz wirkte, obwohl anders, als es sich Peter erhofft hatte. Hannas Gesicht verzog sich zu einer wilden Grimasse und kurz darauf schossen ihr Tränen fast waagrecht aus den Augen.
„Kein Dampfzug!“, quoll es aus ihrem Mund. Peter wurde hektisch, versuchte die kleine Schwester zu beruhigen.
„Nein, das ist eine Diesellok. Die ist viel besser als der blöde, alte Dampfzug.“
Zu spät. Hannas Gesicht war bereits tränenüberströmt. Papa deutete dem Lokführer zu warten und lief zu seinen Kindern. Er hob Hanna hoch. Die Grimasse, die ihr Gesicht entstellt hatte, verschwand, aber die Tränen rund um die großen, braunen Augen, die feuchten, langen Wimpern, waren geblieben und jeder Filmstar hätte gerne so einen Gesichtsausdruck im Repertoire gehabt.
„Was ist, mein Engel“, fragte Florian ehrlich gerührt.
Vollkommen verständlich und gar nicht in ihrer sonst üblichen Babysprache, meinte Hanna: „Ich will mit dem Dampfzug fahren.“
Der Schaffner, mit der Pfeife abfahrtsbereit zwischen den Lippen, blickte mürrisch zu ihnen hinüber. Papa kam unter Druck. Schnell wanderte sein Blick zwischen dem strengen Gesichtsausdruck Peters und den Tränen seiner Tochter hin und her. Peter spürte in welchem moralischen Dilemma sich Papa befand, zweifelte aber keinen Augenblick daran, dass er die richtige Entscheidung treffen würde. Egal wie sehr Hannas Tränen auch flossen, die Liliputbahnfahrt war ihre gemeinsame Leidenschaft und vor ewigen Zeiten, war man übereingekommen, dass die Diesellok der Dampflok weit überlegen war. Abgesehen von den technischen Vorteilen, rauchte und stank sie nicht. Rein optisch war die Dampflok natürlich imposanter, aber auf der Fahrt, im Waggon, sah man die Lok sowieso kaum, hatte aber, im Fall der Dampflok, immer mit den schwarzen Rauchschwaden zu kämpfen. Die Dampflok war etwas für Anfänger und wahre Könner, echte Genießer, fuhren ausschließlich mit der Diesellok.
„Papa, wir müssen einsteigen“, meinte Peter entschlossen. Papa sah ihn an, schien wieder Mut zu fassen, da überkam Hanna plötzlich ein neuer Tränenschwall und sie spielte, wie von Peter befürchtet, geschickt ihre zweite große Trumpfkarte aus. Plötzlich wurde ihre Stimme von Seufzerschüben erfasst, die auch das kürzeste Wort in kleine, abgrundtief traurige Teile zerhackten.
„Pahahahpa, ihihich, wiwiwiwill, mihihit, dehehr Dadampflok fahren.“
Nicht ohne Bewunderung starrte Peter seine Schwester an. Sie hatte das Einsaugen bzw. Ausstoßen von kleinen Luftmengen perfektioniert. Ein unbeteiligter Zuseher musste annehmen, sie leide an akuter Atemnot und das Gewähren dieses Wunsches sei die letzte Möglichkeit das Kind, einmal noch, vor dem unabwendbaren Ende, glücklich zu machen.
Erst als der Zug hinter einer Baumgruppe verschwand, begriff Peter vollständig, was eben geschehen war. Wieder saßen die drei auf der Bank an der Haltestelle und warteten, doch die Stimmung hatte sich grundlegend verändert. Peter vermied jeden Blickkontakt mit Papa. Hanna, die in der Mitte saß, bemerkte von all dem nichts, grinste von Ohr zu Ohr und machte immer wieder den Ton der Dampflokomotive nach.
„Wie konnte er nur?“, dachte Peter. Papa musste Hannas Ausbruch doch durchschaut haben, wusste, dass sie sich ebenso schnell beruhigt hätte, wären sie eingestiegen.
Peter starrte auf die Gleise, fragte sich, wie es möglich war, dass das eingeübte Gejammer seiner Schwester eine innige Übereinstimmung zwischen ihm und Papa binnen Sekunden aus der Welt schaffen konnte.
Er liebt sie mehr als mich. Davon war Peter jetzt überzeugt. Im Grunde entsprach das ja nur der Abmachung, die er mit Hanna getroffen hatte, doch sie hätte wissen müssen, dass es diese eine Ausnahme von der Regel gab.
Sie hatte sich nicht an die Abmachung gehalten. War damit der Deal als Ganzes in Gefahr? Würde sie jetzt versuchen auch Mamas Liebe für sich zu reklamieren. Konnte ihre gespielte Atemnot das starke Band zwischen ihm und Mama gefährden?
Peter erschrak, schüttelte sich. Der Prozess war vielleicht schon im Gange und er hatte es nur noch nicht begriffen. Aber sicher, das Klo! Die Bilder auf dem Klo waren ein eindeutiger Beweis. Das eine Foto, das ihn zweijährig, auf dem blauen Topf sitzend, zeigte, es war durch eines mit Hannas Abbild ersetzt worden. Das Verhältnis der Klobilder stand zwar noch immer fünf zu eins für Peter, aber dieses leise Vorrücken der kleinen Schwester war nur ein erstes Signal, zumal Mama für die Bilder an den Wänden zuständig war. Sie hatte das Foto ersetzt, und jetzt mussten alle, die im Stehen pinkelten, in das grinsende Gesicht der Atemnot-Schwester starren. Aber das war noch lange nicht alles. Je länger Peter darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm der Prozess, der mit Hannas Geburt begonnen hatte.
Sie war nicht nur einfach da, eine Person mehr im Haushalt, sondern sie beanspruchte Dinge, Gefühle, Territorien, die sein Hoheitsgebiet waren. Bis zu einem gewissen Grad hatte er sich mit ihrer Existenz abgefunden, war bereit gewesen, auch ihr Raum zuzugestehen. Dass die Dinge aber so aus der Spur laufen würden, hatte er nicht erwartet. Mit ihren großen Mandelaugen, dem Schluchzen, dem Ringen nach Luft versuchte sie ihn zu überrunden und hatte offensichtlich Erfolg. So unfair, dachte Peter. Er hatte nie solche Tricks, diese einstudierten Hilflosigkeiten nötig gehabt. Seine schiere Existenz war Grund genug für unteilbare Zuneigung gewesen.
Die Zukunft sah alles andere als rosig aus. Würden Hannas lange Wimpern ihn eines Tages aus dem Haus fächern? Wie sollte er sich dagegen wehren? Er hatte kein herzzerreißendes Schluchzen auf Lager, kein Mitleid abnötigendes Gebrechen. Ganz im Gegenteil: er wuchs laut Lehrbuch, war unauffällig in der Schule, liebenswürdig zu jedermann. Er hatte immer funktioniert, alles ohne Schwierigkeiten erlernt, jeden Erziehungswunsch erfüllt. Er schlief im eigenen Bett, hing seine Kleider auf, wusch sich mehrmals pro Tag die Hände und aß, was Mama ihm vorsetzte. Ich bin das perfekte Kind, dachte Peter, und bin Hannas Mitleidsattacken wehrlos ausgeliefert.
Es war wie bei den beiden Meerschweinchen, die er zu seinem dritten Geburtstag bekommen hatte. Das Kleinere hatte ständig Probleme, fraß nicht ordentlich, wurde krank und erhielt fast die ganze Aufmerksamkeit. Das große Schwein aber war einfach da, blieb gesund und wurde kaum gestreichelt. Nachdem das kleine Meerschwein vom Tierarzt eingeschläfert worden war – Papa hatte sich damals furchtbar über die Kosten beschwert – wurde das gesunde Schwein verschenkt. Das gute Schwein hatte nichts getan, war ein problemloses Schwein gewesen und wurde als Dank dafür mit Verbannung bestraft.
Peter sah seine Schwester an und zog nüchtern die Schlussfolgerung aus all den Gedanken, die ihm durch den Kopf gegangen waren.
„Wer funktioniert, hat verloren.“
„Wie bitte?“ Florian sah Peter erstaunt an.
„Nichts.“
Sie hatte Fähigkeiten, kleine Tricks, die ihm nicht zur Verfügung standen, denen er hilflos ausgeliefert war. Was auch immer Mama und Papa zu bieten hatten, sie würde mehr davon bekommen, würde ihn, der bis dahin ein beispielhaftes Kinderleben geführt hatte, immer ausstechen.
Von weitem hörten sie einen lauten Pfiff. In wenigen Minuten musste die Dampflokomotive vor ihnen halten. Hanna schrie hell auf, deutete in die Richtung, aus der der Pfiff zu hören war. Jeden Augenblick würde die Liliputbahn um die Kurve biegen und entlang der Allee auf die Haltestelle zufahren. Zu dritt würden sie einsteigen, und ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als dies in aller Stille zu erdulden. Die Liliputbahn war der Anfang einer höchst ungewissen Zukunft, wenn er nicht jetzt und für alle sichtbar ein Zeichen setzte, der Schwester, ihrer Atemnot und dem Wimpernschlag Einhalt gebot.
Die Lokomotive bog um die Kurve, fuhr gerade auf die Haltestelle zu. Der Lokführer betätigte wieder das Signal, bevor der Zug die breite Straße kreuzte. Meter um Meter schmolz die Entfernung zwischen Lok und Station.
Hanna konnte sich vor Aufregung nicht mehr auf der Bank halten, sprang auf, riss die Hände in die Höhe, wie ein siegreicher Hundertmeter-Läufer. Papa fasste sie schnell am Arm, befürchtete, sie würde vor Begeisterung auf das Gleis springen.
Gut, so sei es denn, überlegte Peter. Jetzt oder nie und eine bessere Variante, eine feinere Lösung, wollte ihm in der Eile nicht einfallen. Die Holzhammer-Methode, auch so ein Begriff, den er von Papa aufgeschnappt hatte und den er erst jetzt zu verstehen begann, fiel ihm ein, aber einen anderen Ausweg, als eben diese Keule zu schwingen, sah er nicht. Doch der Schlag würde sitzen, die Fahrt mit der Liliputbahn augenblicklich verhindern. Mama und Papa würden danach tagelang diskutieren, Überlegungen anstellen, ihn anders ansehen, vorsichtig mit ihm umgehen. Die Nachricht würde schnell durchsickern und über kurz oder lang auch bis zum Schulpsychologen vordringen. Der würde dann Mama vorladen und eindringliche Gespräche mit ihr führen. Ohne Zweifel würde sie die eine oder andere Träne vergießen, sich vor dem Einschlafen fragen, was sie wohl falsch gemacht habe. Außerhalb der Familie würde dieser Schritt keinen großen Beifall finden, soviel wusste Peter aus den Erzählungen eines Klassenkameraden, dem ähnliches widerfahren war. In der Klasse hatte dieser Achtjährige dadurch einiges an Prestige eingebüßt, wurde manchmal Opfer diverser Scherze, aber seine Mutter behandelte ihn seitdem mit größter Behutsamkeit. Wenn andere Kinder erzählten, wie sie unter der Bevorzugung der Geschwister zu leiden hatten, lächelte dieser Kollege nur.
So unangenehm diese Variante auch war, hatte sie doch den Vorteil, dass schon wenige Wiederholungen ein große und vor allem lang anhaltende Wirkung erzielen konnten. Sie war dem Wimpernschlag der Schwester um eine subtile Größe überlegen und forderte dazu heraus, tiefgründige psychologische Überlegungen anzustellen. Damit äußerte man nicht einfach einen Wunsch oder zwang seine Umwelt, auf die eigenen Bedürfnisse einzuschwenken, sondern demonstrierte eine tiefgründige, innere Verletzung. Peter war überzeugt, dass die Holzhammer-Methode jede liebende Mutter in Panik versetzen musste. Den Status des netten, pflegeleichten Kindes würde er aber mit einem Schlag verlieren. Zeit, zu überlegen, welche Nachteile sich daraus langfristig ergeben konnten, hatte Peter nicht.
Die Dampflokomotive überquerte gemächlich die breite Straße, war noch 20 Meter von dem Bahnsteig entfernt, als Peter die Augen schloss, sich entspannte und vorstellte, an einem kalten Winterabend unter der Dusche zu stehen.
Zuerst kam es nur zögerlich, doch bald wurde der Fleck auf Peters dunkelblauer Hose immer größer. Warm und feucht floss der Urin seinen rechten Schenkel entlang, bahnte sich einen Weg durch die Hose auf die Bank.
Die Lokomotive hielt pfauchend vor der begeisterten Schwester. Papa war schon aufgestanden, als Peter ihn mit vorwurfsvollem Blick und gedämpfter Stimme zurückhielt.
„Papa, ich hab mir in die Hose gemacht.“
Florian sah Peter mit einer Mischung aus Erstaunen und Bestürzung an. Während Hanna vor Wut schrie, setzte er sich wieder auf die Bank, starrte, noch Minuten nachdem der Zug die Station verlassen hatte, fassungslos auf Peters Hose.
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Kapitel 2
Bernadette gab Horst einen Kuss und strich über seine Wange. Kurz hielt er ihre Hand und schloss die Augen. Sanft löste sie sich, griff nach dem Bademantel und stand auf. Als sie die Badezimmertür erreicht hatte, drehte sie sich kurz zu ihm. Ihr ganzes Gesicht strahlte eine Art abgeklärte Fröhlichkeit aus, wie eine Sammlerin seltener Schmetterlinge, die nach Jahren der Suche endlich das eine fehlende Exemplar gefunden hat, wissend, dass sie allein die Bedeutung dieses, oberflächlich gesehen unspektakulären Falters, abschätzen konnte.
Ja, die 26 Jahre alte Bernadette wusste, Horst, der 47 jährige, in Scheidung lebende Mann, der da so entspannt in dem Doppelbett des Wintersportapartments Sonnenalpe lag, war genau der richtige für sie.
Verheiratete Männer ab 40 waren, laut Christina Schuster, Bernadettes Taufpatin, relativ einfach in der Handhabung. Warum Christina ihr diese Interna aus dem Eheleben mit Florian immer erzählte, wusste Bernadette nicht, doch bei jedem Besuch bekam sie mit dem Kaffee und dem Update betreffend die Kinder, eine Pflegeanleitung für den Mann ab 40 serviert.
Ja, Sex war wichtig, konnte aber auf zwei Einheiten pro Monaten reduziert werden. Dass sie immer von „Einheiten“ sprach, erklärte sich Bernadette mit Christinas abgeschlossenen Studium der technischen Chemie. Bedingung für die erfolgreiche Reduktion der Einheiten war, dass man dem Mann beim Sex zu verstehen gab, wie gut er seine Sache machte.
Viele „Ahs“ und „Ohhs“, ein kurzer Aufschrei, ein abschließendes „Das war gut“ würden den Egohaushalt des Mannes nach Wunsch regulieren. Der Rest, und hier lachte Christina immer leicht, wäre sowieso nicht beeinflussbar. Seltsamer weise transportierte Christinas Lachen, und die so schwesterliche Hand auf Bernadettes Knie ganz eine andere und durchaus auch chemische Botschaft. Sie war sich sicher, dass die Taufpatin ihren Mann Florian liebte, aber Sex wohl kein wesentlicher Teil dieser Beziehung war.
Nein, ganz im Gegenteil hatte Bernadette bei diesen Kaffeenachmittagen immer das Gefühl, Christina würde die wahren „Ahs“ und „Ohs“ nur in den Armen einer anderen Frau ausstoßen.
Florian Schuster, den sie immer nur kurz sah, wirkte auf Bernadette in letzter Zeit etwas verloren. Für Bernadette war das ein Mann, der sich hin und her drehte, aber aus irgend einem Grund nicht fand, wonach er suchte. Kaum stand er vor ihr, änderte sich sein Gesichtsausdruck und seine Blicke zerrten unmissverständlich an ihrer Unterwäsche.
Horst Kreuzmaier, so dachte Bernadette, war da ganz anders, reifer, in sich ruhend. Bereits kurz nach ihrem ersten intimen Treffen vor drei Monaten hatte er von seiner Frau und den beiden Kindern erzählt. Die Scheidung war damals so gut wie durch.
Bernadette musste sich da keine Vorwürfe machen, sie hätte dazu beigetragen, eine Familie zu zerstören. Nette Kinder und eine hübsche Frau, auf den Fotos jedenfalls, hatte Bernadette damals gedacht. 15 Jahre war sie älter als Bernadette. Aber nach 22 Jahren Ehe, meinte Bernadette, musste man kein schlechter Mensch sein, um Lust auf Abwechslung zu verspüren.
Andererseits war es im Hinblick auf eine längere Beziehung schon gut zu wissen, warum die Ehe in die Brüche gegangen war. War Gewalt im Spiel gewesen oder hatte er wild herum gevögelt? Nachdem was sie bis jetzt über ihn wusste, tippte Bernadette auf ganz banale Gründe: frühe Hochzeit, früh Kinder, Hausbau, keine gemeinsamen Interessen. Blöd, dass einem Letzteres immer erst auffiel, wenn die Aufgaben davor erledigt waren.
Dass Horst kein testosterongesteuerter Rammler war, davon war sie, seit ihrer ersten gemeinsamen Nacht, überzeugt. „Ich mach alles, was du willst“ hatte sie ihm ins Ohr geflüstert. Das war so ein Test, den sich Bernadette auf ihrer Suche nach dem geeigneten Mann für die gemeinsame Zukunft zurecht gelegt hatte.
Ergriff das zu testende Objekt das Angebot beim Schopf, zog diverse Dildos hervor oder versuchte, Teile der Kücheneinrichtung ihr in alle möglichen Körperöffnungen zu rammen, wurde nichts aus der gemeinsamen Zukunft.
Horst hatte den Test mit Bravour – wenn man das so sagen kann – bestanden. „Du machst mich ganz verrückt“, hatte er, brav zwischen ihren Schenkeln liegend, gekeucht, noch zweimal mit den Lenden gezuckt und war in ihr gekommen. Bernadette dachte kurz irritiert an ihre Taufpatin, schrie auf und umschlang Horst mit ihren Armen. Gerührt hatte sie die Schweißperlen auf seiner Stirn geküsst und die wenigen Haare zurecht gestrichen.
Ja, so was wie Liebe gab es da auch, was sie aber wirklich glücklich machte, war der Umstand, dass Horst die eine Eigenschaft, die ihr bis jetzt bei Männern noch kein Glück gebracht hatte, liebte. Er war vernarrt in ihren Wissensschatz. In der Bank, wo sie beide arbeiteten, waren ihre Analysen wirtschaftlicher Zusammenhänge ein geschätztes Werkzeug für die Aktienhändler, doch Horst war fasziniert von ihrer Allgemeinbildung.
Das war neu. Bernadette hatte ein hübsches Gesicht, lachte gern, doch die kurzen, dicken Beine, ihre ausladenden Hüften und der kleine Busen waren bei der Partnersuche nie hilfreich gewesen. Dies mit ihrer Leidenschaft, dem Anhäufen von Wissen über die Welt auszugleichen, war ihr bereits als Teenager misslungen.
Bis sie Horst traf. Noch jetzt vor dem Spiegel im Badezimmer bekam Bernadette eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte, mit welch kindlicher Freude sich Horst vor einer Stunde an ihrem Wissen ergötzt hatte. Wie heißt dieser Berg, wie jene Oper, wie der derzeitige Präsident von Madagaskar, wann starb Bach, wann schrieb Petrarca, an welchem Wochentag begann der zweite Weltkrieg und was bedeutet die Abkürzung „Sb“ auf der Tafel des Periodensystems?
Auf all seine Fragen wusste sie eine Antwort. Er war im Zimmer auf und abgesprungen, hatte sie hochgehoben, gelacht. Als sie seine letzten beiden Fragen mit „Freitag“ und „Antimon“ beantwortet hatte, sah er sie ernst an, beugte sich über sie. Er küsste sie, zog sie aus, als wäre sie die kostbarste Perle im Harem des Sultans und nicht Bernadette, das gescheite Mädchen mit dem kleinen Busen, das gerne liest und sich viel merken kann.
Zugegeben, Horst würde keinen Mann-des-Jahres-Wettbewerb gewinnen. Seine Qualitäten als Finanzanalytiker strahlten wesentlich heller als der schüttere Haarkranz, der leichte Bauchansatz, die wenig muskulöse Gestalt. Auch in der Investmentbank war er nicht mächtig, konnte nicht fingerschnippend Menschen dirigieren.
Horst war der Experte, zu dem die Mächtigen kamen, von dem sie sich beraten ließen, der ob seiner Fähigkeiten bewundert wurde. Er war der ideale Mann für sie, dachte Bernadette und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Sie wollte ihn nicht verlieren.
Was soll ich machen, wenn sie anruft, überlegte Bernadette und fischte das Handy aus der Tasche ihres Bademantels. Seit zwei Tagen hatte sie es nicht ausgeschaltet.
Warum regte sie sich so auf? Sylvia würde ihr eine Frage stellen, sie würde sie, aller Voraussicht nach, beantworten und damit wäre die Sache erledigt. Die Beantwortung dieser Frage würde doch nicht ihre Beziehung zu Horst gefährden. Oder?
Bernadette sah sich im Spiegel an. Ging es ihr wirklich nur darum, oder war es ihr Verhältnis zu Sylvia, welches durch die Beantwortung der Frage aus der Balance geraten würde? Ich muss wieder ins Schlafzimmer, überlegte Bernadette. Sie betrachtete sich im Spiegel, versuchte zu lächeln. Wer weiß, vielleicht schafft sie es gar nicht in die Mitte und dann ruft sie auch nicht an. Bernadette löschte das Licht und verließ das Badezimmer.
Horst las ein Buch, grinste zu ihr hinüber, als sie sich neben ihn legte. Draußen schien die Sonne, doch sie hatten keine Eile, die Vorhänge beiseite zu schieben. Horst hatte bei ihrer Abfahrt aus der Stadt erklärt, kein wahnsinnig guter Schifahrer zu sein. Bernadette hingegen war ein hervorragende Schifahrerin. Im Tiefschnee, auf der Buckelpiste oder am Steilhang, überall machte sie eine gute Figur. Erst beim Après Ski wurde sie regelmäßig von Sylvia überholt.
Bernadette legte ihren Kopf auf Horsts Schoß. Würde er ihr heute Abend wieder Fragen stellen, ihr bis zum Beginn des Liebesaktes Preziosen aus der Wissenskiste herauslocken? Bernadette sah kurz unter dem Rand des Buches hindurch, hinauf in sein Gesicht. Ein netter, guter Mann, noch nicht rasiert, mit ein, zwei Haaren, die ihm aus der Nase wuchsen, unauffällig, bis es um sein ganz eigenes, stark abgegrenztes Wissensgebiet ging, wahrscheinlich uninteressiert an Äußerlichkeiten oder Reichtum. Würde er Sylvias Charme erliegen?
So wie sie Horst einschätzte, gab es da eine Chance, dass er nicht gleich glasige Augen bekommen würde, sollte sie ihm ihre beste Freundin Sylvia vorstellen. Er liebte den Wissensschatz, den Bernadette in ihrem Kopf gespeichert hatte. Dieser hatte ihn dazu gebracht, mit ihr zu verreisen. Betrachtete man aber das Problem aus der Sicht der Statistik, so gab es auf die Frage, ob sich Horst möglicherweise zu Sylvia hingezogen fühlen würde, nur eine Antwort: Ja!
Bisher war es Sylvia noch immer gelungen, die Männer in ihrer Gegenwart zu verzaubern. Gleich in welcher sozialen Schicht die Herren beheimatet waren, egal über welche Bildung oder geistige Kapazität sie verfügten, immer waren sie von Sylvia begeistert gewesen.
Der Installateur, der ihr für die Reparatur der kaputten Gastherme kaum etwas verrechnete, genauso wie der Philosophieprofessor oder der geniale Chemiker, mit dem Bernadette ein paar mal ausgegangen war.
Vor ein paar tausend Jahren wäre das alles viel einfacher gewesen, überlegte Bernadette. Der stärkste Mann der Sippe hätte Sylvia an den Haaren in seine Höhle gezogen und damit wäre die Sache beendet gewesen. Leithirsch und Leitkuh waren definiert und der Rest der Sippe paarte sich dem Status entsprechend.
Heute war das alles viel komplizierter. Alle Männer hielten sich in ihrer kleinen Welt für eine Art Leithirsch und rechneten sich auch dort noch Chancen aus, wo es kaum welche gab. Mit dieser Hoffnung störten sie aber den Ablauf gewaltig und erschwerten die Partnerwahl der anderen Weibchen. Ganz abgesehen davon kam es dadurch auch zu unnötigen Spannungen zwischen den Damen.
Verflucht, dachte Bernadette. Sylvia war wirklich ihre beste Freundin, die einzige, mit der sie Dinge besprach, die sie sonst absolut niemandem erzählten konnte. Im Kindergarten hatten sie sich kennen gelernt und ihr erstes Aufeinandertreffen sollte beispielgebend für ihre weitere Beziehung sein.
Sylvia war fünf Jahre alt, als sich ihre Eltern trennten und sie den Kindergarten wechseln musste. Es war der erste Tag, den sie dort verbrachte und die Tanten wollte mit beiden Kindergruppen in den Garten der Anlage gehen. Sylvia blieb länger als notwendig in der Garderobe sitzen. Die anderen Kinder waren schon im Garten, als Bernadette zurück ins Haus lief. Sie hatte eine Kleinigkeit vergessen und keines der anderen Kinder wollte mit ihr spielen.
Sylvia saß noch immer mit den Hausschuhen an den Füßen auf der kleinen Bank. Die beiden Mädchen lächelten sich zu, waren sich vom ersten Moment an sympathisch. Leicht verlegen bat Sylvia die um ein Jahr jüngere Bernadette um Hilfe beim Binden der Schuhe. Ohne Kommentar band Bernadette Sylvias Schuhbänder und eine Freundschaft.
Draußen im Garten machte Sylvia allen klar, dass jeder, der mit ihr spielen wollte, auch mit Bernadette spielen musste. Nachdem alle mit Sylvia spielen wollten, war Bernadette ab diesem Tag ebenfalls eine fixe Größe im sozialen Leben des Kindergartens.
Dass Sylvia schon bald ohne Bernadettes Hilfe ihre Schuhe binden konnte, änderte nichts am Verhältnis der beiden zueinander. Aus den Schuhbändern wurden Mathematikbeispiele und Geographietests, aus den verpflichteten Spielkameraden, Einladungen zu Geburtstagsfeiern, Schulpartys und Clubbings. Bernadette tat ihren Teil mit voller Überzeugung, wissend, dass ihre Freundschaft zu Sylvia, abgesehen von der Freude über die gemeinsam verbrachte Zeit, so etwas wie eine Universal-Eintrittskarte war.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Sylvia Bernadette gesellschaftlich integrierte, ging soweit, dass sie von ihrer Umwelt wie Schwestern wahrgenommen wurden. Einmal, noch als Teenager, standen die beiden in einer großen Gruppe Jugendlicher vor einer neu eröffneten Diskothek. Der Türsteher selektierte die Gäste, die er hineinlassen wollte. Als die Mädchen vor ihm standen, öffnete er sofort die kleine rote Kette, um Sylvia hinein zu bitten. Bernadette hielt er mit den Worten: „Nur Mitglieder“ zurück. Sylvia, die schon zwei Schritte weiter gegangen war, drehte sich in der Sekunde zu dem breitschultrigen und sehr großen Mann. Über ihrer wunderschönen Nase hatte sich eine winzige Falte gebildet. Sie sah den Mann nur streng an und meinte: „Wie bitte?“ Der Türsteher, sicher zwei Köpfe größer als Sylvia, reagierte wie ein ertappter Hühnerdieb, sah zu Boden und murmelte: „Entschuldigung“, während er Bernadette passieren ließ.
Diese und viele andere Momente speisten Bernadettes Dankbarkeit Sylvia gegenüber, obwohl sie immer Wert darauf legte, ihren Teil der unausgesprochenen Abmachung zu erledigen. Wo immer Sylvia Hilfe brauchte, und da gab es viel zu tun, war Bernadette zur Stelle.
Sylvia war chaotisch, oft faul, hatte soziale Intelligenz aber keine Begabung für abstrakte Dinge wie Mathematik, Führerscheinprüfungen oder Gebrauchsanweisungen. Das war Bernadettes Domain. Mehr noch, das Wissen, dass sie Sylvia helfen konnte, ja musste, erzeugte eine Balance zwischen den beiden Frauen. Sie waren ebenbürtig und die Schwäche der einen wurde zu Stärke der anderen. Die Jahre vergingen, stellten neue Aufgaben, die Interessen und Schwierigkeiten verschoben sich, doch ihre Freundschaft, wie die Bereitschaft, dem anderen jederzeit zur Seite zu stehen, war geblieben.
Auch heute noch war ihre Beziehung ausgeglichen und ausbalanciert, wobei Bernadettes Beitrag in den letzten Jahren hauptsächlich aus finanzieller Unterstützung bestand. Sylvia hatte keinen Bezug zu Geld und die Einkünfte aus den Jobs, die sie neben ihren diversen Ausbildungen erledigte, reichten nie, um das eine Kleid, die besondere Handtasche, oder die doch wirklich verdiente Urlaubswoche auf Kreta zu finanzieren. Bernadette hatte in Mindestzeit mit Auszeichnung studiert, arbeitete in der Bank, spekuliert nebenbei mit dem Geld, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte und lieh Sylvia ohne Kommentar die benötigten Summen. Es war ihr egal, ob sie ihr Geld jemals wieder sehen würde. Insgeheim hoffte sie, dass Sylvia es nicht so bald zurückzahlen würde, ja in eine Art geringfügige finanzielle Abhängigkeit geraten würde. Dies würde die Balance zwischen ihnen zementieren und das war weit wertvoller als der auf dem Spiel stehende Geldbetrag.
Echte Sorgen musste man sich um Sylvia sowieso keine machen. Sie würde zwar keine der Ausbildungen je beenden, doch dereinst von einem strahlenden Prinzen mit prall gefülltem Bankkonto ins heimische Schloss geführt werden. Daran bestand absolut kein Zweifel und wäre Sylvia interessiert gewesen, gleich einen reichen Prinzen zu ehelichen, hätte sich dieser auch sofort gefunden.
Sie war aber nicht interessiert und genau das war ein Teil des Problems. Bernadette war sich nicht einmal sicher, ob Sylvia Männer überhaupt mochte. Ja, sie liebte die Aufmerksamkeit, das Gefühl auf Händen getragen zu werden, doch wirklich berühren konnten die Herren Sylvia nicht. Ganz anders, als man das erwarten würde, war sie auch nicht sonderlich wählerisch.
Sie strahlte den wunderschönen Erben einer Kaufhauskette genauso an, wie den nicht wahnsinnig auffallenden Sohn des Reifenhändlers um die Ecke. Im Falle des Reifenhändlers war das noch nachvollziehbar, weil der kurz darauf kostenfrei die Winterreifen montierte, doch darum ging es gar nicht. Sylvia zog die Männer einfach in ihren Bann, weil sie es konnte, weil es ihr Spaß machte, und nicht um eine Bindung einzugehen.
Der geniale Chemiker hatte das nicht begriffen. Er hatte bereits eine Zahnbürste in Bernadettes Badezimmer, als sie ihm Sylvia vorstellte. Tags darauf trennte er sich von Bernadette mit der Begründung, er könne nur noch an Sylvia denken. Bernadette versuchte ihm klar zu machen, dass Sylvia ihn bereits vergessen habe, er seine Zahnbürste ruhig hier lassen solle. Vergebens, denn so genial war der Chemiker dann doch nicht.
Nach diesem Debakel kamen die beiden Frauen überein, dass Sylvia für Bernadette Männer aussuchen würde und diese Abmachung war, wie alle anderen zuvor, für beide Teile ein Gewinn. Horst war, ganz ohne sein Wissen, auch eine Frucht dieser Übereinkunft.
Er und Bernadette arbeiteten zwar in der selben Bank, doch einander vorgestellt wurden sie erst bei einem Empfang, den eine internationale Organisation veranstaltet hatte. Sylvia, die Banken nur deshalb betrat, um ihre gesperrte Bankomatkarte gegen eine neue zu tauschen, hatte von einem ihrer Verehrer eine Einladung zu diesem exklusiven Empfang bekommen. Lust zu erscheinen, hatte sie keine. Mit den Worten: „Du arbeitest doch in einer Bank, mein Schatz, geh doch du hin“, gab sie die Karte an Bernadette weiter.
Bei eben diesem Empfang stand Bernadette zufällig in einer Gruppe, die sich um den Chef der zweitgrößten Bank des Landes gebildet hatte. Der Mann war charismatisch und die ihn umgebenen Damen und Herren hingen an seinen Lippen. Einzig Horst, der neben Bernadette stand, diese aber kaum wahrnahm, schien nicht so überzeugt von der allumfassenden Weisheit des Mannes zu sein.
Als der Bankenchef bezüglich der wirtschaftlichen Herausforderungen euphorisch meinte, dass man eben wie dereinst Hannibal im zweiten punischen Krieg die Alpen queren, ja etwas ganz Außergewöhnliches leisten müsse, stöhnte Horst für alle hörbar laut auf. Plötzlich sah ihn die ganze Gruppe an. Der Bankenchef meinte leicht säuerlich, ob der Kollege vielleicht anderer Meinung sei. Horst, nicht gewohnt, ohne längere Überlegungen zu antworten, starrte zu Boden.
„Hannibal war der größte Feldherr der Antike, doch den zweiten punischen Krieg haben die Römer gewonnen.“ Alle inklusive Horst hatten ihre Blicke auf Bernadette gerichtet, die da stand, klein und versteckt zwischen all den Schönen und Reichen, den Mächtigen und den Speichelleckern. „Was der Kollege meint,“ fuhr sie unerschrocken fort, „ist, dass einzelne außergewöhnliche Leistungen nicht ausreichen werden, beziehungsweise der Fall Hannibal ein schlechtes Beispiel ist, will man die vor uns stehende Herausforderung meistern. Hannibal hat 183 vor Christus Selbstmord begangen. Das zeugt nicht von nachhaltigem Erfolg.“
Ganz kurz war es sehr still geworden in der Gruppe rund um den Bankenchef, so still, dass Bernadette Angst hatte, ihr klopfendes Herz, ihre weichen Knie würden ihre Aufregung verraten. Verraten, dass sie sich für einen Mann in die Bresche geworfen hatte, der ihr schon an ihrem ersten Arbeitstag in der Bank vor zwei Jahren aufgefallen war.
Die Männer und Frauen in der Gruppe betrachteten Bernadette misstrauisch, wussten keine Antwort. Einzige der Bankenchef begann zu lächeln und meinte: „Danke, gnädige Frau, für den Hinweis. Also: ab heute machen wir es wie die Römer.“ Erleichtert hatten alle aufgelacht und waren hinter dem Chef her, Richtung Buffet gelaufen. Nur Horst und Bernadette waren zurückgeblieben.
Horst hatte sich zu Bernadette gedreht, sie ernst angesehen. „Kenne ich Sie?“ „Wir arbeiten in der selben Bank. Sie im 10., ich im 2. Stock.“ „Wollen Sie mit mir Essen gehen?“
Ab dem Zeitpunkt waren sie ein Paar gewesen und bisher hatte keiner der beiden diesen Entschluss bereut. Das war nicht die große, animalische Liebe, sondern das Glück, jemanden gefunden zu haben, der Dinge zu schätzen wusste, die der breiten Masse vollkommen egal waren.
„Willst du einen Kaffee?“, sagte Bernadette und streckte sich ein wenig. Horst sah von seinem Buch auf, legte die Stirn in Falten. „Willst du Schifahren?“ Bernadette lächelte ihn an. „Nein, nein, keine Angst, das ist wirklich nur ein Kaffee-Angebot.“ Sein Gesicht entspannte sich. „Ja, bitte, ich hätte gerne einen Kaffee, aber …“ und hier hielt er sie fest, küsste sie spielerisch, „wenn es dein Herzenswunsch ist, mitzuverfolgen, wie ein alter, unsportlicher Mann auf zwei Brettern einen Hang hinunterrutscht, so werde ich diesen Wunsch natürlich erfüllen.“
Sie stand auf, sah ihn, mit leicht geöffnetem Bademantel neckisch an und meinte. „Komisch, so unsportlich, fand ich dich vorher gar nicht.“ In seinen Augen flackerte ein dankbares Leuchten auf. Er lehnte sich zurück, grinste und meinte gespielt gelassen: „Alles Leben ist…“ „Chemie“, vervollständigte Bernadette seinen Satz, warf ihm eine Kusshand zu und verschwand in der Küche.
11:40. Wann würde Sylvia anrufen? Die Aufzeichnung der TV-Show musste bereits im Gange sein. Bernadette steckte das Handy wieder in die Tasche des Bademantels und suchte nach den Kaffeefiltern.
Nein, Sylvia war nicht blöd und, wenn sie etwas wusste, konnte sie auch sehr schnell reagieren. Das bedeutete, sie würde es mit hoher Wahrscheinlichkeit bis in den Stuhl vor den Moderator schaffen. Und wenn sie einmal vor diesem selbstverliebten Ex-Dorfgendarm, Ex-Schirennläufer, Ex-was auch immer, saß, dann würde sie dort eine Weile sitzen bleiben.
Der ehemalige Dorfgendarm war auch nur ein Mann und behandelte Frauen, die ihm gefielen, ganz offensichtlich besser, als solche, die weniger seinem Geschmack entsprachen. Sylvia würde er lieben, das wusste Bernadette. Ja, wusste, weil sie es schon so oft mit eigenen Augen gesehen hatte.
Besonders Männer mit hohem Selbstwertgefühl interessierten sich für Sylvia. Diese betrachteten sie wie eine Trophäe, die es zu erringen galt und auf die sie eine Art natürliches Anrecht hatten. Der Ex-Gendarm würde Sylvia lieben, ganz klar, dachte Bernadette. Und wenn er sie liebt, kann er gar nicht anders, als ihr bei den Fragen hilfreiche Signale zukommen zu lassen.
Für hilfreiche Signale wiederum hatte Sylvia ganz feine Antennen. Also würde sie nicht schon bei der 500 Euro-Frage ihre beste Freundin anrufen. Zuerst würde sie das Publikum fragen, dann, gegen jede Logik, diesen 50:50 Joker nützen. Gegen jede Logik, so Bernadette, war das deshalb, weil man ja nur bei diesem Joker sicher sein konnte, dass er eine zu 100% richtige Antwort parat hatte.
Logik, ha, Bernadette lachte laut auf. Welcher Idiot hatte Sylvia eingeredet, sich bei der Millionenshow zu bewerben? Schon die Idee war ein Affront gegen ihre Abmachung, die langjährig gehütete Balance ihrer Beziehung. Als Sylvia ihr vor einem Monat davon erzählte, dass sie eingeladen worden war, als Teilnehmerin zur Aufzeichnung der Sendung nach Köln zu fliegen, hatte Bernadette laut aufgelacht. „Du willst bei der Millionen-Show mitmachen? Du? Das ist ja, ja, das wäre, wie … wie wenn ich mich als Busenwunder oder als Strumpfhosenmodell bewerben würde.“ Am anderen Ende der Leitung war es kurz ganz still geworden. „Ahso, findest du?“, hatte Sylvia ganz schnippisch gemeint. „Nett von dir, dass du mich für so blöd hältst. Du bist übrigens mein Telefon-Joker.“
Eigentlich, so dachte Bernadette, war das auch eine Frechheit. Waren ihre Beine so unattraktiv, ihre Brüste so klein, dass man sie, auf einer ganz anderen Ebene, mit absoluter Verblödung vergleichen konnte? Nein, Sylvia hatte nur eben keine Vorstellung von der Größe ihrer Unwissenheit, während Bernadette ganz genau wusste, wie weit ihre Körpermasse von denen der standardisierten Traumfrau abwichen.
Sylvia hatte sich bei einer TV-Show beworben, in der Wissen abgefragt wurde. Bei jeder Frage standen jeweils vier Antworten zur Auswahl, wobei drei davon immer falsch waren. Mit jeder richtig beantworteten Frage verdiente man einen Geldbetrag. Je höher der Geldbetrag wurde, desto schwieriger wurden die Fragen. Für die Beantwortung der Fragen standen keine Hilfsmittel zur Verfügung, allerdings durfte man einmal das Publikum um seine Meinung fragen, einmal vom Computer zwei falsch Antworten löschen lassen und einmal jemanden anrufen. Das war der erwähnte „Telefon-Joker“. Und der würde Bernadette sein.
Klar, wer sonst. Das war doch die Abmachung, das machte sie zu Freunden, zu Verbündeten. Wissen war Bernadettes Abteilung, Schönheit und Soziales waren für Sylvia reserviert. Was wurde daraus, wenn die eine plötzlich im Teich der anderen fischte?
Noch schlimmer: was würde geschehen, wenn sie Erfolg hätte. Misserfolg war zu ertragen, wenn man wusste, dass dieser quasi systemimmanent war und durch die Erfolge auf einem anderen Gebiet wett gemacht werden konnte.
Denn Misserfolge hatte es über die Jahre hinweg immer wieder gegeben, oder exakter: kleine demütigende Situationen, die an Bernadettes Selbstbewusstsein nagten. Neben Sylvia war so manche Frau schnell ein hässliches Entlein, doch es immer wieder spüren zu müssen, immer wieder daran erinnert zu werden, ertrug man nur schwer.
Sylvia konnte da gar nichts tun. Es waren die Männer, die ganz klar zwischen „schöner Frau“ und „weniger schöner Frau“ unterschieden. Mehr als das. Für einen durchschnittlichen Mann war es vollkommen klar, dass die schönere Frau auch die nettere und gescheitere war. Eine wunderschöne Frau konnte dumm wie ein Stück Brot sein. Hielt sie sich vornehm zurück, sprach wenig oder lobte den sie anhimmelnden Mann, würden Jahre vergehen, bis die männliche Umwelt misstrauisch wurde.
Männer waren einfach anders programmiert. Während Männer sich bei ihrer Suche nach einer Frau von äußeren Reizen leiten ließen, waren Frauen gezwungen, ganz andere Kriterien in Betracht zu ziehen. Sie waren darauf trainiert, in kürzester Zeit eine ganze Liste an wertvollen Eigenschaften abzuprüfen. Das hatte sie über die Jahrtausende hinweg, zu den sozial kompetenteren Lebewesen gemacht.
Beispiel Horst: rein äußerlich betrachtet, hätte er sich höchstens mit einer Gartenzwergin paaren dürfen. Was die soziale Intelligenz anbelangte, so war es für Bernadette absehbar, dass dieses Genie der internationalen Finanzströme in den kommenden Scheidungsverhandlungen mit seiner Frau recht bald seine Hosen verlieren würde. Nur wegen Horsts analytischer Fähigkeiten war sein Status innerhalb einer klar begrenzten Gruppe an Individuen relativ hoch und würde über die Jahre gleich bleiben.
Florian Schuster, der Mann ihrer Taufpatin Christina, war von dieser ganz offensichtlich auch wegen seiner inneren Werte ausgesucht worden. Ganz vorbildlich kümmerte sich dieser, laut Christina um die Kinder, besuchte mit ihnen diverse Psychologen und verbrachte viele Stunden am Rand von Spielplätzen und Sandkisten. Die Ironie des Schicksals war, dass Florian wahrscheinlich auch andere Reize zur Verfügung hatte, Christina diese aber nur in geringem Umfang zu schätzen wusste. Bernadette rätselte was Christina Florian geboten hatte? Warum blieb dieser Mann bei dieser Frau? Was hatte ihn angezogen, was hielt ihn fest?
Sylvia wusste, dass die Fachgebiete Bildung und Wissen Bernadette zu überlassen waren. Einerseits weil Bernadette darin eine Meisterin war und zweitens um auch sie auf einem Gebiet glänzen zu lassen. Ohne diese Balance hätte sie doch nie über all die Jahre hinweg die beste Freundin dieser Schönheitskönigin sein können, dieser Frau, der alle immer zuerst die Tür öffnen, den Sessel zurechtrücken, natürlich den Vortritt lassen, als erster die Speisekarte reichen, Kulanz bei allen Problemen des täglichen Lebens zeigen, schlicht und einfach, weil sie so bezaubernd aussah und jedem, der in ihrer Nähe war, das Gefühl gab, auch zu strahlen, zu glänzen, ein Teil dieser allumfassenden Schönheit zu sein.
Das Wasser begann zu kochen. Bernadette, erregt durch die Analyse ihrer Freundschaft zu Sylvia, hob den Wasserkocher zu schnell hoch. Wasser spritzte heraus und ein paar Tropfen landeten auf Bernadettes Hand. Sie stellte den Wasserkocher ab, rieb mit einer Hand über den Handrücken der anderen, holte tief Luft.
Alle Menschen, die beide Frauen kannten, und kaum einer kannte nur Sylvia oder Bernadette, wusste, wer von den beiden die Gebildetere war. Wer hingegen Sylvias Griechenlandurlaube bezahlte, wussten die meisten nicht. Mit dem bei der Rate-Show gewonnenen Geldbetrag wäre Sylvia plötzlich unabhängig von Bernadettes Zuwendungen.
Der Kaffeeduft stieg Bernadette in die Nase. Sie ist meine Freundin und daran wird sich auch nichts ändern, dachte sie fast trotzig.
Bernadette öffnete den Kühlschrank und wurde enttäuscht. Sie und Horst hatten vergessen, Milch einzukaufen. Sie starrte in das Innere des Kühlschranks. Ist doch gut, dachte sie, wenn ich Sylvia kein Geld mehr borgen muss, dann lasse ich mir einen größeren Busen machen.
Lachend schloss Bernadette den Kühlschrank. Zufrieden, eine Art Ausgleich gefunden zu haben, hob sie die beiden Tassen hoch, wollte sie ganz ohne Milch in das Schlafzimmer tragen. Die Balance zwischen den Freundinnen wäre durch den vergrößerten Busen auch wieder hergestellt worden. Sylvia hätte kurz mit geliehenem Wissen geglänzt, während Bernadette für längere Zeit eine Art Blickfang vor sich her tragen könnte. Horst würde das sicher auch freuen.
Horst!
Erschrocken stellte Bernadette die Kaffeetassen wieder ab. Horst, hab ich vergessen, überlegte sie. Für die kommende Woche hatte sie ein erstes Treffen zwischen Horst und Sylvia geplant. Was aber war, wenn er erfahren würde, dass Sylvia in einem Wissenstest geglänzt hatte? Würde er sich dann Hals über Kopf in sie verlieben oder würde er Bernadettes Beteuerungen glauben, Sylvia habe es nur auf Grund ihrer Hilfe so weit geschafft? Würde Sylvia, wunderschön und anscheinend gebildet, dadurch nicht zu seiner absoluten Traumfrau werden?
„Brauchst du Hilfe?“ rief Horst aus dem Schlafzimmer. „Nein, danke, bin gleich soweit“, antwortete Bernadette.
Denk nach, denk nach, rief sich Bernadette innerlich zu, setzte sich auf einen Hocker in der Küche, trank einen Schluck Kaffee. Ging man davon aus, dass Sylvia ihren Telefon-Joker einsetzen würde, gab es drei Varianten darauf zu reagieren.
Bernadette könnte ihr Handy einfach abdrehen. Was kurz darauf passieren würde, war klar. Sylvia wäre mit einem Schlag nicht mehr Bernadettes Freundin, stellte dies doch einen Bruch aller unausgesprochenen, aber damit nicht weniger bindenden Vereinbarungen zwischen ihnen dar. Es hätte dann auch keinen Sinn mehr gehabt, nach einer Balance zwischen ihnen zu streben oder Sylvias finanzielle Abhängigkeit erhalten zu wollen. Einzig die Beziehung zu Horst wäre nicht gefährdet. So angenehm der letzte Punkt war, so unangenehm war es, eine Freundin zu verlieren, mit der man bereits zwei Drittel des eigenen Lebens verbracht hat. Und wofür? Für einen Mann, den man gerade mal seit drei Wochen besser kannte.
Die zweite Variante, einfach die von Sylvia gestellte Frage zu beantworten, hatte den unguten Nebeneffekt, dass eben dieser Mann sich von Bernadette ab und Sylvia zuwenden könnte. Sylvia, ausgestattet mit fremden Wissensfedern und Geld, wäre unabhängig von Bernadette, dafür wäre Horst vielleicht bald abhängig von Sylvia. Einzig das Trostpflaster, des neuen, größeren Busens sprach dafür, zu geben, was erwartet wurde.
Ein Lächeln breitete sich auf Bernadettes Gesicht aus. Eine Variante, die ihr bisher noch nicht eingefallen war, zeichnete sich ab. Diese eleganteste aller Möglichkeiten würde die Freundschaft, die Balance zwischen den Frauen erhalten und ihre Beziehung zu Horst kaum in Gefahr bringen. Warum sie bisher noch nicht daran gedacht hatte, war leicht zu erklären. Diese Variante widersprach dem gepflegten Verhaltensmuster, wonach sie immer die richtige Antwort parat haben musste, um der Schöneren, der viel Geliebten, etwas entgegen halten zu können.
Ich werde es einfach nicht wissen. Bernadette strahlte. Ich werde ihr die falsche Antwort geben. Es wird sie nicht freuen, aber sie wird es verschmerzen. Sylvia würde verstehen, dass es eben Fragen gab, die auch Bernadette nicht beantworten konnte, genau wie die wenigen Feste und Partys in der Stadt, zu denen nicht einmal sie eine Einladung bekam.
Bei ihrem ersten Treffen mit Horst würde Sylvia zwar erzählen, wie sehr die Freundin sie da enttäuscht habe, doch Horst wusste ja, welche Schätze in Bernadettes Kopf ruhten, ihr also keineswegs das Fehlen einer Belanglosigkeit nachtragen. Eher würde ihn Sylvias Unwissenheit stutzig machen, ihn ablenken von ihrer makellosen Oberfläche.
Bebend vor freudiger Erregung wickelte sich Bernadette fest in ihren Bademantel. Die Lösung war gefunden, der Urlaub gerettet. Bernadette kostete vom Kaffee. Er war mittlerweile kalt geworden. Sie rief zu Horst ins Schlafzimmer. „Wir haben keine Milch. Soll ich vom Restaurant einen Kaffee holen gehen?“
„Würdest du das wirklich für mich tun?“ schallte es durch das kleine Apartment. Lächelnd stand Bernadette auf, ging ins Schlafzimmer, blieb vor Horst stehen und öffnete ihren Bademantel. „Das und noch viel mehr.“
Horst ließ sein Buch sinken, wanderte mit seinen Augen über ihren nackten Körper.
„In meinem Alter ist Kaffee total ungesund.“ Er griff nach ihrem Bademantel, wollte Bernadette zu sich ziehen, als das Handy in ihrer Tasche läutet. Schnell griff sie in die Tasche, lächelte Horst an. „Jetzt musst du noch kurz warten. Das ist meine Freundin Sylvia. Die mit der Millionen-Show… hab ich dir erzählt.“
„Ab jetzt 60 Sekunden“ rief ihr Horst nach, während Bernadette in die Küche lief, die Tür hinter sich schloss und auf dem Hocker Platz nahm. Sie atmete einmal tief durch und drückte auf den grünen Knopf: „Kaltenegger.“
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Bernadette das Gefühl, mit einem Familienmitglied oder einem alten Bekannten zu sprechen, weil der Moderator seine Sätze am Telefon genauso formuliert hatte, wie er das eben immer tat.
Bernadette hatte die Sendung oft gesehen und noch öfter vermieden. Ihre Verwunderung bestand in dem Augenblick darin, wie wenig sie dieses Gespräch überraschte. Das änderte sich erst, als der Moderator erwähnte, welcher Geldbetrag im Falle einer richtigen Antwort Sylvia gehören würde.
150.000 Euro standen auf dem Spiel. Verblüfft schüttelte Bernadette den Kopf, fragte sich, wie Sylvia es überhaupt geschafft hatte, soweit zu kommen. Ab der 500 Euro Stufe gab es kaum noch ganz einfache Fragen und selten schaffte es ein Teilnehmer, mehr als 30.000 Euro mit nach Haus zu nehmen.
Sylvias Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung. „Hallo Schatzi, bitte sag mir. Welcher Feldherr kämpfte im zweiten Punischen Krieg gegen Hannibal. War es „A“., Marcus Antonius, oder „B“…“
Bernadettes Atmen stockte, während ihr Herz zu rasen begann. Was auch immer sie antworten würde, sie konnte nur verlieren.
Eine richtige Antwort würde Sylvia viel Geld und eine Art Absolution in Wissensfragen geben, während bei einer falschen Antwort Horst Bernadettes Charakter in Frage stellen würde. Er wusste, dass sie diese Frage ohne Probleme beantworten konnte.
Bernadette wischte sich den Schweiß von der Stirn, wissend, dass sie keine Wahl hatte, ihre Antwort sie entweder isolieren oder für immer zu Sylvias Anhängsel degradieren würde.
Sie schloss die Augen und entschied sich für ihre Liebe zur Geschichte, zu den Büchern, für das tröstend weite Feld vergangener Heldentaten, wissenschaftlicher Durchbrüche und künstlerischer Höhenflüge, das wirklich allen gleich offen stand, egal ob sie kurze oder lange Beine, große oder kleine Brüste hatten.
„Die Antwort ist „C“ Fabius Maximus… Hallo? Hallo?“
Bernadette runzelte die Stirn, nahm das Handy vom Ohr und sah auf den schwarzen Display des Geräts. Sie drückte auf eine Taste, doch der Akku des Telefons hatte bereits seinen letzten Funken Elektrizität abgeliefert.
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Die Kapitel 3-10 werden bis zum 24.12.2023 jeweils an einem Adventsonntag veröffentlicht.