Neid

Auszug aus dem Roman in 10 Kapiteln mit wiederkehrendem Personal

von Ivo Schneider

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Für Vincent

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Kapitel 9

8. Februar

Du bist tot, tot, tot, tot, tot. Wie dieses Wort aussieht. Zwei kleine Türme mit einem Loch in der Mitte. Ich verstehe es nicht, will nicht, kann nicht.

Gelogen.

Natürlich verstehe ich „tot“. Tot, seit einem Jahr. Nicht ganz. In 24 Minuten, ist es soweit. Auf dem Totenschein steht die genaue Uhrzeit. Noch 24 Minuten werde ich dich halten. Du atmest unregelmäßig mit geschlossenen Augen, eingefallenen Wangen, aber du atmest. Ich spüre, wie du mir langsam entgleitest.

Noch 23 Minuten.

Dr. Mayer hat gesagt, ich soll das schreiben. Das hilft, hat sie gesagt. Nein, sie hat gesagt: „Schreiben Sie alles auf, was ihnen durch den Kopf geht, Frau Neustifter, ganz ungefiltert. Vielleicht kommen wir so weiter.“

Weiterkommen? Wohin? Ich hab noch nie Tagebuch geschrieben. Bisschen spät mit 35.

Aber ich tu´s. Damit es mir besser geht. Auch ohne dich. Dabei wird es mir nie besser gehen, als mit dir. Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich.

Lisa loves Stefan. 4 fucking ever and ever.

Noch 20 Minuten.

10. Februar

Migräne. Hab im Büro angerufen, kann nicht. Solln sich ihre Scheiß Pensionistenzeitung selber lektorieren.

(3 Stunden später) Jetzt hab ich Migräne. Und du liegst nicht neben mir, willst nicht mit mir schlafen und ich kann nicht sagen: „Schatz, ich hab Migräne, nimm die Finger da weg, sonst kratze ich dir die Augen aus.“

Du hast mich nie gefragt, wenn ich nicht wollte. Manchmal hab ich mir sogar gewünscht, du würdest mich einmal fragen, wenn ich nicht will, einfach um dir sagen zu können, „Nein, ich will heute nicht.“

Du wirst mich nie mehr irgendetwas fragen.

11. Februar

Bin im Büro gewesen und hab die Pensionistenzeitung lektoriert. Ich hasse diese Arbeit. Dabei sind alle sehr nett zu mir – „Lisa würdest du bitte…“; „Lisa könntest du…“ In jeder anderen Firma hätten sie mich schon hinausgeschmissen. Die sind sicher froh, dass ich nur zwei Tage die Woche da bin. Hab keine Ahnung, wie lange ich mir das noch leisten kann.

Seit einem Jahr, sehe ich mir keine Kontoauszüge an.

Weißt du was komisch ist, bei den Leuten im Verlag? Ich bin da die Einzige, die nicht selber schreiben will. Keine Kurzgeschichte, Roman, Krimi oder sonst was. Warum wollen die das alle? Ich kann gar nicht schreiben.

Hab von dir geträumt. Du bist plötzlich vor der Tür gestanden mit diesem riesigen Auto, von dem du immer geredet hast. Wolltest mit mir eine erste Fahrt machen.

Ich steig ein und seh dich an. Auf dem Rücksitz sind zwei Kindersitze. Ich frag dich, wozu die da sind. Du meinst ganz ruhig: „Lisa, gib mir noch einen Monat, dann haben wir auch die Kinder für die Sitze.“ Ich fange an zu lachen und wache auf.

14. Februar

Anna hat mich gefragt, ob ich mit ihr in die Kirche gehen will. Ich war so perplex, dass ich „Ja“ gesagt habe. Also das ist jetzt verkürzt. Ich habe nicht gesagt, „Ja, ich will in die Kirche mitkommen“ sondern nur, dass ich am Sonntagmorgen nichts vor habe.

Wer hat etwas vor am Sonntagmorgen? Nur du bist am Sonntag ewig im Fitness-Studio gewesen.

Ich werde in die Kirche gehen. Warum nicht. Ich glaube, dass es da eine höhere Macht gibt. Ich glaube, dass du im Himmel bist. Ich glaube, ich bin entweder 2012 oder 2014 aus der Kirche ausgetreten.

15. Februar

Die Pensionistenzeitung ist fertig. Jetzt kommen bald die Gartencenter mit ihren Foldern. Eine Kirchenzeitung hatten wir noch nie. Die haben wahrscheinlich kein Geld für ein anständiges Layout samt Lektorat. Der liebe Gott wird ihnen den einen oder anderen Rechtschreibfehler verzeihen.

Anna hat erzählt, das wäre gar keine normale Kirche. Das sind Amerikaner, die hier eine evangelische Bibelgemeinde gegründet haben. Schön.

Ich hör dich lachen. „Lisa geht in eine Kirche.“ „Lisa geht in eine Kirche.“

Du Idiot. Du weißt gar nicht, was ich hier alles in deiner Abwesenheit tue. Ich schlucke zweimal täglich Tabletten. Ich, die Fleisch gewordene Homöopathie, schlucke so Zeug, wo drei Leute unterschreiben müssen, dass das eh okay ist.

Da kann ich auch zu amerikanischen Bibelfreaks in die Kirche gehen.

18. Februar

Ich glaub es einfach nicht. Dieses stille, kleine Bürschlein, dass seit einem Jahr in unserem Zimmer sitzt und eigentlich so gut wie nie den Mund aufmacht, hat einen Krimi veröffentlicht.

Da steht er vor mir, zittert fast und reicht mir die Einladung zu einer Lesung. Ich hab ihn so giftig angesehen, wie nur irgendwie möglich.

Ich hasse Krimis. Ich hasse sie. Ja, ja, ganz, ganz tiefer Hass ist das. Diese Küchenschaben, die sich am Leid anderer aufgeilen. Ja, ja, ich weiß, ich bin ungerecht, aber im Arm von dem Bürschlein ist noch niemand gestorben. Was weiß der von Leid, Tod, Verzweiflung. Schade.

Irgendwie habe ich ihn ganz sympathisch gefunden, aber jetzt speib ich mich fast an, wenn er vorbeigeht.

19. Februar

Samstagabend. Ich sitze vor dem Fernseher und schlucke die Tabletten mit Preiselbeerkompott. Schmeckt nicht schlecht.

20. Februar

Ja. Kirche. Sogar ohne Anna. Die hat kurz davor angerufen, dass sie mit Fieber im Bett liegt. Dachte mir, das ist vielleicht sogar besser so, weil wenn mir die Gebetsmurmelei zu viel wird, dann kann ich schnell gehen und muss mich nicht lange rechtfertigen. Hab mich angezogen, wie meine Oma.

Ich glaub mit ihr zusammen war ich auch das letzte Mal, ganz ohne Anlass, in einer Kirche, um eine Messe anzuhören. Das ist gefühlte 100 Jahre her. Langer Rock, blickdichte Strumpfhosen, dunkle Bluse, Seidenschal. War ein bisschen wie Verkleiden.

Vor der Kirche drehte ich mich dreimal um, weil es unter der angegebenen Adresse eben nur diese vollkommen normale Tür zu einem Souterrainlokal gab. Ich öffnete sie und stand in einem hellen, cremefarbenen, großen Vorraum. Überall standen Menschen, Erwachsene und Kinder, plauderten, schüttelten Hände.

Alle machten einen so seltsam fröhlichen Eindruck, als wäre das eine Art Bezirks-Jahrestreffen glücklicher Familien. Ich wollte wieder umdrehen, als ein 40 -jähriger, gut aussehender Mann auf mich zukommt und mir die Hand reicht. Das war der Pfarrer. Der hatte aber keine besondere Kleidung an oder irgend ein Aschenkreuz auf der Stirn.

Er sagte ein paar Sätze auf Englisch, grinste von Ohr zu Ohr und da kam auch gleich seine Frau – Jennifer – auf mich zu. Sie schob ihn fast beiseite, nahm mich am Arm und führte mich in die kleine Küche. Dort standen wir kurz und tranken einen Kaffee. Ich war sprachlos.

Die ganze Kirche besteht nur aus einem vielleicht 200 Quadratmeter großen L-förmigen Raum, mit einer Küche und einem Büro. Der eine Teil des L’s ist der Empfangs – und Aufenthaltsraum, der andere die eigentliche Kirche. Einen Altar oder diverse Heiligenbilder sucht man vergeblich. An der Stirnseite hängt ein schlichtes Holzkreuz, ganz ohne halb toten Jesus. Der Pfarrer predigt vor oder hinter einem kleinen Pult und in der Ecke neben ihm sitzt eine seiner Assistentinnen an einem normalen Klavier.

Ich war so überrascht, dass ich mich kaum auf die Predigt konzentrieren konnte. Ohja es ging um „Vergebung“. Wer wem zu vergeben hat, hab ich vergessen.

Und viele Lieder wurden gesungen. Aber nicht so komische Sachen, die kein normaler Mensch je vor sich hin summen würde, sondern echte Melodien, die alle ein bisschen klangen, als wären sie von Popsongs der frühen 1970 Jahre abgekupfert. Vielleicht kamen die Popsongs aber auch erst nach diesen Kirchenliedern.

Die Zeit ist so schnell vergangen. Ganz verwundert hab ich mich nach dem letzten Gebet umgesehen. Alle standen auf. Apropos Aufstehen: wenn man während der Messe aufstehen soll, sagt der Pfarrer einfach: „Bitte steht alle auf.“ Ich kann mich noch erinnern, wie peinlich das immer mit Oma war, wenn ich an den falschen Stellen aufgestanden oder sitzen geblieben bin.

Und die haben echte Stühle! Ja, echte Stühle mit einem hellblauen Polsterbezug. Hier muss sich niemand auf einer kalten Holzbank den Allerwertesten … (Ist das jetzt blasphemisch? – Hey, die Frau Doktor hat gesagt „vollkommen ungefiltert!!“). Also da friert man nicht auf einer harten Holzbank.

Nach der Messe gingen alle in den Aufenthaltsraum. Dort hatte Jennifer in der Zwischenzeit einen kleinen Tisch mit Mehlspeisen aufgebaut. Wieder plauderten wir und tranken Kaffee.

Eine wildfremde Frau um die fünfzig stand plötzlich vor mir und meinte ohne einen Hauch Ironie, sie sei total froh, dass ich gekommen bin. Ich fing an zu heulen und lief hinaus.

Das Glas mit dem Preiselbeerkompott ist fast leer.

23. Februar

Das Bürschlein sitzt mir gegenüber.

Was wäre, würde ich plötzlich aufstehen, ihm den gespitzten Bleistift an die Brust halten und schreien: „Ich stech dich ab, du Sau!“

Na da würd er sich schön in die Hosen pinkeln, der Herr Krimiautor.

Ich muss mich konzentrieren. Der Text für das Gartencenter ist da. Vergebung. Ja, Herr vergib den Gartencentern und den Krimiautoren und vergib mir. Seit fast einem Jahr habe ich es nicht geschafft, deinen Vater anzurufen.

Moment, ich muss arbeiten.

(zu Hause)

Eine Zeit lang habe ich mir eingeredet, er sei selber Schuld, dein Herr Papa, aber das ist natürlich Blödsinn. Er hat gemacht, was von ihm erwartet wurde, und ich habe ihn sogar darum gebeten.

Ich hatte einfach nicht die Kraft, ein Begräbnis zu organisieren. An dem Tag dann – ich schäme mich so – ich mein, ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so blöd sein würde.

An dem Tag: ich war allein – na klar, weil du warst ja in dieser Scheiß Kiste – ja, allein war ich und bis oben hin vollgestopft mit Anti-Alles-Tabletten, hab nur geheult.

Das Begräbnis war für 12 Uhr angesetzt und ab 10 Uhr begann ich mir Mut anzutrinken.

Gegen 11:30 war ich total besoffen und hatte die brillante Idee, doch mein langes, rotes Hochzeitskleid anzuziehen. Der Taxifahrer machte ein ziemliches Gesicht, als ich beim Zentralfriedhof (Zweites Tor) ausstieg.

Auf dem kurzen Weg zur Einsegnungshalle bin ich zweimal hingeflogen.

Als ich endlich in der Halle stand, verheult, zornig und verdreckt, begann ich sofort herumzuschreien. Alle habe ich beschimpft: den Pfarrer, deine Eltern, jeden, den ich gesehen habe. Es war furchtbar. Du kannst froh sein, dass du in deiner Kiste davon nichts mitbekommen hast.

Zum Schluss wollte ich mich noch ganz theatralisch auf den Sarg werfen, bin aber, dem Kleid sei Dank, noch einmal hingeflogen und diesmal bewusstlos liegen geblieben.

Hey, ich hab dir doch immer gesagt: „I ain’t smart, but I got a rock’n roll heart.“

Scheiße, ich brauch ein Taschentuch.

Ja, Vergebung, ja, brauch ich. Und da meint die Frau Doktor, wir kommen nicht weiter mit unserer kleinen Depression. Blödsinn.

Hätten wir ein Kind gehabt, wäre das alles ganz anderes gelaufen. Ich hätte das Kind getröstet, mit ihm oder ihr geheult, hätte es beschützt, wie ein Fels in der Brandung.

Nein, das ist keine Ausrede, ich weiß, dass es so gewesen wäre. Aber ich hatte niemanden, den ich hätte beschützen können und der Gedanke, dass deine Eltern in der Situation auch Schutz notwendig gehabt hätten, ist mir nicht in den Sinn gekommen.

Ja, Vergebung. Wahrscheinlich war ich nur deshalb am Sonntag in der Kirche. Mein schlechtes Gewissen hat mich dazu gebracht, mir die Oma-Verkleidung anzuziehen.

Ich werde deinen Vater anrufen. Wann? Bald. Bald. Jetzt geh ich schlafen.

Wo sind die Tabletten? Darf ja nicht vergessen, dieses Preiselbeerkompott zu kaufen. Ohne Preiselbeerkompott schmecken mir die Tabletten nicht mehr.

24. Februar

Anna ist wieder gesund und wollte wissen, ob ich sonntags mit ihr in die Kirche gehe. Habe gesagt, dass ich möglicherweise eingeladen bin. Weiß auch nicht wieso.

War schon ewig nicht mehr eingeladen. Wer lädt schon gerne jemanden ein, der jeden Moment in Tränen ausbrechen kann oder sonst wie einen Anfall bekommt. „Emotional instabil“ hab ich einmal diese Tante von der Buchhaltung flüstern gehört. Stimmt schon.

Vielleicht sieht mich das Krimibürschlein auch deshalb immer so verschreckt an. Ach wie gerne würde ich ihm einen kleinen Anfall vorspielen. Das wäre ein Spaß.

Hey, das ist krank. Konzentrier dich lieber auf das Gartencenter.

25. Februar

Franz hat sich gemeldet. Also bei der Wahl deines besten Freundes hättest du echt ein bisschen vorsichtiger sein können. Naja im Kindergarten war das vielleicht noch nicht absehbar.

Versteh nicht, wie der eine Frau gefunden hat. Ich mein, Eva ist keine Schönheit, malt aber sehr gut. Während Franz definitiv nicht schreiben kann. Hast du noch seine „Ode an die Brettljause“ gelesen? Dafür hat er Geld bekommen, echtes Geld!

Ganz vorsichtig hat er gefragt, wie es mir geht. Zuerst wollte ich einfach nur ganz, ganz laut ins Telefon schreien, dann ist mir aber dieses Bild eingefallen: Es war Sommer. Du sitzt mit Franz am Esstisch. Ihr beiden spielt seit Stunden so ein vertrotteltes Kartenspiel, trinkt und zerkugelt euch wegen irgend einem Blödsinn. Vor lauter Lachen laufen euch Tränen über die Wangen. Du siehst so glücklich aus.

Ich hab einfach aufgelegt.

27. Februar

Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Ich will ihm eine Gefährtin machen. Und Gott der Herr machte eine Frau aus der Rippe des Mannes. Da sprach der Mann: „Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.“ Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen um mit seiner Frau zu gehen und sie werden sein ein Fleisch.

Wie der Pfarrer das vorgelesen hat, sind mir wieder die Tränen gekommen. Ich wollte raus laufen, aber das Singen hat mich beruhigt.

Wusste gar nicht, wie gerne ich singe. Die Gemeindemitglieder sahen mich so freundlich an. Nein, nicht nur mich, das machen die bei allen so.

Vor und nach der Messe kannst du zu jedem hingehen und mit ihr oder ihm reden. Die Stimmung in diesem „L“ ist fast gespenstisch gut.

Anna brachte einen Kuchen. Überhaupt bringen alle irgendeine Kleinigkeit zum Essen für den Kaffee nach der Messe, und keiner vermittelt den Eindruck, aus reiner Pflicht anwesend zu sein.

Dachte nie, dass Kirche so angenehm sein könnte. Die Sonntage mit Oma in der scheußlichen Kirche im Arsenal kann man damit nicht vergleichen. Dort sind nach dem letzten Wort des Pfarrers alle von den Sitzen gesprungen und so schnell wie möglich nach Hause gegangen.

Hier läuft niemand davon. Anna und ich sind noch mindestens 40 Minuten herumgestanden und haben mit Jennifer gesprochen.

Ihr Deutsch ist so gut wie mein Englisch. Die Arme kommt aus Kalifornien. Quasi eine Heilige, weil der Winter ist heuer ziemlich hart. Ich hab mindestens fünf Stück von ihrem süßen Kuchenzeug gegessen.

2. März

Das Bürschlein hat mich angesprochen. Ob er mir auch einen Kaffee holen soll. Spinnt der? Der ist höchstens 25 und ich bin eine verheiratete Frau.

Hab ihn sehr lange ruhig angesehen und dann recht heftig geantwortet: „Nein, Kaffee will ich keinen, aber ein Glas Wasser wäre fein. Wenn ich nämlich nicht innerhalb von zwei Minuten meine Tabletten nehme, bekomme ich einen Anfall.“

Irgendwie dürfte dem Bürschlein der Witz entgangen sein, denn nach rund 10 Sekunden stand ein Glas Wasser vor mir. Ich hab mich artig bedankt und meine Vitamine geschluckt. Er hat sich fast verbeugt und ist rückwärts aus dem Büro gestolpert. Wie er draußen war, bin ich fast vom Stuhl gefallen vor Lachen.

Klara – kannst du dich erinnern? – die Rothaarige, die früher mal einen Verlag hatte und ständig mit ihrem Gewicht kämpft – die sitzt seit dem Sommer auch in dem Zimmer – Also Klara hat gemeint, ich soll nicht so bös sein zum Bürschlein.

Hab sofort gefragt, ob sie auf ihn steht, aber sie hat gesagt, nein, er tue ihr nur leid. Es sei eine verdammt harte Zeit für Autoren. Blabla.

Seine Leiche hat er sich aufs Papier phantasiert, meine ist echt. Fragt sich, für wen da die Zeit wohl härter ist. Jaja, ich weiß, bin unfair. Kann man alles nicht vergleichen. Scheiße. Offiziell bin ich gar keine verheiratete Frau mehr.

3. März

Im Supermarkt haben sie das Preiselbeerkompott abverkauft. Ich nahm alle angebotenen Gläser. An der Kassa sah mich die Dame komisch an. Ich fragte sie, ob das Preiselbeerkompott je wieder kommt. Sie wusste es nicht. Bat sie, der Filialleiterin auszurichten, dass ich dieses Preiselbeerkompott brauche, weil ich meine Tabletten nur noch damit schlucken kann. Daraufhin hat sie jeden Augenkontakt verweigert.

Egal. Bin jetzt stolze Besitzerin von 12 Gläsern Preiselbeerkompott – á 600 Gramm. Muss ich mir ausrechnen, wie lange ich damit auskommen werde?

4. März

Wieder Supermarkt. Wieder relativ einseitige Konsumation. Habe mich mit Backutensilien eingedeckt. Während ich an der Kassa stand, starrte die Dame höchst konzentriert auf ihre Fingernägel. Die wird sich gedacht haben: „Schau, da kommt wieder die Verrückte.“

Aber, ich kann backen. Nicht so gut wie Oma – die, die nach der Kirche immer sofort nach Hause gelaufen ist – aber ich hab das gelernt. Also ich habe zugesehen. Dir hat es immer geschmeckt. Kannst du dich an diese Haselnussküsse erinnern, die ich einmal gemacht habe? Die waren großartig.

Nachtrag: Hab dem Bürschlein einen Kaffee gebracht. Nur so. Hab ihn ohne Worte vor ihm abgestellt. Mir ist lieber, er glaubt, ich sei ein bisschen gefährlich.

Natürlich bin ich nicht gefährlich. Er hat sich bedankt. Ich lächelte und schluckte anschließend gespielt verwirrt eine Tablette. Meinte ganz treuherzig: „Ist besser so. Wegen der Anfälle.“ Klara hat nur den Kopf geschüttelt. Wehe, sie sagt ihm, dass das nur Vitamine sind.

Die echten Sachen schlucke ich nur morgens und abends. Jeweils mit Preiselbeerkompott.

5. März

Bin total aufgedreht. Es ist mitten in der Nacht und ich sitze vor dem Backofen. Die Küche sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Laut Kochbuch muss ich noch 45 Minuten warten. Bin verdammt müde.

6. März

Bittet, so wird euch gegeben; suchet so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da suchet, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.

Hab viel gesungen. Diese Sonntagsmesse entspannt mich, als hätte ich eine doppelte Dosis Tabletten geschluckt. Es sind auch so schöne Texte von allumfassender Liebe.

Jennifer stand beim Kaffee danach – „Kaffee danach“ klingt ein bisschen wie „Zigarette danach“ – also sie stand neben mir und meinte, sie und ein paar andere Frauen würden für mich beten. Ich fand das unheimlich schön.

Um ja nicht wieder loszuheulen, dachte ich schnell an die letzten Worte des Pfarrers. In seiner Predigt ging es darum, warum die katholische Kirche eben nicht so toll ist wie diese hier.

Das fand ich unpassend. Wenn man etwas nur durch den Glauben erfahren kann, also keine logischen Argumente zur Verfügung hat, um die eigene These zu untermauern, dann kann ich doch nicht sagen, die anderen, die auch nur meinen – Hey glaubt an uns, weil beweisen können wir das alles auch nicht – hätten nicht recht.

Das hat funktioniert. Keine Träne.

Bin übrigens wegen der blöden Haselnussküsse zu spät gekommen. Stellte beim Eingang schnell mein Tablett auf den Tisch mit den anderen Nachspeisen und ging auf Zehenspitzen zu meinem Platz.

Zugegeben die Haselnussküsse haben leicht verbrannt ausgesehen, waren aber geschmacklich ganz in Ordnung. Nach der Messe schob ich mir demonstrativ zwei Stück auf einmal in den Mund und versuchte Jennifer gegenüber nonverbal klar zu machen, wie gut sie mir schmecken.

Hat nicht funktioniert. Sie erzählte, dass es da eine Frauengruppe gibt, die sich trifft und miteinander betet. Ich nickte brav und aß noch ein paar Haselnussküsse.

Kurz bevor ich ging, sah ich nach, wie viele davon noch übrig waren. War etwas enttäuscht. Offensichtlich hat niemand außer mir davon gekostet. Der Teller mit Jennifers Kuchen war leer.

Wahnsinnig experimentierfreudig sind die hier nicht.

Mir ist ein bisschen schlecht.

Abend. Überlege gerade, warum ich mich in der Kirche so wohl fühle. In diesem relativ kleinen, freundlichen Raum, umgeben von gut aufgelegten Kindern und Erwachsenen scheint die Welt an sich sinnvoll, gut.

Frau Doktor Mayer hat gesagt, es wird mir nicht besser gehen, bevor ich nicht wieder „Vertrauen in mein Leben“ habe und „den Sinn des Lebens nicht in Frage stelle.“

Warum mir das in der Kirche leichter fällt, kann ich nicht erklären. Wenn ich da vorne vor meinem blauen Sitz stehe und ein Lied singe, scheint alles so logisch und einfach zu sein.

Du bist nicht da, aber ich bin hier und ich lebe. Du bist nicht verloren, aber ich gehe verloren, wenn ich an der Vergangenheit festhalte.

Bin wild entschlossen, eine vollkommen nebenwirkungsfreie Süßspeise zu backen. Werde gleich Omas Kochbuch suchen.

7. März

Krank.

13. März

Ich meine aber folgendes: Wer da kärglich sät, der wird auch kärglich ernten, und wer da sät im Segen, der wird auch ernten im Segen. Ein jeder, wie er´s sich im Herzen vorgenommen hat, nicht mit Unwillen oder aus Zwang, denn Gott liebt den fröhlichen Geber. Brief des Paulus an die Korinther.

War das wirklich nur ein Brief? Das muss man sich einmal ansehen. In der Bibel, die ich habe, besteht der Brief aus zehn doppelspaltigen, sehr klein bedruckten Seiten.

Wenn man den Text mit der Hand schreiben würde, käme da ein gewaltiger Stapel Papier zusammen.

Hatten die damals überhaupt Papier oder waren das Ziegenhäute? Noch schlimmer wären Steintafeln.

Den Postler möchte ich sehen, der diesen Brief zustellt. Deine Briefe. Deine Briefe an mich. Deine wunderbaren Briefe an mich.

Wie der eine in Omas Kochbuch gerutscht ist, weiß ich auch nicht. In dem Brief hast du mir gedroht, jeden Mann, den ich außer dir attraktiv finden könnte, augenblicklich in Cruella De Vil zu verwandeln.

Wie gut, dass wir deine Zauberkünste nie testen mussten. Die Tränen sind mir aus den Augen geschossen und haben alle guten Vorsätze, wieder ein normales Leben zu führen, weggespült.

Die letzte Woche verbrachte ich in einem Rausch aus Medikamenten und Preiselbeerkompott. Immerhin habe ich es aber diesmal geschafft, nicht zu viel von den Dingern zu schlucken.

Bin nur herumgelegen, habe gekotzt, geheult und geschlafen. Rief in der Arbeit an. Das Bürschlein war am anderen Ende der Leitung. Ich muss recht überzeugend gewesen zu sein.

Was mir geholfen hat, war der Wunsch, am Sonntag in die Kirche zu gehen. Ich wusste, das würde mich wieder aufrichten. Und nicht nur das. Ich wollte mit einer Süßigkeit einreiten, die mir die Gemeindemitglieder beim „Kaffee-Danach“ aus der Hand reißen würden.

Also zuerst Korinther, Singen, Entspannung und dann kam der große Moment. Der Einfachheit halber hatte ich mich wieder für die Haselnussküsse entschieden. Diesmal sahen sie aber viel schöner aus. Der Geschmack war ebenfalls besser.

Enttäuschung pur. Genau zwei Kinder nahmen sich jeweils einen Haselnusskuss. Ich stand die ganze Zeit über neben dem Tisch mit den Süßigkeiten, weiß genau, wer was genommen hat.

Jennifers Kuchenteller war wie üblich als erster leer, dabei hat sie mir erzählt, dass ihre Kinder immer mithelfen.

Ich verstehe die Frau nicht. Hat einen netten Mann, vier (in Zahlen: 4!!) Kinder, wirkt so entspannt, als würde sie mindestens die dreifache Dosis meiner Tabletten schlucken und kocht nebenher noch so gute Sachen.

Andererseits: habe ihren Kuchen probiert und war nicht begeistert. Ausgesehen hat der top, aber der Geschmack war nicht herausragend. Ihre Sachen sehen eigentlich immer toll aus, schmecken aber alle gleich.

Ich meine das nicht als Vorwurf, aber der Inhalt deckt sich nicht mit der Verpackung.

Wenn man da jetzt den Paulusbrief hernimmt: na logisch, bringt Arbeit, die mit Freude gemacht wird statistisch gesehen mehr, aber Garantie ist das keine, siehe meine Haselnussküsse.

14., 15., 16., 17. März

Versinke in Texten. Muss wegen der „Krankheit“ viel Arbeit aufholen.

Bürschlein hat sich nach meinem Befinden erkundigt. Hat der keine Freundin? So schlecht sieht er auch wieder nicht aus. Seine Garderobe müsste er etwas überdenken.

Manche Männer glauben, dass sie mit einem schwarzen Rollkragenpullover schrecklich intelligent aussehen.

19. März

Samstag. Habe gestern und heute damit verbracht, den Gugelhupf meines Lebens zu backen.

Mehrere Prototypen sind im Mistkübel gelandet. War dreimal beim Supermarkt um diverse Zutaten nach zu kaufen.

Habe nicht erwartet, dass die Dame an der Kassa je wieder Blickkontakt mit mir aufnehmen wird. Beim dritten Mal hat sie mich aber angesprochen und gemeint, dass sie mein Preiselbeerkompott-Begehr an die Filialleiterin weitergereicht hat.

Wenn das so weiter geht, werden wir noch ganz dicke Freunde.

20. März

Ich beschwöre euch ihr Töchter Jerusalems, findet ihr meinen Freund, so sagt ihm, dass ich vor Liebe krank bin. Was hat dein Freund, dass du uns so beschwörst? Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden. Sein Haupt ist das feinste Gold. Seine Locken sind kraus, schwarz wie ein Rabe. Seine Augen sind wie Tauben an den Wasserbächen, sie baden in Milch und sitzen in reichen Wassern. Seine Wangen sind wie Balsambeete, in denen Gewürzkräuter wachsen. Seine Lippen sind wie Lilien, seine Finger sind wie goldene Stäbe. Sein Leib ist wie reines Elfenbein, mit Saphiren geschmückt. Sein Mund ist süß, und alles an ihm ist lieblich. So ist mein Freund, ihr Töchter Jerusalems.

Nein, das war nicht Teil der Messe. Habe es zufällig in der Bibel gefunden.

Die Predigt hielt so ein 22-jähriger Grünschnabel aus South Carolina. Übereifrig und mit hoch rotem Kopf hat er erklärt, dass wir alle Sünder, ja mit Sünde geboren sind. Ich dachte kurz an die Kinder, die da rund um mich herum saßen und habe mich ein wenig für den Prediger geniert.

Was sollen die Kleinen da schon ausgefressen haben, um so einen Haufen Blödsinn ertragen zu müssen?

Nachdem der Prediger in dem Ton weiter machte, habe ich einfach in meiner Bibel geblättert und nicht weiter aufgepasst.

Singen konnte der Grünschnabel auch nicht. Ehrlich: gegen den ist mein Bürobürschlein ein weiser, alter Mann. Beim Kaffee wollte ich Jennifer gegenüber eine spitze Bemerkung machen, aber sie hat sich so intensive mit dem Grünschnabel unterhalten, dass ich da nicht dazwischenfunken konnte. Da hatte man kurz den Eindruck, der Grünschnabel wäre ihr eine kleine Sünde wert.

Spannend wurde es kurz danach. Habe demonstrativ meinen Traum-Gugelhupf ausgepackt und auf den Tisch neben Jennifers Cupcake gestellt. (Cupcake: kleines, süßes Zeug; primitive Mischung aus Mehl und Zucker, die besser aussieht, als sie schmeckt.)

Nach dieser Predigt hatte ich Lust auf einen kleinen Test. Hier die gezuckerten Früchte der gottesfürchtigen, gegen die Sünde ankämpfende Frau des Pfarrers und gleich daneben mein Gugelhupf. Es heißt doch, an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, weshalb dieser Mehlspeisenvergleichskampf auch eine theologische Komponente hatte.

Offensichtlich sind nicht alle Menschen gleichermaßen erkenntnisfähig, denn wieder waren von Jennifers Cupcakes nur mehr Krümel übrig, während mein Prachtstück mit großer Skepsis aufgenommen wurde. Die Hälfte blieb übrig. Ich habe den Rest eingepackt und die Kirche etwas mürrisch verlassen.

Was hat diese Frau, was ich nicht habe? Okay, da wäre einmal ein liebender Mann, vier Kinder, eine himmlisch ausgeglichene Ausstrahlung, ihre Erbsünde und ihre Fähigkeit etwas zu backen, von dem sich jeder ein Stück nehmen will.

Was ich vergessen habe zu erwähnen: einen Cupcake habe ich für Testzwecke mitgenommen.

21. März

Habe im Büro Klara ein Stück Gugelhupf und einen Cupcake kosten lassen. Sie meinte, beides sei etwas trocken und erkundigte sich, ob da hoffentlich nicht zuviel Zucker drin ist.

Na was denn sonst? Tofu? Aus lauter Verzweiflung reichte ich dem Bürschlein auch zwei Kostproben. Genaugenommen hielt ich ihm mit wildem Blick den Teller vor die Nase und meinte: „Welches Stück schmeckt nach Erbsünde und welches nach reiner Liebe?“

Im ersten Moment dachte ich mir, dass er nun endgültig davon überzeugt sein muss, ich sei verrückt, aber dann lächelte er, schob sich beide Stücke nach einander in den Mund und antwortete: „Kann denn Liebe Sünde sein?“

Ich gestehe, ich musste lachen, hatte mich aber sofort wieder im Griff und fauchte nur: „Das war keine Antwort.“

Da hat mich das Bürschlein doch wirklich angegrinst und ganz kokett gemeint: „Wenn Sie zu meiner Lesung kommen, sage ich Ihnen welches Stück mir besser geschmeckt hat.“

Gut, da bin ich laut geworden. „Hör mal gut zu, du kleiner Pisser. Ich bin fast doppelt so alt wie du. Wenn du also jemanden zum Spielen suchst, bagger ein paar Teenies an. Und abgesehen davon gehe ich nicht zu Lesungen von Autoren, deren modische Phantasie bei einem schwarzen Rollkragenpullover endet.“

Kurz war es ganz still. Das Bürschlein sah mich traurig an, drehte sich um und verließ das Büro.

Klara wollte etwas erwidern, aber ich habe ihr nach dem ersten „Also das wa…“ das Wort abgeschnitten und geschrieen: „In dem Cupcake war soviel Zucker, dass du morgen einen Pferdearsch haben wirst!“

War das eine Sünde?

22. März

Bin sehr früh mit einem Strauß Blumen ins Büro gekommen. Klara ist immer als Erste da und ich wollte mit ihr allein sein. Ich weiß, sie mag Pfingstrosen. Gott sei Dank kann man die heuer so früh kaufen.

Bat sie um Verzeihung, musste mir aber eine ziemliche Predigt anhören. Dass es nicht angeht, wie ich mich der Belegschaft gegenüber verhalte. Alle wüssten, dass ich gewisse Probleme habe, und würden mich sowieso nur mit Samthandschuhen anfassen, weil ich wegen jedem Dreck entweder explodiere oder in Tränen ausbreche.

Irgendwann müsste ich mich aber entscheiden, wie es weitergehen soll. Wenn ich keine Möglichkeit sehe, meinen Schmerz auf ein, für alle ertragbares Niveau zu reduzieren, soll ich bitte kündigen, weil so könne man nicht weiter machen.

Dann hat sie an den Pfingstrosen gerochen und gemeint, die seien aber besonders schön. Ja und ob ich ernsthaft meine, ihr Hinterteil sei zu groß. „Nein“, war meine spontane Antwort, doch in Wirklichkeit dachte ich mir, dass es in ihrem Fall auf die Vorliebe des Betrachters ankommt.

Ich meine, wenn man auf kleine Popos steht, dann ist ihrer mit Sicherheit zu groß, wenn man es aber, hinten herum, lieber füllig mag – und da sind gewisse Männer ganz eigen – ja dann wird man ihren Popo lieben.

Aber das sagte ich ihr natürlich nicht. „Ja, du hast recht“, murmelte ich, und eben „Nein, dein Hintern ist perfekt.“

Ich wollte mich auf meinen Platz setzen, um wenigstens so zu tun, als würde ich über ihre Worte nachdenken, da kam auch schon das Bürschlein, eingehüllt in eine dicke Winterjacke ins Zimmer.

Um die Sache so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen, bat ich ihn, mit mir kurz in die Teeküche zu gehen.

Wir standen uns in dieser winzigen Küche dicht gegenüber und zum ersten Mal war ich gezwungen, ihn mir genauer anzusehen.

Er ist um eine Spur größer als ich, hat lockige, brünette Haare, einen breiten Mund, ein paar Sommersprossen auf den Wangen und so komische Augenlider, die ihn ein wenig tollpatschig aussehen lassen.

Eigentlich ist er ganz hübsch. Ich stand da, suchte nach einem Satz, als er plötzlich seine Jacke auszog. Unter der Jacke trug er einen rosa Rollkragenpullover.

Er verzog keine Miene. Ich riss die Augen auf und musste mir auf die Zunge beißen, um nicht laut aufzulachen.

Hier ein Gedächtnisprotokoll unserer Unterhaltung: („Gedächtnisprotokoll“ ist ein schönes Wort. Klingt irgendwie nach Objektivität, und ich habe ein gutes Gedächtnis.)

Er (ernst): „Was wollten Sie mir sagen?“

Ich reiß mich wirklich zusammen, atme tief durch. „Also, erstens, also… ich, ich bin nicht doppelt so alt wie du.“

„Wie ‚Sie‘!“

Was ‚wie Sie‘?“

„Wir sind ‚per Sie‘!“

„Ah so? Wirklich?“

Sie sind kaum älter als ich und ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns gegenseitig das Du-Wort angeboten hätten.“

Okay, ich meine, das war nicht unhöflich gemeint oder so. Du… also Sie, machst… machen so einen jugendlichen Eindruck auf…“

Nein, das „Du“ hat da sicher eine andere Bedeutung. Im übrigen glaube ich nicht einmal, dass Sie wissen, wie ich heiße.“

Na klar doch, du bist das Bü… Bü… Bü …der Bernhard.

„Das ist falsch.“

„B… B… Benno.“

„Das ist auch falsch.“

Er starrt mich noch immer recht grimmig an. In mir steigt die Verzweiflung hoch und ich beschließe in die Offensive zu gehen. Ich strecke ihm, soweit das in der Miniküche möglich ist, meine Hand entgegen.

Ich heiße Lisa und es würde mich sehr freuen, wenn du, also wenn Sie, mich auch so nennen würden.“

Er nimmt meine Hand, lächelt mich an.

„Hallo Lisa, ich bin der Wolfgang.“

„Hallo Wolfgang.“

Er lässt meine Hand nicht los. Wir sehen uns an.

„Lisa, haben Sie vielleicht Lust, zu meiner Lesung zu kommen?“

Er lächelt noch immer, aber nicht blöd. Ich sehe seinen rosa Pullover an, schlucke.

Okay Wolfgang, also wenn Sie mir eine Einladung geben, wo da alles drauf steht, so „Wie, Wann, Wo,“ dann…, dann überleg ich es mir.“

Er lässt meine Hand los, sagt: „Gut, ich freu mich.“, dreht sich um, und geht ins Büro.

Ich bleib in der Teeküche stehen, wie ein Vollidiot. „Wolfgang“, „Wolfgang“, natürlich habe ich es gewusst. So blöd bin ich auch wieder nicht. In der Eile ist es mir eben nicht eingefallen.

Muss ich ihn jetzt immer siezen? Irgendetwas hat er, aber was, weiß ich auch nicht.

25. März

Habe zwei anstrengende Tage in diversen Konditoreien hinter mir. Hatte nach dem letzten Debakel die Idee, einfach eine Torte zu kaufen, aber das war mir dann doch zu billig.

Möchte Jennifer und die Erbsünde im ehrlichen Wettstreit besiegen.

Aber man kann sich ja Tipps holen. Ihr wird die Kochkunst ja auch nicht vom heiligen Geist eingehaucht worden sein. Oder?

Bin also in jede Menge Konditoreien gegangen, habe einiges gekostet und wenn es geschmeckt hat, habe ich um das Rezept gebeten. Einige Damen und Herren haben mich angesehen, als hätte ich sie nach ihren sexuellen Eigenheiten gefragt, aber andere waren sehr hilfreich.

Habe jetzt viele Rezepte und einige Kilos mehr auf den Hüften.

Der Strategie zuliebe habe ich mich entschieden, mit ganz großen Waffen anzutreten. Das heißt, ich will etwa kochen, was eigentlich niemand nicht mögen kann. Egal wie kompliziert und wie viele Zutaten ich da heranschaffen muss.

Solange ich es mir irgendwie leisten kann, werde ich es herstellen.

23 Uhr 30. Gut. Es ist entschieden. Es wird ein Frischkäse-Parfait mit einer Pfeffer Karamell-Sauce.

26. März

Vom Rezept her ist es gar nicht so ein Problem. Finde es schmeckt auch ganz ordentlich, aber die Logistik macht Schwierigkeiten.

Die Karamellsauce darf man erst kurz vor dem Verzehr auf das Parfait geben. Ich kann aber nicht die Messe schwänzen und dann mit einem Topf Sauce in der Hand beim Kaffee-Danach auftauchen.

27. März

Denn die da fleischlich sind, die sind fleischlich gesinnt, die aber geistlich sind, die sind geistlich gesinnt. Aber fleischlich gesinnt sein ist der Tod, und geistlich gesinnt sein Leben und Frieden. Denn fleischlich gesinnt sein ist Feindschaft gegen Gott, weil das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht Untertan ist.

Hey, hey, jetzt kenne ich mich wirklich nicht mehr aus. Da gibt es also einen Gott, der alles gemacht hat, uns, das Fleisch und das Frischkäse Parfait, aber wehe wir erfreuen uns daran.

Also ich hab ja keine große Ahnung von Theologie, doch Freund Paulus kommt mir vor wie ein ganz Eifriger, der nicht so recht verstanden hat, worum es geht.

Andererseits, seine Briefe werden ständig zitiert, wogegen meine wahrscheinlich kaum in die Kulturgeschichte eingehen werden.

Egal, dem Pfarrer kann man einfach nicht böse sein. Er strahlt soviel Freude und gute Stimmung aus, dass man sich in seiner Umgebung einfach wohl fühlt.

Wie er mit seinem Fleisch umgeht, ist ja mehr Jennifers Problem. Vor lauter Freude, dass wieder er und nicht der Grünschnabel aus Carolina gepredigt hat, sang ich ganz laut mit.

Dem Pfarrer gefiel es. Er strahlte mich förmlich an.

Dass dieser Sonntagvormittag so ein trauriges Ende nehmen würde, war mir zu dem Zeitpunkt nicht klar. Bin sofort nach dem letzten Lied aufgesprungen und in die Küche gelaufen, um die Sauce für das Parfait anzurühren.

Alles funktionierte nach Plan. Ich stand stolz mit Kochschürze und Topf vor den zehn Tellern mit Parfait. Jedem, der zum Tisch mit den Mehlspeisen kam, erklärte ich, welche Zutaten ihn erwarten würden und das Jesus Christus vom Kreuz gestiegen wäre, hätte man ihm so ein Parfait vor die Nase gehalten.

Ich wartete mit dem Topf in der Hand, bis der letzte „Gast“ die Kirche verlassen hatte. Nur Jennifer war noch in der Küche und wusch die Krümel von dem Teller, auf dem sie ihre Cupcakes – ich kann dieses Wort nicht mehr hören – abgestellt hatte.

Bis zu dem Zeitpunkt hatte niemand den Mut, von meinem Parfait zu kosten. Ich war so wütend, dass ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich losheulen oder laut aufschreien sollte.

Nach einiger Zeit kam Jennifer aus der Küche, stellte sich vor mich hin und meinte: „Well, Darling, was wir tun jetzt?“

Bin mir nicht sicher, ob man das als Beweis für die Nicht-Existenz eines gerechten Gottes ansehen kann, aber Jennifer sank in dem Augenblick nicht mit Schmerz verzerrtem Gesicht und vom Blitz getroffen zu Boden.

Nein, sie nahm sich einen kleinen Löffel, steckte ihn in mein Parfait und kostete. Lächelnd wog sie den Kopf hin und her. „Ein bisschen zuviel Sugar, Darling.“

Ich will die Sache nicht überinterpretieren, aber in ihrem Blick konnte ich ganz genau lesen, wie sehr sie es genoss, diesen Vergleichskampf eindeutig für sich entschieden zu haben.

Bis zu diesem Zeitpunkt wäre ich bereit gewesen, unter welchen Schmerzen auch immer, von dannen zu ziehen, doch da ließ sie plötzlich den Löffel in das Parfait fallen, verschränkte die Arme vor ihrer Brust und fragte mich: „Soll ich helfen, es in die Mistkübel werfen oder willst du es machen alleine?“

Nächstenliebe hin oder her – meine Tabletten hatte ich auch nicht dabei – also nahm ich den Topf mit der Karamellsauce und goss ihn ihr ganz langsam über den Kopf.

Sie starrte mich an, wie das Kaninchen die Schlange, bewegungsunfähig, mit weit aufgerissenen Augen. Ich blieb ganz ruhig und meinte: „Jetzt bist du wirklich süß.“ Dann stellte ich den Topf ab und ging.

28. März

Du sollst keine anderen Götter neben mir haben, Vater und Mutter lieben, nicht töten, stehlen, ehebrechen oder falsches Zeugnis ablegen.

Weit und breit kein Satz von wegen Karamellsauce über das Haupt deines Nächsten gießen. Ehrlich, ich fühle mich gut.

War den ganzen Tag über total aufgekratzt und habe sogar im Büro, quasi öffentlich, gelacht. Klara sah mich jedes Mal an, als würde sie der Sache nicht ganz trauen.

Das Bürschlein – Entschuldigung „Wolfgang“ – hat mich angelächelt, als wären wir ein vertrautes, altes Paar.

Sein Rollkragenpullover war wieder schwarz, habe das aber nicht kommentiert. Gott sei Dank wollte er nicht wissen, ob ich zu seiner Lesung komme. Was soll ich dort?

Wieder daheim hat sich meine Stimmung leicht eingetrübt. Nicht schlimm, weiß nur nicht, was ich am Sonntag tun werde. Soll ich in die Messe gehen oder die ganze Sache vergessen.

Habe einen Folder von der Kirche:

Woran wir glauben: A: Gott liebt dich; B: Du hast gesündigt; C: Tue Buße und glaube an die heilige Schrift; D: Erwähle Christus als deinen Retter.“

A ist gut, C und D in Ansätzen, B stimmt einfach nicht. Ein Gott erschafft die Welt und die Menschen, sagt ihnen aber sofort, sie hätten gesündigt? Das wäre eine Art Generalsünde. Du bist geboren worden, also hast du gesündigt. Nein.

Und was ist mit den Menschen auf so einer Südseeinsel, die noch nie etwas von den amerikanischen Bibelfreaks gehört haben?

Nimmt man diese Christen ernst, dann sind die Menschen auf der Insel Sünder und werden am jüngsten Tag in der Hölle schmoren.

Das macht einfach keinen Sinn und klingt mehr nach dem Kundenbindungsprogramm einer Telefongesellschaft.

Genauso lächerlich ist die Vorstellung, dass alle, die eben an etwas anderes glauben, schlechte Menschen sind.

Nein, wenn es einen Gott gibt, der liebt, dann kann es keine Ausnahmen geben. Ein liebender Gott kann nur alle Menschen lieben. Alles andere wäre eben nicht göttlich.

Der Pfarrer betont jedes Mal, dass seine Kirche sich ausschließlich an der Bibel orientiert. Aber sogar ich weiß, dass die Bibel eine Sammlung von Texten ist.

Menschen haben diese Texte zu einem Buch zusammen gefasst, Menschen mit Wünschen und Hoffnungen, Zielen und Vorlieben.

Warum orientiert sich der Pfarrer nicht mal an seinem Verstand? Den hat er doch auch von Gott.

Okay, das ändert alles nichts daran, dass ich Jennifer die Sauce über den Kopf geschüttet habe.

Ich fühle mich in der Kirche wohl und es würde mir Leid tun, darauf zu verzichten. Klingt ein bisschen unlogisch, ich weiß.

Schön an der Kirche ist, abgesehen von der Singerei, dass sie sich dort mit der Frage nach einem Gott und einem sinnvollen Leben beschäftigen. Vielleicht haben sie ja nicht immer die richtigen Antworten, aber das Bemühen, den guten Vorsatz, kann man ihnen nicht absprechen.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Moment, es klingelt an der Tür.

23:00

Bin sprachlos. Jennifer war da, mit einem großen Strauß Gerbera. Jetzt ist sie weg. Die Blumen sind noch da, lachen mich an, als wären alle meine Überlegungen, betreffend Gott oder die Sünde lächerlich. Die Blumen sind einfach nur wunderschön.

Jennifer hat sich lang und breit bei mir entschuldigt. Ich musste sie bremsen, sonst wäre sie noch vor mir auf die Knie gefallen.

Wie es aussieht, hatte sie Angst, ihr Mann – der Pfarrer mit Orientierung – könnte mich zu attraktiv finden. Ich würde so schön singen, wäre so sexy (Kein Witz! Sie hat wirklich „sexy“ gesagt.) und meine Süßigkeiten wären so verlockend gewesen.

Er hätte auch zu Hause öfter von mir gesprochen und da habe sie plötzlich Angst bekommen. Kurz danach hat sie den anderen Gemeindemitgliedern erzählt, dass ich an einer Durchfallerkrankung leide, weshalb sich niemand getraut hat, etwas von meinen Sachen zu kosten.

Ziemlich perfid. Egal. Ich habe ihr verziehen. Sie hat so traurig ausgesehen und war total panisch, ich könnte ihretwegen nicht mehr in die Kirche kommen.

Habe ihr erklärt, dass ich ihren Mann zwar sympathisch finde, aber mir nie im Leben vorstellen könnte, mit so jemandem ins Bett zu gehen.

Da war sie kurz eingeschnappt. Daraufhin musste ich erklären, dass ich mich schon seit längerem alles andere als „sexy“ fühle.

Vielmehr sei ich es, die sie bewundern würde. Für ihre ausgeglichene Art, ihr Leben mit Mann und Kindern, diese Fröhlichkeit, ihre Gewissheit, dass ein sinnvolles Leben möglich ist.

Deshalb habe ich mich zu diesem dummen Mehlspeisenvergleichskampf hineinreißen lassen. Da war sie wieder beruhigt.

Zum Schluss wollte sie noch mit mir eine Runde beten, aber das habe ich abgelehnt. Mir war mehr nach Preiselbeerkompott.

Zum Abschied drückte ich sie fest an mich und gab ihr eine kleine theologische Spitze mit auf den Weg: „Gott liebt dich, wie du bist.“

Kurz sah sie mich etwas verdutzt an und bat mich dann zum wiederholten Mal, am Sonntag zur Messe zu kommen.

Ich lächelte, antwortete aber nicht. Muss mir das noch überlegen.

Bin müde, esse Preiselbeerkompott und starre nach jedem Löffel die Blumen an. Diese Farben!

1. April

Nachmittag. Habe den ganzen Tag absolut nichts getan und fühle mich großartig. Schon am Morgen lachte die Sonne in mein Fenster und ich mit ihr.

Bin nur herumgelegen, habe in Frauenzeitschriften geblättert.

Die Fotos von den neuen Badeanzügen haben mich abgelenkt. Mein Gott, habe schon seit Ewigkeiten nicht mehr an Badeanzüge gedacht.

Ich gehe nicht gerne ins Schwimmbad und bin keine gute Schwimmerin, andererseits ist ein Bikini eher etwas fürs Auge und das eigene Selbstwertgefühl.

Kurz entschlossen holte ich meine gesammelten Badeanzüge aus dem Schrank und probierte sie an. Dabei wurden mir zwei Dinge klar.

Erstens: ich brauch einen neuen Badeanzug und zweitens muss das so ein Ding sein, das mehr verhüllt als zeigt. Bisher dachte ich ja, dass meine Problemzonen mehr im mentalen Bereich liegen.

Langsam wird es Abend und ich will einfach nicht alleine bleiben. Ich könnte Anna anrufen und fragen, ob sie Lust hat, ins Kino zu gehen. Oder?

2. April

Samstag. Liege allein mit dem Computer im Bett.

Das war nicht die ganze Nacht so.

Komme mir vor, als wäre ich durch eine Tür gegangen, würde in einem neuen Haus stehen und mich leicht verwirrt umsehen. Das neue Haus sieht nicht schlecht aus, aber werde ich mich darin wohl fühlen?

Der Reihe nach: Meinem manischen Schub von gestern folgend, habe ich Anna nicht angerufen. Allein und verwegen wie ein Westernheld bin ich kurz nach 18:00 Uhr vor meiner Haustür gestanden.

Wohin ich gehen sollte, war mir zu dem Zeitpunkt noch nicht klar, aber meine Füße haben mich schlussendlich zu einem trostlosen, kleinen Café in der näheren Umgebung getragen.

Ich blickte durch die Fenster hinein, wollte sofort wieder kehrt machen, aber er hatte mich schon gesehen.

Das konnte man ihm nicht Übel nehmen. Außer ihm und dem Wirt waren genau drei weitere Gäste in dem Lokal. Ablenkung war das Gebot der Stunde. Als er mich sah, wechselte sein Blick von grenzenloser Enttäuschung zu heller Freude. Er tat mir augenblicklich leid.

Das war also das Forum, die Geburtsstätte des Literaten, der Ort, wo Wolfgang seinen Roman zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentieren wollte.

Klaras Worte von der schlechten Zeit für Autoren klangen in meinen Ohren nach wie ein überdimensionaler Gong aus einem chinesischen Film.

Bitte lieber Gott, sollte ich je auf den absurden Gedanken kommen, ein Buch zu schreiben, lass meinen Computer abstürzen, bevor ich den ersten Ausdruck gemacht habe.

Ich betrat das Lokal, Wolfgang schoss auf mich zu, umarmte mich und flüsterte mir leise ins Ohr. „Ich bin so froh, dass du gekommen bist, und bitte, bitte, sag jetzt nichts.“

Ich sah ihn an, schwieg, grinste von Ohr zu Ohr und ließ mich von ihm zu einem Platz in der „ersten Reihe“ führen.

Eine Minute später hatte ich ein Glas und eine Flasche Rotwein in der Hand. (O-Ton Wolfgang: „Nimm, da. Das ist mein Lohn für den heutigen Abend.“)

Ich hatte beides kaum auf dem kleinen Tisch abgestellt, als Wolfgang Platz nahm und das Publikum begrüßte.

Ahja, das Publikum: Ergänzend zu meiner ersten groben Schätzung von genau drei Gästen muss noch gesagt werden, das zwei dieser Gäste schwer betrunken an der Bar lehnten und der dritte Gast, ein offensichtlich obdachloser Literaturfreund, sein Kinn auf der Brust fixiert hatte, ich also nicht sagen kann, ob seine Augen offen waren.

Immerhin: die Betrunkenen quittierten Wolfgangs Begrüßung mit Applaus, wobei einer von seinem Barhocker auf den Boden rutschte.

Ohne weitere einleitende Worte begann Wolfgang zu lesen. Schnell und hastig verschluckte er die ersten Sätze, fand erst nach ein paar Minuten einen angemessenen Rhythmus.

An den Inhalt kann ich mich nicht genau erinnern. Es ging da um eine verbitterte alte Frau, die mit ihrem Pudel den Mord an einem Zirkusclown aufklärt. Teilweise muss es lustig gewesen sein, denn ich lachte mehrmals.

Hauptsächlich habe ich aber ihn angestarrt, wie er da saß, mit seinem abgewetzten Sakko über dem unvermeidlichen Rollkragenpullover und langsam aber sicher aufblühte.

Sein ganze Körper schien zu beben und er nicht nur Worte, sondern auch seltsame Schwingungen und Wellen auszusenden.

Und ich war ganz klar sein Empfänger, obwohl das restliche Publikum ebenfalls beeindruckt gewesen sein muss.

Hinter mir wurde es sehr still.

Ob all die Signale, die ich da empfangen habe, wirklich im Text standen, bezweifle ich. Die Wellenlänge änderte sich nämlich eindeutig, als nach zwanzig Minuten eine Gruppe von rund 12 Personen das Lokal betrat.

Es waren Freunde und Verwandte von Wolfgang, die sich auf der Suche nach dem Café verlaufen hatten. („Ehrlich Wolfi, wir haben’s nicht g´funden. Ned bös sein.“)

Man sah ihm die Erleichterung an und mir ging es nicht anders.

Es ist keine angenehme Vorstellung von jemandem mit Wellen beworfen zu werden, der sozial isoliert ist und keine Freunde hat, die ihn vor einer literarischen Demütigung beschützen.

Aber, wie gesagt, die Art der Wellen änderte sich. Bis zu dem Punkt, an dem wir zusammen das Lokal verließen.

Aus irgendeinem Grund hielt er meinen Arm fest, dabei wankte ich keinen Millimeter, hatte auch nur einen kleinen Schluck Rotwein getrunken. Seine Bezahlung war ungenießbar.

Nach der Lesung waren wir noch mit seinen Freunden beisammen gesessen. Als ich aber, mehr aus Verlegenheit, einmal auf die Uhr sah, sprang er auf und meinte, er müsse mich nach Hause bringen.

Prinzipiell brauche ich niemanden, der mich nach Hause bringt, aber hier wollte ich nicht bleiben. Und eben diese Wellen waren wieder da, genau zu dem Zeitpunkt, als die Tür des Lokals sich hinter uns schloss, er meinen Arm hielt, mich zu sich drehte und meinen Mund küsste.

Nach vielleicht zwei Sekunden löste er sich, strahlte mich an und meinte: „Danke. Ohne dich wäre ich heute gestorben. Komm gehen wir was Essen, ich bin so hungrig.“

Etwas verwirrt, antwortete ich: „Sind wir jetzt per „Du““? Zugegeben, das war nicht unbedingt die intelligenteste Antwort.

Er lachte und meinte: „Sehr geehrte Frau Lisa Neustifter, würden Sie mir die Ehre erweisen, Sie mit „Du“ ansprechen zu dürfen?“

„Wieso hast du mich geküsst?“

„Ich… ich…. es….“

(sehr streng) Wer hat dir das erlaubt?

(betretenes Schweigen, dann:) „Es tut mir leid. Das war zu euphorisch. Verzeihst du mir?“

„Nein.“

„Heißt das, du willst jetzt nicht mit mir Essen gehen?“

„Nein.“

In dem Augenblick hatte sich die Situation wieder umgedreht. Er war verwirrt und ich die Herrin über das Geschehen.

Er setzte seinen traurigen Literatenblick auf und stammelte: „Also, ich, was…?“

Ich nahm seinen Arm und lenkte die Schritte Richtung Taxistand.

„Ich möchte in ein Lokal mit vegetarischer Küche und anständigem Rotwein.“

Gegen ein Uhr nachts gab uns der sonst so freundlich lächelnde Chinese zu verstehen, dass wir sein Lokal augenblicklich verlassen sollten.

Wir waren die letzten Gäste. Vier Stunden lang hatten wir geredet, gelacht, gegessen, getrunken.

Als wir das Lokal verließen, wusste Wolfgang einiges über mein Leben und alles über mein Kirchendilemma.

Ich hingegen war versorgt mit Informationen betreffend seine diversen Beziehungskrisen und seine 10! Jahre alte Tochter.

Der Mann ist 28 und hat eine 10 Jahre alte Tochter! Was bitte lernen die Kinder heutzutage in der Schule?

Nach dem Chinesen fuhren wir mit dem Taxi zu mir. Vor meiner Haustür verabschiedete er sich artig.

Als er wieder ins Taxi steigen wollte, hielt ich ihn fest und küsste ihn.

Gut. Wenn du willst, können wir jetzt zu mir hinauf gehen. Wir legen uns auf mein Bett. Du darfst mich küssen und meine Brüste streicheln. Sollte deine Hand aber in die Nähe meiner Hose wandern, überlebst du den Abend nicht.“

Wenig später lagen wir in meinem Bett und Wolfgang hielt sich penibel an die Spielregeln. Er küsst sehr gut und hat herrlich sanfte Hände.

Gegen drei in der Früh musste ich kurz ins Bad. Vor dem Spiegel dachte ich ernsthaft daran, die Zonengrenze für seine Hände etwas zu lockern, doch als ich wieder ins Schlafzimmer kam, war er eingeschlafen. Diese Literaten.

Ich schlief kaum und um sechs in der Früh läutete mein Wecker, weil ich vergessen hatte ihn abzustellen.

Es war kein Schock, ihn so neben mir liegen zusehen, eben vielmehr wie dieser Gang durch eine Tür in ein neues Haus.

Ich weckte ihn auf, meinte bestimmt aber höflich, dass er jetzt gehen müsse. Er lächelte mich an, stand auf und tat wie befohlen.

Genauso war es. Heute ist Samstag. Ich muss einkaufen.

Nachmittag.

Wolfgang hat mir einen Zettel mit einem Rezept für Kekse hinterlassen. Außerdem stand da noch drauf, dass er am Dienstag mit mir Essen gehen will und bereit ist, jede nur denkbare Auflage zu akzeptieren.

Jetzt koche ich einmal dieses Rezept nach.

3. April

Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.

Nein, ich war nicht in der Kirche. Ich tue, was all die Christen machen, ich blättere in der Bibel und suche heraus, was mir gefällt.

Wie ich die Kekse, gebacken nach Wolfgangs Rezept, aus dem Ofen geholt habe, war ich noch felsenfest davon überzeugt, in die Kirche gehen zu müssen.

Die Kekse waren großartig. Eine simple Sache mit ein bisschen Schokolade, genau das Richtige zum Kaffee vor dem sonntäglichen Mittagessen.

Mir schmeckten sie so gut, dass ich die Hälfte davon gleich vom Backblech weg aufgegessen habe. Der Rest schien mir nicht ausreichend, um in der Kirche damit punkten zu können.

Aber das war nur ein Grund.

Ich fühlte mich leicht und froh. Dieser Zustand ist neu und ich war so dankbar. Es drängte mich, diese Dankbarkeit auch zu zeigen, diese leichte Freude zu verteilen, etwas zurückzugeben.

Ich bin zu dir auf den Friedhof gegangen und dort, vier Reihen weiter, bot sich die Möglichkeit, Gutes zu tun.

Ein Mann, so um die 40zig, stand mit einem verzweifelt unsicheren Gesichtsausdruck vor einem offenen Grab. Auf dem Grabstein stand: Familie Schuster.

Kurz zuvor hatte er noch mit einer jungen Frau gesprochen und seinen Blick kaum von ihrer Oberweite lösen können.

Letztere hat auch mich beeindruckt. Muss ein Vermögen gekostet haben. Als sie ging, blieb er allein zurück.

In dem Grab lag wohl seine Mutter oder sein Vater. Das letzte Jahr über war ich so oft auf dem Friedhof, habe so viele Begräbnisse beobachtet, dass ich die Trauernden mittlerweile sehr gut einschätzen kann.

Wenn die Eltern sterben, ist die Stimmung bei den erwachsenen Kindern oft nicht eindeutig. Das Ende hinterlässt meist mehr Fragen als Antworten.

Zuerst war ich nervös, schließlich kannte ich weder den Mann noch den Toten, doch die Sache konnte eigentlich nicht schief gehen.

Ich wusste, nur eine eindeutige Antwort würde diesen Mann befreien, also habe ich sie ihm gegeben. Es ist schon paradox: Vieles im Leben ist so kompliziert und anderes wieder so einfach.

Meine gute Stimmung hat sich den ganzen Tag über gehalten. Ganz erstaunt stellte ich fest, dass ich zweimal hintereinander vergessen habe, meine Tabletten in das Preiselbeerkompott zu geben. Offensichtlich komme ich auch ohne Medikamente zurecht. Kaum hatte ich das begriffen, schmeckte mir das Preiselbeerkompott nicht mehr.

Das ist schade, weil sie nämlich im Supermarkt wieder eine Lieferung bekommen haben, und die Kassiererin mich ganz stolz darauf angesprochen hat.

Brauche ich keine Tabletten und kein Preiselbeerkompott, muss ich auch dieses Tagebuch nicht weiter schreiben.

Ehrlich, ich schreibe nicht gern. Es wird sowieso viel zu viel geschrieben. Wolfgang gegenüber sollte ich das vielleicht nicht erwähnen. So ein netter Mann. (Steht da wirklich „Mann“?)

Ich koste noch einmal seine Kekse und, wenn sie mir wieder so gut schmecken, schlafe ich vielleicht mit ihm.

Apropos: im wahrsten Sinne des Wortes habe ich sein Rollkragenpullovergeheimnis gelüftet. Wie wir auf dem Bett lagen, zog ich ihm dieses schwarze Ding aus.

Ich konnte es einfach nicht mehr sehen. Er wehrte sich ein bisschen und als der Pullover am Boden lag – wo er auch hingehört – sah ich diese lange Narbe, die sich von seiner linken Brustwarze quer über die Brust bis knapp unter sein rechtes Ohr zieht.

Kurz starrte er mich an, erwartete fast ängstlich meine Reaktion. Ich küsste jeden Millimeter der Narbe und, als ich bei seinem Ohr ankam, lächelte er so dankbar, dass es mir fast weh tat.

Übrigens einen kleinen Schock gab es doch an dem Morgen, an dem ich neben ihm erwachte. Noch in der Phase zwischen Traum und vollständigem Erwachen fiel mir dein Cruella De Vil-Versprechen ein.

Ich drehte mich schnell zu Wolfgang. Einerseits war ich erleichtert, andererseits ein wenig enttäuscht. Neben Cruella aufzuwachen, hätte mich in dem Fall auch glücklich gemacht.

So, ich hör auf. Meine schriftstellerische Karriere endet mit diesem Tag.

Ich danke den amerikanischen Bibelfreaks, dass sie mir einen Blick auf ihren Glauben erlaubt haben, sehe die positive kulinarische Seite meines Konflikts mit Jennifer, aber schreiben muss ich nicht mehr darüber.

Eins noch: Ich war heute bei deinen Eltern. Vom Friedhof aus habe ich sie angerufen und gefragt, ob ich vorbei kommen darf.

Habe mich für mein schreckliches Verhalten beim Begräbnis entschuldigt und ihnen gesagt, wie blöd es von mir war, nicht auch ihren Schmerz zu bedenken.

Wir sind alle drei im Wohnzimmer gesessen, haben uns an den Händen gehalten und geweint.

Du weißt ja, wie schwer mir der Kontakt mit deinen Eltern fällt. Zum ersten Mal habe ich mich ihnen nahe gefühlt.

Sie vermissen dich so. Dein Vater pflegt dein Grab wie einen Garten und deine Mutter wechselt noch immer einmal pro Woche die Bettwäsche in deinem Zimmer.

Sie hat zwar behauptet, das wäre das neue Gästezimmer, doch insgeheim hofft sie, dass du dich, auch nach deinem Tod, von mir scheiden lässt und wieder bei ihnen einziehst.

Und ich? Bin ich jetzt geheilt? Nein, ich werde nie wieder so, wie ich es war, mit dir an meiner Seite.

Erst mit dir bin ich zu einem ganzen Menschen geworden, erst durch dich habe ich gemerkt, wie glücklich ich sein kann. Ich werde dich immer lieben. Ausnahmslos, bedingungslos, ewig.

PS: Heute auf einem der Gräber den Namen „Konrad Maulbeer“ entdeckt. Das war doch dieser absurde Namen, den Franz seinem Romanhelden geben wollte. Musste ihn sofort angerufen. Haben beide sehr gelacht.

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Kapitel 10

Das ist total unfair“, jammerte Benni und betrachtete Peters Hand.

Der Maier-Opa hatte beiden Kindern jeweils einen Euro gegeben, damit sie diesen in einen Kaugummiautomaten vor dem Gasthaus werfen konnten.

Im Gasthaus war der Leichenschmaus bereits in vollem Gang und die Stimmung, wie üblich bei so einer Gelegenheit, sehr ausgelassen. Nur der Maier-Opa machte sich Sorgen, weil sein Schwiegersohn Florian noch immer nicht erschienen war, die Gäste aber bereits die Nachspeise bestellten.

Die beiden Kinder konnte man nicht so lange ruhig auf ihren Sitzen halten, also hatte der Opa ihnen etwas Geld gegeben, damit sie den Automaten vor dem Lokal füttern konnten.

Peter hatte seinen Euro als erster eingeworfen und hielt stolz sechs große Kaugummis, drei Süße, drei Saure in seiner Hand.

Bennis Münze war nur mit zwei Kaugummis belohnt worden. „Du weißt, eh, dass das echt unfair ist.“

Peter sah seinen Freund an, überlegte schnell.

„Hier, da hast du zwei von meinen, dann haben wir beide vier.“

ENDE