Neid

Roman in 10 Kapiteln mit wiederkehrendem Personal

von Ivo Schneider

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Für Vincent

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Kapitel 1

Von weitem hörten sie die Lokomotive der Liliputbahn. Parallel zur Prater Hauptallee, zwischen den alten Kastanienbäumen und dem Auwald, rumpelte sie auf den Schienen entlang. Der Zug war eine Attraktion für Kinder, aber ab und zu sah man auch erwachsene Passagiere ohne Begleitung, die auf die vorbeiziehenden Bäume starrten, als wären sie Mitglieder einer Wiener Schule des Zen-Buddhismus.

Peter sah Papa auffordernd an. Florian Schuster verstand seinen achtjährigen Sohn sofort, reagierte aber für Peter unerwartet. Er hob die dreijährige Hanna hoch und fragte sie: „Will mein kleines Engelchen Liliputbahn fahren?“

Peter runzelte die Stirn. Engelchen wollte. Zu dritt überquerten sie die Allee und Papa kaufte die Fahrscheine.

Peter liebte den Zug, das Rattern der Räder, das Pfeifen der Lokomotive, den Fahrtwind. Klar, dass Papa ihn nicht fragen musste, doch warum sollte Hanna mitkommen?

Liliputbahnfahren war eine der wenigen Aktivitäten, die Peter bis dahin ausschließlich mit Papa unternommen hatte. Florian Schuster schien die Fahrt mit seinem Sohn genauso zu genießen wie umgekehrt. 14 Minuten, die beide, scheinbar schwebend unter dem grünen Blätterdach, ohne Streit verbrachten. Einmal im Kreis fühlte sich Peter eins mit Papa. So zusammengeschweißt in ihrem Rausch waren sie, dass sie sich während der Fahrt nie mit anderen Personen unterhielten, ja schon bei der Platzwahl darauf achteten, nicht durch Fremde gestört zu werden.

Christina Schuster, sonst die Seele, die feste Burg, der Schutzschild vor der Welt, hatte nie den Reiz dieser 14 Minuten verstanden und wartete immer am Spielplatz, bis Ehemann und Sohn, glücklich strahlend, zurück kamen.

In den warmen Monaten war man oft im Prater. Lieber hätte Florian Schuster die freie Zeit im eigenen Haus mit Garten verbracht, doch allein mit seinen Einnahmen aus dem Ingenieursbüro, welches Brückenprüfungen durchführte, würden er nie den geforderten Betrag aufbringen. Erst wenn Christina, die technische Chemie studiert hatte, wieder eine volle Stelle bekam, konnte man das überlegen. Bis dahin genoss die Familie das weitläufige Grün des Praters.

Für Peter war die Fahrt mit der Liliputbahn nicht nur eine reine Vater-Sohn Aktivität sondern, bis zu einem gewissen Grad, auch die Antwort auf die Frage, warum man überhaupt einen Vater benötigte.

Hannas Geburt hatte keine große Erschütterung in Peters Leben verursacht. Einzig Mamas mangelnde Aufmerksamkeit war ein Wermutstropfen. Peter redete sich ein, dass dies eine vorübergehende Erscheinung war und solange überall in der Wohnung nur Fotos von ihm an der Wand hingen, keine Gefahr für seinen Status als Christinas Lieblingskind bestand. Mama verbracht zwar viel Zeit mit Hanna, aber an ihrem Gesicht war klar abzulesen, dass sie diese Zeit nicht wirklich genoss.

Peters Taktik, in dieser ersten Zeit besonders nett zu Christina zu sein, ging voll auf und er war sich sicher, dass Mama ihren Entschluss, ein zweites Kind zu bekommen, bereits bitter bereute. Nichtsdestotrotz, der Entschluss konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden, obwohl Peter oft überlegte, warum es nicht möglich war, Hanna zu verschenken. Florian Schuster hatte oft erklärt, dass Kinder ein großes Geschenk sind und andere Erwachsene sich dafür dumm und dämlich zahlen würden.

Aber Geschenke sind doch gratis?“, hatte Peter gefragt, doch Florian antwortete: „Nichts im Leben ist gratis, mein Sohn!“

Eine erste Ahnung, dass Papa Recht haben könnte, überkam Peter auf einem dreistündigen Marsch über das Schneebergmassiv. Da Mama ständig müde war, musste Peter mit Papa viel gemeinsam unternehmen. Wandern, Fahrradfahren, Drachensteigen, alles Aktivitäten, die Peter weit weniger schätzte als Chemiekastenspielen mit Mama, Legobauen mit Mama, oder Mickey-Maus-Schauen mit Mama. Christina war aber müde, musste sich ständig ausruhen, weil Hanna nie zur gleichen Zeit einschlief. Lärm in der Wohnung musste vermieden werden, also wurde Papa in die Natur geschickt. Peter verstand das vollkommen und hätte, in aller Stille, das Wochenende mit dem Gameboy verbracht. Das wiederum wollte Florian Schuster nicht und deshalb musste Peter mitkommen.

Hoch oben, auf dem langem Marsch zwischen Latschen und Felsen, wo der Wind einem ständig ins Gesicht blies, wurde Peter klar, dass Hanna wirklich nicht gratis war und er einen Teil des Preises in Form von Frischluft-Aktivitäten zu bezahlen hatte.

Abgesehen von dem Umstand, dass Peter mehr Zeit mit Papa verbringen musste, hatte Hannas Geburt das Verhältnis zwischen Florian und seinem Sohn kaum beeinflusst. Papa war da, war ein Teil des Haushaltes, wie eben ein Bett, ein Fernseher oder das Sofa. Diese besondere Übereinstimmung zwischen Vater und Sohn, diese magischen Momente waren ausschließlich auf die Fahrten mit der Liliputbahn beschränkt. Dass Papa Hanna in den Schlaf sang, sie fütterte, sie wickelte, ihr ins Ohr flüsterte, ließ Peter kalt. Vielmehr freute es ihn, wenn Papa mit Hanna spazieren gehen musste und Mamas Aufmerksamkeit wieder ganz auf Peter konzentriert war. Solange er Mama hatte, konnte sich Hanna Papa nehmen, mit ihm machen, was sie wollte.

Oft hatte sich Peter im ersten Lebensjahr seiner Schwester über den Rand der Krippe gebeugt und ihr den Handel, den Geschwisterdeal, erklärt.

Ich hab die Mama und du bekommst den Papa, okay?“ Hanna hatte jedes Mal gelächelt und Peter dies als eindeutige Zustimmung gedeutet. Ausdrücklich ausgenommen von diesem Geschäft waren einzig die Liliputbahnfahrten mit Papa. Peter hatte Hanna gegenüber öfters darauf hingewiesen und ihr im Tausch dafür sein Fahrrad angeboten.

Wieso konnte sich Hanna jetzt, nur zwei Jahre später, nicht mehr an ihre Zustimmung zu diesem Geschäft erinnern?

Peters Gesicht entspannte sich, als die Diesellok um die Ecke bog und langsam näher kam. Wie befohlen stand er auf, nahm die Hand der kleinen Schwester, während Florian mit dem Kinderwagen an den Rand des Bahnsteigs ging.

Die blaue Diesellokomotive sah wunderschön aus, wie sie, die Waggons hinter sich herziehend, in die Station einfuhr. Gleichmäßiges Schweben durch die Landschaft, eins werden mit dem satten Grün der Bäume, ohne Lärm oder Geruchsbelästigung, das war das Ziel.

Der Zug hielt. Papa erspähte einen leeren Waggon, lief hin, deutete den Kindern nachzukommen und verstaute den Kinderwagen. Peter wollte Hanna an der Hand zu dem leeren Waggon führen, doch Hanna blieb einfach stehen. Peter zog an Hannas Hand und meinte enthusiastisch: „Komm Hanni, schnell, sonst fährt der Zug davon.“

Hanna blieb einfach stehen, sah den Zug böse an und schüttelte ihren dunkelbraunen Haarschopf. Papa deutete den Kindern, sich zu beeilen. Peter zog heftiger an der Hand der Schwester. Vergebens. Hanna rührte sich keinen Meter, bekam einen Gesichtsausdruck, der nichts Gutes erahnen ließ.

„Hanni, bitte, der Zug fährt weg!“

„Nein!“, war alles was Peter zu hören bekam. Wertvolle Sekunden vergingen. Blitzschnell musste sich Peter etwas einfallen lassen und entschied sich, Mamas bewährte Verhandlungsstrategie anzuwenden.

„Du musst nicht, wenn du nicht willst. Dann bleibst du einfach alleine hier und ich fahre mit Papa.“

Der Satz wirkte, obwohl anders, als es sich Peter erhofft hatte. Hannas Gesicht verzog sich zu einer wilden Grimasse und kurz darauf schossen ihr Tränen fast waagrecht aus den Augen.

„Kein Dampfzug!“, quoll es aus ihrem Mund. Peter wurde hektisch, versuchte die kleine Schwester zu beruhigen.

„Nein, das ist eine Diesellok. Die ist viel besser als der blöde, alte Dampfzug.“

Zu spät. Hannas Gesicht war bereits tränenüberströmt. Papa deutete dem Lokführer zu warten und lief zu seinen Kindern. Er hob Hanna hoch. Die Grimasse, die ihr Gesicht entstellt hatte, verschwand, aber die Tränen rund um die großen, braunen Augen, die feuchten, langen Wimpern, waren geblieben und jeder Filmstar hätte gerne so einen Gesichtsausdruck im Repertoire gehabt.

„Was ist, mein Engel“, fragte Florian ehrlich gerührt.

Vollkommen verständlich und gar nicht in ihrer sonst üblichen Babysprache, meinte Hanna: „Ich will mit dem Dampfzug fahren.“

Der Schaffner, mit der Pfeife abfahrtsbereit zwischen den Lippen, blickte mürrisch zu ihnen hinüber. Papa kam unter Druck. Schnell wanderte sein Blick zwischen dem strengen Gesichtsausdruck Peters und den Tränen seiner Tochter hin und her. Peter spürte in welchem moralischen Dilemma sich Papa befand, zweifelte aber keinen Augenblick daran, dass er die richtige Entscheidung treffen würde. Egal wie sehr Hannas Tränen auch flossen, die Liliputbahnfahrt war ihre gemeinsame Leidenschaft und vor ewigen Zeiten, war man übereingekommen, dass die Diesellok der Dampflok weit überlegen war. Abgesehen von den technischen Vorteilen, rauchte und stank sie nicht. Rein optisch war die Dampflok natürlich imposanter, aber auf der Fahrt, im Waggon, sah man die Lok sowieso kaum, hatte aber, im Fall der Dampflok, immer mit den schwarzen Rauchschwaden zu kämpfen. Die Dampflok war etwas für Anfänger und wahre Könner, echte Genießer, fuhren ausschließlich mit der Diesellok.

Papa, wir müssen einsteigen“, meinte Peter entschlossen. Papa sah ihn an, schien wieder Mut zu fassen, da überkam Hanna plötzlich ein neuer Tränenschwall und sie spielte, wie von Peter befürchtet, geschickt ihre zweite große Trumpfkarte aus. Plötzlich wurde ihre Stimme von Seufzerschüben erfasst, die auch das kürzeste Wort in kleine, abgrundtief traurige Teile zerhackten.

„Pahahahpa, ihihich, wiwiwiwill, mihihit, dehehr Dadampflok fahren.“

Nicht ohne Bewunderung starrte Peter seine Schwester an. Sie hatte das Einsaugen bzw. Ausstoßen von kleinen Luftmengen perfektioniert. Ein unbeteiligter Zuseher musste annehmen, sie leide an akuter Atemnot und das Gewähren dieses Wunsches sei die letzte Möglichkeit das Kind, einmal noch, vor dem unabwendbaren Ende, glücklich zu machen.

Erst als der Zug hinter einer Baumgruppe verschwand, begriff Peter vollständig, was eben geschehen war. Wieder saßen die drei auf der Bank an der Haltestelle und warteten, doch die Stimmung hatte sich grundlegend verändert. Peter vermied jeden Blickkontakt mit Papa. Hanna, die in der Mitte saß, bemerkte von all dem nichts, grinste von Ohr zu Ohr und machte immer wieder den Ton der Dampflokomotive nach.

Wie konnte er nur?“, dachte Peter. Papa musste Hannas Ausbruch doch durchschaut haben, wusste, dass sie sich ebenso schnell beruhigt hätte, wären sie eingestiegen.

Peter starrte auf die Gleise, fragte sich, wie es möglich war, dass das eingeübte Gejammer seiner Schwester eine innige Übereinstimmung zwischen ihm und Papa binnen Sekunden aus der Welt schaffen konnte.

Er liebt sie mehr als mich. Davon war Peter jetzt überzeugt. Im Grunde entsprach das ja nur der Abmachung, die er mit Hanna getroffen hatte, doch sie hätte wissen müssen, dass es diese eine Ausnahme von der Regel gab.

Sie hatte sich nicht an die Abmachung gehalten. War damit der Deal als Ganzes in Gefahr? Würde sie jetzt versuchen auch Mamas Liebe für sich zu reklamieren. Konnte ihre gespielte Atemnot das starke Band zwischen ihm und Mama gefährden?

Peter erschrak, schüttelte sich. Der Prozess war vielleicht schon im Gange und er hatte es nur noch nicht begriffen. Aber sicher, das Klo! Die Bilder auf dem Klo waren ein eindeutiger Beweis. Das eine Foto, das ihn zweijährig, auf dem blauen Topf sitzend, zeigte, es war durch eines mit Hannas Abbild ersetzt worden. Das Verhältnis der Klobilder stand zwar noch immer fünf zu eins für Peter, aber dieses leise Vorrücken der kleinen Schwester war nur ein erstes Signal, zumal Mama für die Bilder an den Wänden zuständig war. Sie hatte das Foto ersetzt, und jetzt mussten alle, die im Stehen pinkelten, in das grinsende Gesicht der Atemnot-Schwester starren. Aber das war noch lange nicht alles. Je länger Peter darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm der Prozess, der mit Hannas Geburt begonnen hatte.

Sie war nicht nur einfach da, eine Person mehr im Haushalt, sondern sie beanspruchte Dinge, Gefühle, Territorien, die sein Hoheitsgebiet waren. Bis zu einem gewissen Grad hatte er sich mit ihrer Existenz abgefunden, war bereit gewesen, auch ihr Raum zuzugestehen. Dass die Dinge aber so aus der Spur laufen würden, hatte er nicht erwartet. Mit ihren großen Mandelaugen, dem Schluchzen, dem Ringen nach Luft versuchte sie ihn zu überrunden und hatte offensichtlich Erfolg. So unfair, dachte Peter. Er hatte nie solche Tricks, diese einstudierten Hilflosigkeiten nötig gehabt. Seine schiere Existenz war Grund genug für unteilbare Zuneigung gewesen.

Die Zukunft sah alles andere als rosig aus. Würden Hannas lange Wimpern ihn eines Tages aus dem Haus fächern? Wie sollte er sich dagegen wehren? Er hatte kein herzzerreißendes Schluchzen auf Lager, kein Mitleid abnötigendes Gebrechen. Ganz im Gegenteil: er wuchs laut Lehrbuch, war unauffällig in der Schule, liebenswürdig zu jedermann. Er hatte immer funktioniert, alles ohne Schwierigkeiten erlernt, jeden Erziehungswunsch erfüllt. Er schlief im eigenen Bett, hing seine Kleider auf, wusch sich mehrmals pro Tag die Hände und aß, was Mama ihm vorsetzte. Ich bin das perfekte Kind, dachte Peter, und bin Hannas Mitleidsattacken wehrlos ausgeliefert.

Es war wie bei den beiden Meerschweinchen, die er zu seinem dritten Geburtstag bekommen hatte. Das Kleinere hatte ständig Probleme, fraß nicht ordentlich, wurde krank und erhielt fast die ganze Aufmerksamkeit. Das große Schwein aber war einfach da, blieb gesund und wurde kaum gestreichelt. Nachdem das kleine Meerschwein vom Tierarzt eingeschläfert worden war – Papa hatte sich damals furchtbar über die Kosten beschwert – wurde das gesunde Schwein verschenkt. Das gute Schwein hatte nichts getan, war ein problemloses Schwein gewesen und wurde als Dank dafür mit Verbannung bestraft.

Peter sah seine Schwester an und zog nüchtern die Schlussfolgerung aus all den Gedanken, die ihm durch den Kopf gegangen waren.

„Wer funktioniert, hat verloren.“

Wie bitte?“ Florian sah Peter erstaunt an.

„Nichts.“

Sie hatte Fähigkeiten, kleine Tricks, die ihm nicht zur Verfügung standen, denen er hilflos ausgeliefert war. Was auch immer Mama und Papa zu bieten hatten, sie würde mehr davon bekommen, würde ihn, der bis dahin ein beispielhaftes Kinderleben geführt hatte, immer ausstechen.

Von weitem hörten sie einen lauten Pfiff. In wenigen Minuten musste die Dampflokomotive vor ihnen halten. Hanna schrie hell auf, deutete in die Richtung, aus der der Pfiff zu hören war. Jeden Augenblick würde die Liliputbahn um die Kurve biegen und entlang der Allee auf die Haltestelle zufahren. Zu dritt würden sie einsteigen, und ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als dies in aller Stille zu erdulden. Die Liliputbahn war der Anfang einer höchst ungewissen Zukunft, wenn er nicht jetzt und für alle sichtbar ein Zeichen setzte, der Schwester, ihrer Atemnot und dem Wimpernschlag Einhalt gebot.

Die Lokomotive bog um die Kurve, fuhr gerade auf die Haltestelle zu. Der Lokführer betätigte wieder das Signal, bevor der Zug die breite Straße kreuzte. Meter um Meter schmolz die Entfernung zwischen Lok und Station.

Hanna konnte sich vor Aufregung nicht mehr auf der Bank halten, sprang auf, riss die Hände in die Höhe, wie ein siegreicher Hundertmeter-Läufer. Papa fasste sie schnell am Arm, befürchtete, sie würde vor Begeisterung auf das Gleis springen.

Gut, so sei es denn, überlegte Peter. Jetzt oder nie und eine bessere Variante, eine feinere Lösung, wollte ihm in der Eile nicht einfallen. Die Holzhammer-Methode, auch so ein Begriff, den er von Papa aufgeschnappt hatte und den er erst jetzt zu verstehen begann, fiel ihm ein, aber einen anderen Ausweg, als eben diese Keule zu schwingen, sah er nicht. Doch der Schlag würde sitzen, die Fahrt mit der Liliputbahn augenblicklich verhindern. Mama und Papa würden danach tagelang diskutieren, Überlegungen anstellen, ihn anders ansehen, vorsichtig mit ihm umgehen. Die Nachricht würde schnell durchsickern und über kurz oder lang auch bis zum Schulpsychologen vordringen. Der würde dann Mama vorladen und eindringliche Gespräche mit ihr führen. Ohne Zweifel würde sie die eine oder andere Träne vergießen, sich vor dem Einschlafen fragen, was sie wohl falsch gemacht habe. Außerhalb der Familie würde dieser Schritt keinen großen Beifall finden, soviel wusste Peter aus den Erzählungen eines Klassenkameraden, dem ähnliches widerfahren war. In der Klasse hatte dieser Achtjährige dadurch einiges an Prestige eingebüßt, wurde manchmal Opfer diverser Scherze, aber seine Mutter behandelte ihn seitdem mit größter Behutsamkeit. Wenn andere Kinder erzählten, wie sie unter der Bevorzugung der Geschwister zu leiden hatten, lächelte dieser Kollege nur.

So unangenehm diese Variante auch war, hatte sie doch den Vorteil, dass schon wenige Wiederholungen ein große und vor allem lang anhaltende Wirkung erzielen konnten. Sie war dem Wimpernschlag der Schwester um eine subtile Größe überlegen und forderte dazu heraus, tiefgründige psychologische Überlegungen anzustellen. Damit äußerte man nicht einfach einen Wunsch oder zwang seine Umwelt, auf die eigenen Bedürfnisse einzuschwenken, sondern demonstrierte eine tiefgründige, innere Verletzung. Peter war überzeugt, dass die Holzhammer-Methode jede liebende Mutter in Panik versetzen musste. Den Status des netten, pflegeleichten Kindes würde er aber mit einem Schlag verlieren. Zeit, zu überlegen, welche Nachteile sich daraus langfristig ergeben konnten, hatte Peter nicht.

Die Dampflokomotive überquerte gemächlich die breite Straße, war noch 20 Meter von dem Bahnsteig entfernt, als Peter die Augen schloss, sich entspannte und vorstellte, an einem kalten Winterabend unter der Dusche zu stehen.

Zuerst kam es nur zögerlich, doch bald wurde der Fleck auf Peters dunkelblauer Hose immer größer. Warm und feucht floss der Urin seinen rechten Schenkel entlang, bahnte sich einen Weg durch die Hose auf die Bank.

Die Lokomotive hielt pfauchend vor der begeisterten Schwester. Papa war schon aufgestanden, als Peter ihn mit vorwurfsvollem Blick und gedämpfter Stimme zurückhielt.

„Papa, ich hab mir in die Hose gemacht.“

Florian sah Peter mit einer Mischung aus Erstaunen und Bestürzung an. Während Hanna vor Wut schrie, setzte er sich wieder auf die Bank, starrte, noch Minuten nachdem der Zug die Station verlassen hatte, fassungslos auf Peters Hose.

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Kapitel 2

Bernadette gab Horst einen Kuss und strich über seine Wange. Kurz hielt er ihre Hand und schloss die Augen. Sanft löste sie sich, griff nach dem Bademantel und stand auf. Als sie die Badezimmertür erreicht hatte, drehte sie sich kurz zu ihm. Ihr ganzes Gesicht strahlte eine Art abgeklärte Fröhlichkeit aus, wie eine Sammlerin seltener Schmetterlinge, die nach Jahren der Suche endlich das eine fehlende Exemplar gefunden hat, wissend, dass sie allein die Bedeutung dieses, oberflächlich gesehen unspektakulären Falters, abschätzen konnte.

Ja, die 26 Jahre alte Bernadette wusste, Horst, der 47 jährige, in Scheidung lebende Mann, der da so entspannt in dem Doppelbett des Wintersportapartments Sonnenalpe lag, war genau der richtige für sie.

Verheiratete Männer ab 40 waren, laut Christina Schuster, Bernadettes Taufpatin, relativ einfach in der Handhabung. Warum Christina ihr diese Interna aus dem Eheleben mit Florian immer erzählte, wusste Bernadette nicht, doch bei jedem Besuch bekam sie mit dem Kaffee und dem Update betreffend die Kinder, eine Pflegeanleitung für den Mann ab 40 serviert.

Ja, Sex war wichtig, konnte aber auf zwei Einheiten pro Monaten reduziert werden. Dass sie immer von „Einheiten“ sprach, erklärte sich Bernadette mit Christinas abgeschlossenen Studium der technischen Chemie. Bedingung für die erfolgreiche Reduktion der Einheiten war, dass man dem Mann beim Sex zu verstehen gab, wie gut er seine Sache machte.

Viele „Ahs“ und „Ohhs“, ein kurzer Aufschrei, ein abschließendes „Das war gut“ würden den Egohaushalt des Mannes nach Wunsch regulieren. Der Rest, und hier lachte Christina immer leicht, wäre sowieso nicht beeinflussbar. Seltsamer weise transportierte Christinas Lachen, und die so schwesterliche Hand auf Bernadettes Knie ganz eine andere und durchaus auch chemische Botschaft. Sie war sich sicher, dass die Taufpatin ihren Mann Florian liebte, aber Sex wohl kein wesentlicher Teil dieser Beziehung war.

Nein, ganz im Gegenteil hatte Bernadette bei diesen Kaffeenachmittagen immer das Gefühl, Christina würde die wahren „Ahs“ und „Ohs“ nur in den Armen einer anderen Frau ausstoßen.

Florian Schuster, den sie immer nur kurz sah, wirkte auf Bernadette in letzter Zeit etwas verloren. Für Bernadette war das ein Mann, der sich hin und her drehte, aber aus irgend einem Grund nicht fand, wonach er suchte. Kaum stand er vor ihr, änderte sich sein Gesichtsausdruck und seine Blicke zerrten unmissverständlich an ihrer Unterwäsche.

Horst Kreuzmaier, so dachte Bernadette, war da ganz anders, reifer, in sich ruhend. Bereits kurz nach ihrem ersten intimen Treffen vor drei Monaten hatte er von seiner Frau und den beiden Kindern erzählt. Die Scheidung war damals so gut wie durch.

Bernadette musste sich da keine Vorwürfe machen, sie hätte dazu beigetragen, eine Familie zu zerstören. Nette Kinder und eine hübsche Frau, auf den Fotos jedenfalls, hatte Bernadette damals gedacht. 15 Jahre war sie älter als Bernadette. Aber nach 22 Jahren Ehe, meinte Bernadette, musste man kein schlechter Mensch sein, um Lust auf Abwechslung zu verspüren.

Andererseits war es im Hinblick auf eine längere Beziehung schon gut zu wissen, warum die Ehe in die Brüche gegangen war. War Gewalt im Spiel gewesen oder hatte er wild herum gevögelt? Nachdem was sie bis jetzt über ihn wusste, tippte Bernadette auf ganz banale Gründe: frühe Hochzeit, früh Kinder, Hausbau, keine gemeinsamen Interessen. Blöd, dass einem Letzteres immer erst auffiel, wenn die Aufgaben davor erledigt waren.

Dass Horst kein testosterongesteuerter Rammler war, davon war sie, seit ihrer ersten gemeinsamen Nacht, überzeugt. „Ich mach alles, was du willst“ hatte sie ihm ins Ohr geflüstert. Das war so ein Test, den sich Bernadette auf ihrer Suche nach dem geeigneten Mann für die gemeinsame Zukunft zurecht gelegt hatte.

Ergriff das zu testende Objekt das Angebot beim Schopf, zog diverse Dildos hervor oder versuchte, Teile der Kücheneinrichtung ihr in alle möglichen Körperöffnungen zu rammen, wurde nichts aus der gemeinsamen Zukunft.

Horst hatte den Test mit Bravour – wenn man das so sagen kann – bestanden. „Du machst mich ganz verrückt“, hatte er, brav zwischen ihren Schenkeln liegend, gekeucht, noch zweimal mit den Lenden gezuckt und war in ihr gekommen. Bernadette dachte kurz irritiert an ihre Taufpatin, schrie auf und umschlang Horst mit ihren Armen. Gerührt hatte sie die Schweißperlen auf seiner Stirn geküsst und die wenigen Haare zurecht gestrichen.

Ja, so was wie Liebe gab es da auch, was sie aber wirklich glücklich machte, war der Umstand, dass Horst die eine Eigenschaft, die ihr bis jetzt bei Männern noch kein Glück gebracht hatte, liebte. Er war vernarrt in ihren Wissensschatz. In der Bank, wo sie beide arbeiteten, waren ihre Analysen wirtschaftlicher Zusammenhänge ein geschätztes Werkzeug für die Aktienhändler, doch Horst war fasziniert von ihrer Allgemeinbildung.

Das war neu. Bernadette hatte ein hübsches Gesicht, lachte gern, doch die kurzen, dicken Beine, ihre ausladenden Hüften und der kleine Busen waren bei der Partnersuche nie hilfreich gewesen. Dies mit ihrer Leidenschaft, dem Anhäufen von Wissen über die Welt auszugleichen, war ihr bereits als Teenager misslungen.

Bis sie Horst traf. Noch jetzt vor dem Spiegel im Badezimmer bekam Bernadette eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte, mit welch kindlicher Freude sich Horst vor einer Stunde an ihrem Wissen ergötzt hatte. Wie heißt dieser Berg, wie jene Oper, wie der derzeitige Präsident von Madagaskar, wann starb Bach, wann schrieb Petrarca, an welchem Wochentag begann der zweite Weltkrieg und was bedeutet die Abkürzung „Sb“ auf der Tafel des Periodensystems?

Auf all seine Fragen wusste sie eine Antwort. Er war im Zimmer auf und abgesprungen, hatte sie hochgehoben, gelacht. Als sie seine letzten beiden Fragen mit „Freitag“ und „Antimon“ beantwortet hatte, sah er sie ernst an, beugte sich über sie. Er küsste sie, zog sie aus, als wäre sie die kostbarste Perle im Harem des Sultans und nicht Bernadette, das gescheite Mädchen mit dem kleinen Busen, das gerne liest und sich viel merken kann.

Zugegeben, Horst würde keinen Mann-des-Jahres-Wettbewerb gewinnen. Seine Qualitäten als Finanzanalytiker strahlten wesentlich heller als der schüttere Haarkranz, der leichte Bauchansatz, die wenig muskulöse Gestalt. Auch in der Investmentbank war er nicht mächtig, konnte nicht fingerschnippend Menschen dirigieren.

Horst war der Experte, zu dem die Mächtigen kamen, von dem sie sich beraten ließen, der ob seiner Fähigkeiten bewundert wurde. Er war der ideale Mann für sie, dachte Bernadette und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Sie wollte ihn nicht verlieren.

Was soll ich machen, wenn sie anruft, überlegte Bernadette und fischte das Handy aus der Tasche ihres Bademantels. Seit zwei Tagen hatte sie es nicht ausgeschaltet.

Warum regte sie sich so auf? Sylvia würde ihr eine Frage stellen, sie würde sie, aller Voraussicht nach, beantworten und damit wäre die Sache erledigt. Die Beantwortung dieser Frage würde doch nicht ihre Beziehung zu Horst gefährden. Oder?

Bernadette sah sich im Spiegel an. Ging es ihr wirklich nur darum, oder war es ihr Verhältnis zu Sylvia, welches durch die Beantwortung der Frage aus der Balance geraten würde? Ich muss wieder ins Schlafzimmer, überlegte Bernadette. Sie betrachtete sich im Spiegel, versuchte zu lächeln. Wer weiß, vielleicht schafft sie es gar nicht in die Mitte und dann ruft sie auch nicht an. Bernadette löschte das Licht und verließ das Badezimmer.

Horst las ein Buch, grinste zu ihr hinüber, als sie sich neben ihn legte. Draußen schien die Sonne, doch sie hatten keine Eile, die Vorhänge beiseite zu schieben. Horst hatte bei ihrer Abfahrt aus der Stadt erklärt, kein wahnsinnig guter Schifahrer zu sein. Bernadette hingegen war ein hervorragende Schifahrerin. Im Tiefschnee, auf der Buckelpiste oder am Steilhang, überall machte sie eine gute Figur. Erst beim Après Ski wurde sie regelmäßig von Sylvia überholt.

Bernadette legte ihren Kopf auf Horsts Schoß. Würde er ihr heute Abend wieder Fragen stellen, ihr bis zum Beginn des Liebesaktes Preziosen aus der Wissenskiste herauslocken? Bernadette sah kurz unter dem Rand des Buches hindurch, hinauf in sein Gesicht. Ein netter, guter Mann, noch nicht rasiert, mit ein, zwei Haaren, die ihm aus der Nase wuchsen, unauffällig, bis es um sein ganz eigenes, stark abgegrenztes Wissensgebiet ging, wahrscheinlich uninteressiert an Äußerlichkeiten oder Reichtum. Würde er Sylvias Charme erliegen?

So wie sie Horst einschätzte, gab es da eine Chance, dass er nicht gleich glasige Augen bekommen würde, sollte sie ihm ihre beste Freundin Sylvia vorstellen. Er liebte den Wissensschatz, den Bernadette in ihrem Kopf gespeichert hatte. Dieser hatte ihn dazu gebracht, mit ihr zu verreisen. Betrachtete man aber das Problem aus der Sicht der Statistik, so gab es auf die Frage, ob sich Horst möglicherweise zu Sylvia hingezogen fühlen würde, nur eine Antwort: Ja!

Bisher war es Sylvia noch immer gelungen, die Männer in ihrer Gegenwart zu verzaubern. Gleich in welcher sozialen Schicht die Herren beheimatet waren, egal über welche Bildung oder geistige Kapazität sie verfügten, immer waren sie von Sylvia begeistert gewesen.

Der Installateur, der ihr für die Reparatur der kaputten Gastherme kaum etwas verrechnete, genauso wie der Philosophieprofessor oder der geniale Chemiker, mit dem Bernadette ein paar mal ausgegangen war.

Vor ein paar tausend Jahren wäre das alles viel einfacher gewesen, überlegte Bernadette. Der stärkste Mann der Sippe hätte Sylvia an den Haaren in seine Höhle gezogen und damit wäre die Sache beendet gewesen. Leithirsch und Leitkuh waren definiert und der Rest der Sippe paarte sich dem Status entsprechend.

Heute war das alles viel komplizierter. Alle Männer hielten sich in ihrer kleinen Welt für eine Art Leithirsch und rechneten sich auch dort noch Chancen aus, wo es kaum welche gab. Mit dieser Hoffnung störten sie aber den Ablauf gewaltig und erschwerten die Partnerwahl der anderen Weibchen. Ganz abgesehen davon kam es dadurch auch zu unnötigen Spannungen zwischen den Damen.

Verflucht, dachte Bernadette. Sylvia war wirklich ihre beste Freundin, die einzige, mit der sie Dinge besprach, die sie sonst absolut niemandem erzählten konnte. Im Kindergarten hatten sie sich kennen gelernt und ihr erstes Aufeinandertreffen sollte beispielgebend für ihre weitere Beziehung sein.

Sylvia war fünf Jahre alt, als sich ihre Eltern trennten und sie den Kindergarten wechseln musste. Es war der erste Tag, den sie dort verbrachte und die Tanten wollte mit beiden Kindergruppen in den Garten der Anlage gehen. Sylvia blieb länger als notwendig in der Garderobe sitzen. Die anderen Kinder waren schon im Garten, als Bernadette zurück ins Haus lief. Sie hatte eine Kleinigkeit vergessen und keines der anderen Kinder wollte mit ihr spielen.

Sylvia saß noch immer mit den Hausschuhen an den Füßen auf der kleinen Bank. Die beiden Mädchen lächelten sich zu, waren sich vom ersten Moment an sympathisch. Leicht verlegen bat Sylvia die um ein Jahr jüngere Bernadette um Hilfe beim Binden der Schuhe. Ohne Kommentar band Bernadette Sylvias Schuhbänder und eine Freundschaft.

Draußen im Garten machte Sylvia allen klar, dass jeder, der mit ihr spielen wollte, auch mit Bernadette spielen musste. Nachdem alle mit Sylvia spielen wollten, war Bernadette ab diesem Tag ebenfalls eine fixe Größe im sozialen Leben des Kindergartens.

Dass Sylvia schon bald ohne Bernadettes Hilfe ihre Schuhe binden konnte, änderte nichts am Verhältnis der beiden zueinander. Aus den Schuhbändern wurden Mathematikbeispiele und Geographietests, aus den verpflichteten Spielkameraden, Einladungen zu Geburtstagsfeiern, Schulpartys und Clubbings. Bernadette tat ihren Teil mit voller Überzeugung, wissend, dass ihre Freundschaft zu Sylvia, abgesehen von der Freude über die gemeinsam verbrachte Zeit, so etwas wie eine Universal-Eintrittskarte war.

Die Selbstverständlichkeit, mit der Sylvia Bernadette gesellschaftlich integrierte, ging soweit, dass sie von ihrer Umwelt wie Schwestern wahrgenommen wurden. Einmal, noch als Teenager, standen die beiden in einer großen Gruppe Jugendlicher vor einer neu eröffneten Diskothek. Der Türsteher selektierte die Gäste, die er hineinlassen wollte. Als die Mädchen vor ihm standen, öffnete er sofort die kleine rote Kette, um Sylvia hinein zu bitten. Bernadette hielt er mit den Worten: „Nur Mitglieder“ zurück. Sylvia, die schon zwei Schritte weiter gegangen war, drehte sich in der Sekunde zu dem breitschultrigen und sehr großen Mann. Über ihrer wunderschönen Nase hatte sich eine winzige Falte gebildet. Sie sah den Mann nur streng an und meinte: „Wie bitte?“ Der Türsteher, sicher zwei Köpfe größer als Sylvia, reagierte wie ein ertappter Hühnerdieb, sah zu Boden und murmelte: „Entschuldigung“, während er Bernadette passieren ließ.

Diese und viele andere Momente speisten Bernadettes Dankbarkeit Sylvia gegenüber, obwohl sie immer Wert darauf legte, ihren Teil der unausgesprochenen Abmachung zu erledigen. Wo immer Sylvia Hilfe brauchte, und da gab es viel zu tun, war Bernadette zur Stelle.

Sylvia war chaotisch, oft faul, hatte soziale Intelligenz aber keine Begabung für abstrakte Dinge wie Mathematik, Führerscheinprüfungen oder Gebrauchsanweisungen. Das war Bernadettes Domain. Mehr noch, das Wissen, dass sie Sylvia helfen konnte, ja musste, erzeugte eine Balance zwischen den beiden Frauen. Sie waren ebenbürtig und die Schwäche der einen wurde zu Stärke der anderen. Die Jahre vergingen, stellten neue Aufgaben, die Interessen und Schwierigkeiten verschoben sich, doch ihre Freundschaft, wie die Bereitschaft, dem anderen jederzeit zur Seite zu stehen, war geblieben.

Auch heute noch war ihre Beziehung ausgeglichen und ausbalanciert, wobei Bernadettes Beitrag in den letzten Jahren hauptsächlich aus finanzieller Unterstützung bestand. Sylvia hatte keinen Bezug zu Geld und die Einkünfte aus den Jobs, die sie neben ihren diversen Ausbildungen erledigte, reichten nie, um das eine Kleid, die besondere Handtasche, oder die doch wirklich verdiente Urlaubswoche auf Kreta zu finanzieren. Bernadette hatte in Mindestzeit mit Auszeichnung studiert, arbeitete in der Bank, spekuliert nebenbei mit dem Geld, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte und lieh Sylvia ohne Kommentar die benötigten Summen. Es war ihr egal, ob sie ihr Geld jemals wieder sehen würde. Insgeheim hoffte sie, dass Sylvia es nicht so bald zurückzahlen würde, ja in eine Art geringfügige finanzielle Abhängigkeit geraten würde. Dies würde die Balance zwischen ihnen zementieren und das war weit wertvoller als der auf dem Spiel stehende Geldbetrag.

Echte Sorgen musste man sich um Sylvia sowieso keine machen. Sie würde zwar keine der Ausbildungen je beenden, doch dereinst von einem strahlenden Prinzen mit prall gefülltem Bankkonto ins heimische Schloss geführt werden. Daran bestand absolut kein Zweifel und wäre Sylvia interessiert gewesen, gleich einen reichen Prinzen zu ehelichen, hätte sich dieser auch sofort gefunden.

Sie war aber nicht interessiert und genau das war ein Teil des Problems. Bernadette war sich nicht einmal sicher, ob Sylvia Männer überhaupt mochte. Ja, sie liebte die Aufmerksamkeit, das Gefühl auf Händen getragen zu werden, doch wirklich berühren konnten die Herren Sylvia nicht. Ganz anders, als man das erwarten würde, war sie auch nicht sonderlich wählerisch.

Sie strahlte den wunderschönen Erben einer Kaufhauskette genauso an, wie den nicht wahnsinnig auffallenden Sohn des Reifenhändlers um die Ecke. Im Falle des Reifenhändlers war das noch nachvollziehbar, weil der kurz darauf kostenfrei die Winterreifen montierte, doch darum ging es gar nicht. Sylvia zog die Männer einfach in ihren Bann, weil sie es konnte, weil es ihr Spaß machte, und nicht um eine Bindung einzugehen.

Der geniale Chemiker hatte das nicht begriffen. Er hatte bereits eine Zahnbürste in Bernadettes Badezimmer, als sie ihm Sylvia vorstellte. Tags darauf trennte er sich von Bernadette mit der Begründung, er könne nur noch an Sylvia denken. Bernadette versuchte ihm klar zu machen, dass Sylvia ihn bereits vergessen habe, er seine Zahnbürste ruhig hier lassen solle. Vergebens, denn so genial war der Chemiker dann doch nicht.

Nach diesem Debakel kamen die beiden Frauen überein, dass Sylvia für Bernadette Männer aussuchen würde und diese Abmachung war, wie alle anderen zuvor, für beide Teile ein Gewinn. Horst war, ganz ohne sein Wissen, auch eine Frucht dieser Übereinkunft.

Er und Bernadette arbeiteten zwar in der selben Bank, doch einander vorgestellt wurden sie erst bei einem Empfang, den eine internationale Organisation veranstaltet hatte. Sylvia, die Banken nur deshalb betrat, um ihre gesperrte Bankomatkarte gegen eine neue zu tauschen, hatte von einem ihrer Verehrer eine Einladung zu diesem exklusiven Empfang bekommen. Lust zu erscheinen, hatte sie keine. Mit den Worten: „Du arbeitest doch in einer Bank, mein Schatz, geh doch du hin“, gab sie die Karte an Bernadette weiter.

Bei eben diesem Empfang stand Bernadette zufällig in einer Gruppe, die sich um den Chef der zweitgrößten Bank des Landes gebildet hatte. Der Mann war charismatisch und die ihn umgebenen Damen und Herren hingen an seinen Lippen. Einzig Horst, der neben Bernadette stand, diese aber kaum wahrnahm, schien nicht so überzeugt von der allumfassenden Weisheit des Mannes zu sein.

Als der Bankenchef bezüglich der wirtschaftlichen Herausforderungen euphorisch meinte, dass man eben wie dereinst Hannibal im zweiten punischen Krieg die Alpen queren, ja etwas ganz Außergewöhnliches leisten müsse, stöhnte Horst für alle hörbar laut auf. Plötzlich sah ihn die ganze Gruppe an. Der Bankenchef meinte leicht säuerlich, ob der Kollege vielleicht anderer Meinung sei. Horst, nicht gewohnt, ohne längere Überlegungen zu antworten, starrte zu Boden.

Hannibal war der größte Feldherr der Antike, doch den zweiten punischen Krieg haben die Römer gewonnen.“ Alle inklusive Horst hatten ihre Blicke auf Bernadette gerichtet, die da stand, klein und versteckt zwischen all den Schönen und Reichen, den Mächtigen und den Speichelleckern. „Was der Kollege meint,“ fuhr sie unerschrocken fort, „ist, dass einzelne außergewöhnliche Leistungen nicht ausreichen werden, beziehungsweise der Fall Hannibal ein schlechtes Beispiel ist, will man die vor uns stehende Herausforderung meistern. Hannibal hat 183 vor Christus Selbstmord begangen. Das zeugt nicht von nachhaltigem Erfolg.“

Ganz kurz war es sehr still geworden in der Gruppe rund um den Bankenchef, so still, dass Bernadette Angst hatte, ihr klopfendes Herz, ihre weichen Knie würden ihre Aufregung verraten. Verraten, dass sie sich für einen Mann in die Bresche geworfen hatte, der ihr schon an ihrem ersten Arbeitstag in der Bank vor zwei Jahren aufgefallen war.

Die Männer und Frauen in der Gruppe betrachteten Bernadette misstrauisch, wussten keine Antwort. Einzige der Bankenchef begann zu lächeln und meinte: „Danke, gnädige Frau, für den Hinweis. Also: ab heute machen wir es wie die Römer.“ Erleichtert hatten alle aufgelacht und waren hinter dem Chef her, Richtung Buffet gelaufen. Nur Horst und Bernadette waren zurückgeblieben.

Horst hatte sich zu Bernadette gedreht, sie ernst angesehen. „Kenne ich Sie?“ „Wir arbeiten in der selben Bank. Sie im 10., ich im 2. Stock.“ „Wollen Sie mit mir Essen gehen?“

Ab dem Zeitpunkt waren sie ein Paar gewesen und bisher hatte keiner der beiden diesen Entschluss bereut. Das war nicht die große, animalische Liebe, sondern das Glück, jemanden gefunden zu haben, der Dinge zu schätzen wusste, die der breiten Masse vollkommen egal waren.

Willst du einen Kaffee?“, sagte Bernadette und streckte sich ein wenig. Horst sah von seinem Buch auf, legte die Stirn in Falten. „Willst du Schifahren?“ Bernadette lächelte ihn an. „Nein, nein, keine Angst, das ist wirklich nur ein Kaffee-Angebot.“ Sein Gesicht entspannte sich. „Ja, bitte, ich hätte gerne einen Kaffee, aber …“ und hier hielt er sie fest, küsste sie spielerisch, „wenn es dein Herzenswunsch ist, mitzuverfolgen, wie ein alter, unsportlicher Mann auf zwei Brettern einen Hang hinunterrutscht, so werde ich diesen Wunsch natürlich erfüllen.“

Sie stand auf, sah ihn, mit leicht geöffnetem Bademantel neckisch an und meinte. „Komisch, so unsportlich, fand ich dich vorher gar nicht.“ In seinen Augen flackerte ein dankbares Leuchten auf. Er lehnte sich zurück, grinste und meinte gespielt gelassen: „Alles Leben ist…“ „Chemie“, vervollständigte Bernadette seinen Satz, warf ihm eine Kusshand zu und verschwand in der Küche.

11:40. Wann würde Sylvia anrufen? Die Aufzeichnung der TV-Show musste bereits im Gange sein. Bernadette steckte das Handy wieder in die Tasche des Bademantels und suchte nach den Kaffeefiltern.

Nein, Sylvia war nicht blöd und, wenn sie etwas wusste, konnte sie auch sehr schnell reagieren. Das bedeutete, sie würde es mit hoher Wahrscheinlichkeit bis in den Stuhl vor den Moderator schaffen. Und wenn sie einmal vor diesem selbstverliebten Ex-Dorfgendarm, Ex-Schirennläufer, Ex-was auch immer, saß, dann würde sie dort eine Weile sitzen bleiben.

Der ehemalige Dorfgendarm war auch nur ein Mann und behandelte Frauen, die ihm gefielen, ganz offensichtlich besser, als solche, die weniger seinem Geschmack entsprachen. Sylvia würde er lieben, das wusste Bernadette. Ja, wusste, weil sie es schon so oft mit eigenen Augen gesehen hatte.

Besonders Männer mit hohem Selbstwertgefühl interessierten sich für Sylvia. Diese betrachteten sie wie eine Trophäe, die es zu erringen galt und auf die sie eine Art natürliches Anrecht hatten. Der Ex-Gendarm würde Sylvia lieben, ganz klar, dachte Bernadette. Und wenn er sie liebt, kann er gar nicht anders, als ihr bei den Fragen hilfreiche Signale zukommen zu lassen.

Für hilfreiche Signale wiederum hatte Sylvia ganz feine Antennen. Also würde sie nicht schon bei der 500 Euro-Frage ihre beste Freundin anrufen. Zuerst würde sie das Publikum fragen, dann, gegen jede Logik, diesen 50:50 Joker nützen. Gegen jede Logik, so Bernadette, war das deshalb, weil man ja nur bei diesem Joker sicher sein konnte, dass er eine zu 100% richtige Antwort parat hatte.

Logik, ha, Bernadette lachte laut auf. Welcher Idiot hatte Sylvia eingeredet, sich bei der Millionenshow zu bewerben? Schon die Idee war ein Affront gegen ihre Abmachung, die langjährig gehütete Balance ihrer Beziehung. Als Sylvia ihr vor einem Monat davon erzählte, dass sie eingeladen worden war, als Teilnehmerin zur Aufzeichnung der Sendung nach Köln zu fliegen, hatte Bernadette laut aufgelacht. „Du willst bei der Millionen-Show mitmachen? Du? Das ist ja, ja, das wäre, wie … wie wenn ich mich als Busenwunder oder als Strumpfhosenmodell bewerben würde.“ Am anderen Ende der Leitung war es kurz ganz still geworden. „Ahso, findest du?“, hatte Sylvia ganz schnippisch gemeint. „Nett von dir, dass du mich für so blöd hältst. Du bist übrigens mein Telefon-Joker.“

Eigentlich, so dachte Bernadette, war das auch eine Frechheit. Waren ihre Beine so unattraktiv, ihre Brüste so klein, dass man sie, auf einer ganz anderen Ebene, mit absoluter Verblödung vergleichen konnte? Nein, Sylvia hatte nur eben keine Vorstellung von der Größe ihrer Unwissenheit, während Bernadette ganz genau wusste, wie weit ihre Körpermasse von denen der standardisierten Traumfrau abwichen.

Sylvia hatte sich bei einer TV-Show beworben, in der Wissen abgefragt wurde. Bei jeder Frage standen jeweils vier Antworten zur Auswahl, wobei drei davon immer falsch waren. Mit jeder richtig beantworteten Frage verdiente man einen Geldbetrag. Je höher der Geldbetrag wurde, desto schwieriger wurden die Fragen. Für die Beantwortung der Fragen standen keine Hilfsmittel zur Verfügung, allerdings durfte man einmal das Publikum um seine Meinung fragen, einmal vom Computer zwei falsch Antworten löschen lassen und einmal jemanden anrufen. Das war der erwähnte „Telefon-Joker“. Und der würde Bernadette sein.

Klar, wer sonst. Das war doch die Abmachung, das machte sie zu Freunden, zu Verbündeten. Wissen war Bernadettes Abteilung, Schönheit und Soziales waren für Sylvia reserviert. Was wurde daraus, wenn die eine plötzlich im Teich der anderen fischte?

Noch schlimmer: was würde geschehen, wenn sie Erfolg hätte. Misserfolg war zu ertragen, wenn man wusste, dass dieser quasi systemimmanent war und durch die Erfolge auf einem anderen Gebiet wett gemacht werden konnte.

Denn Misserfolge hatte es über die Jahre hinweg immer wieder gegeben, oder exakter: kleine demütigende Situationen, die an Bernadettes Selbstbewusstsein nagten. Neben Sylvia war so manche Frau schnell ein hässliches Entlein, doch es immer wieder spüren zu müssen, immer wieder daran erinnert zu werden, ertrug man nur schwer.

Sylvia konnte da gar nichts tun. Es waren die Männer, die ganz klar zwischen „schöner Frau“ und „weniger schöner Frau“ unterschieden. Mehr als das. Für einen durchschnittlichen Mann war es vollkommen klar, dass die schönere Frau auch die nettere und gescheitere war. Eine wunderschöne Frau konnte dumm wie ein Stück Brot sein. Hielt sie sich vornehm zurück, sprach wenig oder lobte den sie anhimmelnden Mann, würden Jahre vergehen, bis die männliche Umwelt misstrauisch wurde.

Männer waren einfach anders programmiert. Während Männer sich bei ihrer Suche nach einer Frau von äußeren Reizen leiten ließen, waren Frauen gezwungen, ganz andere Kriterien in Betracht zu ziehen. Sie waren darauf trainiert, in kürzester Zeit eine ganze Liste an wertvollen Eigenschaften abzuprüfen. Das hatte sie über die Jahrtausende hinweg, zu den sozial kompetenteren Lebewesen gemacht.

Beispiel Horst: rein äußerlich betrachtet, hätte er sich höchstens mit einer Gartenzwergin paaren dürfen. Was die soziale Intelligenz anbelangte, so war es für Bernadette absehbar, dass dieses Genie der internationalen Finanzströme in den kommenden Scheidungsverhandlungen mit seiner Frau recht bald seine Hosen verlieren würde. Nur wegen Horsts analytischer Fähigkeiten war sein Status innerhalb einer klar begrenzten Gruppe an Individuen relativ hoch und würde über die Jahre gleich bleiben.

Florian Schuster, der Mann ihrer Taufpatin Christina, war von dieser ganz offensichtlich auch wegen seiner inneren Werte ausgesucht worden. Ganz vorbildlich kümmerte sich dieser, laut Christina um die Kinder, besuchte mit ihnen diverse Psychologen und verbrachte viele Stunden am Rand von Spielplätzen und Sandkisten. Die Ironie des Schicksals war, dass Florian wahrscheinlich auch andere Reize zur Verfügung hatte, Christina diese aber nur in geringem Umfang zu schätzen wusste. Bernadette rätselte was Christina Florian geboten hatte? Warum blieb dieser Mann bei dieser Frau? Was hatte ihn angezogen, was hielt ihn fest?

Sylvia wusste, dass die Fachgebiete Bildung und Wissen Bernadette zu überlassen waren. Einerseits weil Bernadette darin eine Meisterin war und zweitens um auch sie auf einem Gebiet glänzen zu lassen. Ohne diese Balance hätte sie doch nie über all die Jahre hinweg die beste Freundin dieser Schönheitskönigin sein können, dieser Frau, der alle immer zuerst die Tür öffnen, den Sessel zurechtrücken, natürlich den Vortritt lassen, als erster die Speisekarte reichen, Kulanz bei allen Problemen des täglichen Lebens zeigen, schlicht und einfach, weil sie so bezaubernd aussah und jedem, der in ihrer Nähe war, das Gefühl gab, auch zu strahlen, zu glänzen, ein Teil dieser allumfassenden Schönheit zu sein.

Das Wasser begann zu kochen. Bernadette, erregt durch die Analyse ihrer Freundschaft zu Sylvia, hob den Wasserkocher zu schnell hoch. Wasser spritzte heraus und ein paar Tropfen landeten auf Bernadettes Hand. Sie stellte den Wasserkocher ab, rieb mit einer Hand über den Handrücken der anderen, holte tief Luft.

Alle Menschen, die beide Frauen kannten, und kaum einer kannte nur Sylvia oder Bernadette, wusste, wer von den beiden die Gebildetere war. Wer hingegen Sylvias Griechenlandurlaube bezahlte, wussten die meisten nicht. Mit dem bei der Rate-Show gewonnenen Geldbetrag wäre Sylvia plötzlich unabhängig von Bernadettes Zuwendungen.

Der Kaffeeduft stieg Bernadette in die Nase. Sie ist meine Freundin und daran wird sich auch nichts ändern, dachte sie fast trotzig.

Bernadette öffnete den Kühlschrank und wurde enttäuscht. Sie und Horst hatten vergessen, Milch einzukaufen. Sie starrte in das Innere des Kühlschranks. Ist doch gut, dachte sie, wenn ich Sylvia kein Geld mehr borgen muss, dann lasse ich mir einen größeren Busen machen.

Lachend schloss Bernadette den Kühlschrank. Zufrieden, eine Art Ausgleich gefunden zu haben, hob sie die beiden Tassen hoch, wollte sie ganz ohne Milch in das Schlafzimmer tragen. Die Balance zwischen den Freundinnen wäre durch den vergrößerten Busen auch wieder hergestellt worden. Sylvia hätte kurz mit geliehenem Wissen geglänzt, während Bernadette für längere Zeit eine Art Blickfang vor sich her tragen könnte. Horst würde das sicher auch freuen.

Horst!

Erschrocken stellte Bernadette die Kaffeetassen wieder ab. Horst, hab ich vergessen, überlegte sie. Für die kommende Woche hatte sie ein erstes Treffen zwischen Horst und Sylvia geplant. Was aber war, wenn er erfahren würde, dass Sylvia in einem Wissenstest geglänzt hatte? Würde er sich dann Hals über Kopf in sie verlieben oder würde er Bernadettes Beteuerungen glauben, Sylvia habe es nur auf Grund ihrer Hilfe so weit geschafft? Würde Sylvia, wunderschön und anscheinend gebildet, dadurch nicht zu seiner absoluten Traumfrau werden?

„Brauchst du Hilfe?“ rief Horst aus dem Schlafzimmer. „Nein, danke, bin gleich soweit“, antwortete Bernadette.

Denk nach, denk nach, rief sich Bernadette innerlich zu, setzte sich auf einen Hocker in der Küche, trank einen Schluck Kaffee. Ging man davon aus, dass Sylvia ihren Telefon-Joker einsetzen würde, gab es drei Varianten darauf zu reagieren.

Bernadette könnte ihr Handy einfach abdrehen. Was kurz darauf passieren würde, war klar. Sylvia wäre mit einem Schlag nicht mehr Bernadettes Freundin, stellte dies doch einen Bruch aller unausgesprochenen, aber damit nicht weniger bindenden Vereinbarungen zwischen ihnen dar. Es hätte dann auch keinen Sinn mehr gehabt, nach einer Balance zwischen ihnen zu streben oder Sylvias finanzielle Abhängigkeit erhalten zu wollen. Einzig die Beziehung zu Horst wäre nicht gefährdet. So angenehm der letzte Punkt war, so unangenehm war es, eine Freundin zu verlieren, mit der man bereits zwei Drittel des eigenen Lebens verbracht hat. Und wofür? Für einen Mann, den man gerade mal seit drei Wochen besser kannte.

Die zweite Variante, einfach die von Sylvia gestellte Frage zu beantworten, hatte den unguten Nebeneffekt, dass eben dieser Mann sich von Bernadette ab und Sylvia zuwenden könnte. Sylvia, ausgestattet mit fremden Wissensfedern und Geld, wäre unabhängig von Bernadette, dafür wäre Horst vielleicht bald abhängig von Sylvia. Einzig das Trostpflaster, des neuen, größeren Busens sprach dafür, zu geben, was erwartet wurde.

Ein Lächeln breitete sich auf Bernadettes Gesicht aus. Eine Variante, die ihr bisher noch nicht eingefallen war, zeichnete sich ab. Diese eleganteste aller Möglichkeiten würde die Freundschaft, die Balance zwischen den Frauen erhalten und ihre Beziehung zu Horst kaum in Gefahr bringen. Warum sie bisher noch nicht daran gedacht hatte, war leicht zu erklären. Diese Variante widersprach dem gepflegten Verhaltensmuster, wonach sie immer die richtige Antwort parat haben musste, um der Schöneren, der viel Geliebten, etwas entgegen halten zu können.

Ich werde es einfach nicht wissen. Bernadette strahlte. Ich werde ihr die falsche Antwort geben. Es wird sie nicht freuen, aber sie wird es verschmerzen. Sylvia würde verstehen, dass es eben Fragen gab, die auch Bernadette nicht beantworten konnte, genau wie die wenigen Feste und Partys in der Stadt, zu denen nicht einmal sie eine Einladung bekam.

Bei ihrem ersten Treffen mit Horst würde Sylvia zwar erzählen, wie sehr die Freundin sie da enttäuscht habe, doch Horst wusste ja, welche Schätze in Bernadettes Kopf ruhten, ihr also keineswegs das Fehlen einer Belanglosigkeit nachtragen. Eher würde ihn Sylvias Unwissenheit stutzig machen, ihn ablenken von ihrer makellosen Oberfläche.

Bebend vor freudiger Erregung wickelte sich Bernadette fest in ihren Bademantel. Die Lösung war gefunden, der Urlaub gerettet. Bernadette kostete vom Kaffee. Er war mittlerweile kalt geworden. Sie rief zu Horst ins Schlafzimmer. „Wir haben keine Milch. Soll ich vom Restaurant einen Kaffee holen gehen?“

Würdest du das wirklich für mich tun?“ schallte es durch das kleine Apartment. Lächelnd stand Bernadette auf, ging ins Schlafzimmer, blieb vor Horst stehen und öffnete ihren Bademantel. „Das und noch viel mehr.“

Horst ließ sein Buch sinken, wanderte mit seinen Augen über ihren nackten Körper.

In meinem Alter ist Kaffee total ungesund.“ Er griff nach ihrem Bademantel, wollte Bernadette zu sich ziehen, als das Handy in ihrer Tasche läutet. Schnell griff sie in die Tasche, lächelte Horst an. „Jetzt musst du noch kurz warten. Das ist meine Freundin Sylvia. Die mit der Millionen-Show… hab ich dir erzählt.“

Ab jetzt 60 Sekunden“ rief ihr Horst nach, während Bernadette in die Küche lief, die Tür hinter sich schloss und auf dem Hocker Platz nahm. Sie atmete einmal tief durch und drückte auf den grünen Knopf: „Kaltenegger.“

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Bernadette das Gefühl, mit einem Familienmitglied oder einem alten Bekannten zu sprechen, weil der Moderator seine Sätze am Telefon genauso formuliert hatte, wie er das eben immer tat.

Bernadette hatte die Sendung oft gesehen und noch öfter vermieden. Ihre Verwunderung bestand in dem Augenblick darin, wie wenig sie dieses Gespräch überraschte. Das änderte sich erst, als der Moderator erwähnte, welcher Geldbetrag im Falle einer richtigen Antwort Sylvia gehören würde.

150.000 Euro standen auf dem Spiel. Verblüfft schüttelte Bernadette den Kopf, fragte sich, wie Sylvia es überhaupt geschafft hatte, soweit zu kommen. Ab der 500 Euro Stufe gab es kaum noch ganz einfache Fragen und selten schaffte es ein Teilnehmer, mehr als 30.000 Euro mit nach Haus zu nehmen.

Sylvias Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung. „Hallo Schatzi, bitte sag mir. Welcher Feldherr kämpfte im zweiten Punischen Krieg gegen Hannibal. War es „A“., Marcus Antonius, oder „B“…“

Bernadettes Atmen stockte, während ihr Herz zu rasen begann. Was auch immer sie antworten würde, sie konnte nur verlieren.

Eine richtige Antwort würde Sylvia viel Geld und eine Art Absolution in Wissensfragen geben, während bei einer falschen Antwort Horst Bernadettes Charakter in Frage stellen würde. Er wusste, dass sie diese Frage ohne Probleme beantworten konnte.

Bernadette wischte sich den Schweiß von der Stirn, wissend, dass sie keine Wahl hatte, ihre Antwort sie entweder isolieren oder für immer zu Sylvias Anhängsel degradieren würde.

Sie schloss die Augen und entschied sich für ihre Liebe zur Geschichte, zu den Büchern, für das tröstend weite Feld vergangener Heldentaten, wissenschaftlicher Durchbrüche und künstlerischer Höhenflüge, das wirklich allen gleich offen stand, egal ob sie kurze oder lange Beine, große oder kleine Brüste hatten.

„Die Antwort ist „C“ Fabius Maximus… Hallo? Hallo?“

Bernadette runzelte die Stirn, nahm das Handy vom Ohr und sah auf den schwarzen Display des Geräts. Sie drückte auf eine Taste, doch der Akku des Telefons hatte bereits seinen letzten Funken Elektrizität abgeliefert.

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Kapitel 3

Weihnachten 1967. Washkansky war gestorben. Schnell las Schuster den zwei Tage alten Zeitungsartikel, betrachtete die Bilder der weinenden Witwe und des trauernden Sohnes vor dem Kapstädter Groote-Schuur Krankenhaus. Professor Barnard und sein Team hatten alles in ihrer Macht Stehende versucht, doch die Infektion der Lunge konnte nicht gestoppt werden.

Trotz einer Distanz von rund 9100 Kilometern zu diesem Ereignis legte sich ein dünner, grauer Schleier über Schusters Festtagsstimmung. Er sah über den Rand der Zeitung hinweg, als würde er nach etwas suchen, was dieser ersten Herztransplantation der Welt doch noch zu einem durchschlagenden Erfolg verhelfen würde.

Freilich fand sich nichts in dem weihnachtlich geschmückten Wohnzimmer, was Washkansky wieder zum Leben erwecken würde. Da war nur der wunderschön dekorierte Baum, die sicherlich bequemen Pantoffeln, die er von Katharina bekommen hatte und natürlich der fünfjährige Florian, der lieblich vor Schusters Sessel spielte.

Schuster faltete die Zeitung sorgfältig und legte sie auf den neuen, nierenförmigen Couchtisch. Aus dem Nebenzimmer drang Katharinas Stimme, die mit ihrer Mutter telefonisch all die Neuigkeiten austauschte, die er morgen, beim obligatorischen Besuch der Schwiegereltern, noch einmal hören würde.

Der Mehrwert, der sich laut Katharina aus der Anschaffung eines privaten Telefonanschlusses ergeben würde, wollte sich Schuster nicht ganz erschließen. Die Summe an wertvoller Information, die zwischen den Bekannten und Verwandten ausgetauscht wurde, änderte sich nicht. Es wurde nur mehr geredet.

In der Arbeit, ja, da machte das Telefon durchaus Sinn, und aus dem täglichen Verkehr zwischen ihm und seinen Kunden im osteuropäischen Raum waren die modernen Formen der Kommunikation, wie Telex oder eben das Telefon, kaum mehr weg zu denken. Aber hier, am heiligen Abend, wollte Schuster den Sinn einer Unterhaltung mit der Schwiegermutter nicht so recht begreifen.

Genau vor einem Jahr waren er und Katharina still und ruhig beisammen gesessen. Florian Schuster, damals noch vier Jahre alt, hatte bereits geschlafen, als er noch einmal, der Stimmung wegen, die Kerzen am kleinen Baum angezündet hatte. Sie hatten noch einen Schluck von dem Rotwein, ein Geschenk der staatlich rumänischen Einkaufsverwaltung, getrunken, die Lichter gelöscht und sich anschließend auf dem Teppich geliebt. Katharina hatte anfangs protestiert, gemeint, man sollte doch ins Schlafzimmer gehen, man würde hier Florian wecken, doch der Wein und seine Hand zwischen ihren Schenkeln verwandelte ihren Protest in ein leises Stöhnen.

Heuer hatte er bereits gegen zwanzig Uhr die Flasche der staatlich rumänischen Einkaufsverwaltung geöffnet, die Hälfte getrunken, doch es sah nicht danach aus, als würde auch dieser heilige Abend so berauschend ausklingen.

Katharina telefonierte seit einer halben Stunde mit ihrer Mutter und die Gespräche zwischen den beiden dauerten erfahrungsgemäß lange.

Florian spielte mit einem Blechkreisel, saß gebannt vor dem neuen Spielzeug und sah gar nicht müde aus. Dieses Jahr war, was die Geschenke betraf, besonders ertragreich für ihn gewesen und das Kind wanderte vollkommen glücklich von einem Geschenk zum nächsten.

Immer wieder sah er zu Schuster, seinem Vater auf, lächelte dankbar, verträumt und ließ den Kreisel tanzen.

Was Katharina da alles wieder gekauft hat, dachte Schuster. Das Kind war doch vollkommen überfordert mit all den Geschenken. So aufgedreht, ja richtig verwirrt, würde es auch nicht so bald schlafen gehen.

Katharina hatte auch von Schuster einige Geschenke bekommen. Vielleicht war das ein Grund dafür, weshalb sie jetzt so lange mit ihrer Schwiegermutter sprach, er war demnach zu einem geringen Teil sogar selbst Schuld, wenn dieser Abend ohne Liebesrausch zu Ende gehen würde.

Ganz so verwirrt wie der Sohn war sie aber sicher nicht. Sie musste also wissen, dass er hier vor dem Baum saß, auf sie wartete, trank, sich langweilte. Sollte er den Fernseher einschalten? Was stand da im Fernsehprogramm?

Um 20 Uhr 40 gab es im ersten Programm einen schwedischen Jugendfilm namens „Nils Holgerssons wunderbarer Reise“ und auf ORF 2 die „Glenn Miller Story“. Beides interessierte Schuster nicht. Außerdem wird das Kind sicher noch unruhiger, wenn ich jetzt den Fernseher aufdrehe, überlegte er.

„Nils Holgerssons wunderbare Reise“? Warum spielte das staatliche Fernsehen um 20:40 einen schwedischen Jugendfilm? War das nicht idiotisch?

Katharina hatte sich den Fernseher gewünscht. Dabei gab es doch noch eine ganze Reihe Bücher im Regal, die jetzt, wo dieser Kasten im Wohnzimmer stand, sicher niemand mehr lesen würde. Ja, sie hatte sich viel gewünscht und alles bekommen.

Schuster blickte zur Zimmerdecke, überlegte angestrengt, welche Wünsche er Katharina im Verlauf ihrer sechs Ehejahre erfüllt hatte. Eigentlich alle, dachte er. Katharina hatte alles bekommen, jeden neuen Schnickschnack, den sich ein höherer Angestellter guten Gewissens leisten konnte. Die größere Wohnung in der besseren Gegend, die Möbel, der neue Herd, der Plattenspieler, der Fernseher und vieles mehr war mit seiner Arbeit finanziert worden.

Und er hatte alles ohne Zögern bezahlt, sich immer wieder ehrlich erfreut an Katharinas Glück. Natürlich waren viele Anschaffungen durchaus auch in seinem Sinne. Das Auto zum Beispiel würde er, und nur er lenken, obwohl Katharina sehr zufrieden war mit seiner Wahl, betreffend Modell und Farbe.

Anfangs strahlte sie förmlich, wenn sie neben ihm auf dem Beifahrersitz saß und die Landschaft langsam an ihnen vorbeizog. Am liebsten lehnte sie am heruntergekurbelten Fenster und winkte wildfremden Menschen zu, die irgendwo neben der Landstraße standen. Zu Schusters Verwunderung winkten diese Menschen auch immer zurück. Ja, am Land war der Verkehr einfach noch nicht so dicht wie in der Stadt und ein vorbeibrausender Volvo mit winkender junger Frau zwar keine Sensation, aber auch kein Ärgernis.

Diese Freude, diese kindliche Freude, dachte Schuster, die hatte Katharina schon länger nicht mehr gezeigt, wenn er mit einem Geschenk nach Hause kam. Auch heute Abend, als sie ihre Geschenke ausgepackt hatte, war sie zwar jedes Mal überrascht, hatte ihren Arm um seinen Hals geschwungen, ihn geküsst, aber dieser Enthusiasmus, der noch vor einiger Zeit an ihrem Gesicht so leicht ablesbar war, wollte sich in Verbindung mit seinen Zuwendungen nicht mehr einstellen.

Dieses Jahr hatte sie auch nicht mehr versucht, auch ihn mit diversen Kleinigkeiten zu überraschen. Er hatte bekommen, was er zwei Wochen zuvor ihr gegenüber als Wunsch geäußert hatte. Einerseits war das gut, denn er brauchte ein neues Paar Hauspantoffeln, doch Überraschung war es eben keine gewesen. Gut, die Krawatte war eine Überraschung, und natürlich die Socken, doch echte Freude wollte sich beim ihm keine einstellen.

Florians Kreisel verschwand unter dem Christbaum. Das Kind bekam einen leicht panischen Gesichtsausdruck, lief zu Schuster, und zog ihm am Hosenbein. „Papa, Papa, der, der, …“ Das Kind, durchfuhr es Schuster, das Kind kann sich wirklich über jeden Dreck freuen. „Ja, ja, ich mach schon“, sagte Schuster, tätschelte Florians Kopf, stand auf, um gleich wieder auf allen Vieren den Kreisel, der sich unter dem Weihnachtsbaum verfangen hatte, hervorzuholen. Er reichte Florian das Spielzeug und der nahm es fast so freudig in Empfang, wie eine Stunde zuvor, als er es aus dem Geschenkpapier ausgepackt hatte.

Schuster blieb auf dem Boden sitzen, lehnte sich an den Schrank. Washkansky, dachte Schuster, ja, der hatte sich sein Weihnachtsfest wahrscheinlich auch anders vorgestellt. Und seine Frau natürlich, die da tagtäglich an seinem Bett ausgeharrt hatte, hoffend, dass er mit neuem Herzen wieder gesund werden würde.

Hatten die Washkanskys auch ein Auto, einen neuen Herd, einen Fernsehapparat? Wahrscheinlich nicht, aber seine Frau war da gewesen, zu jeder Stunde, hatte an seinem Bett Wache gehalten, gehofft, geweint, gebangt.

Das kann man doch nicht vergleichen, versuchte sich Schuster selber zu maßregeln. Und Katharina war keine schlechte Ehefrau. Nach wie vor strahlte sie, lachte, versprühte aller Orts gute Laune. Wenn es einen Punkt gab, der sich verändert hatte, dann nur der, dass nun Florian der Ausgangspunkt aller Freude und Begeisterung war.

Katharina gegenüber sprach es Schuster zwar nie an, doch das Kind war auch ein Geschenk, dass er ihr gemacht hatte. Ein Größeres als sie wahrscheinlich annahm, denn er war ganz und gar nicht begeistert gewesen von der Idee. Ihr gemeinsames Leben war doch so aufregend, so erfolgreich und voller Perspektiven gewesen. Ein Kind, wenn auch nicht unwillkommen, musste da einen gewissen Bruch, eine Veränderung bedeuten. Aber er hatte es für sie getan.

Jetzt kümmerte sie sich um Florian. Tag und Nacht kreisten ihre Gedanken um das Kind. Es allein war Anlass zur größten Freude, wie auch zur größten Betroffenheit. „Florian hat Fieber.“ Wenn sie ihm diesen Satz, abends, wenn er nach Hause kam, entgegen hauchte, wusste er, dass er wieder auf das Sofa ausweichen musste, um in Ruhe schlafen zu können.

Und das Weihnachtsfest an sich war seit heuer ebenfalls eine organisatorische Herausforderung. Das Kind musste ja überrascht werden. Weil es aber schon fünf Jahre alt war, und damit weit mobiler und unternehmungsfreudiger als noch im Jahr zuvor, ging das nicht mehr so leicht.

Seit Wochen sprach Florian nur mehr vom „Christkind“, fragte im Minutentakt, wie und wo genau es vorbeikommen würde, suchte immer wieder den Himmel nach ihm ab, wollte es einmal hier, dann wieder da, gehört haben.

Diese Vorstellung vom heiligen Kind faszinierte Florian. Mit feurigem Eifer malte er bunte Bilder, die es darstellen sollten, erfand Geschichten und legte, ohne das mit Katharina abgesprochen zu haben, eine Untertasse mit Vanillekipferln ins Fenster.

In den Monaten vor Weihnachten war das Christkind in Florians Phantasie zu einer Art Schutzheiliger der Kinder angewachsen. Heute hatte Schuster alles so einrichten müssen, dass der Weihnachtsabend Florians Christkindvisionen entsprach.

Während Katharina mit dem Kind unterwegs war, hatte er den Baum organisiert, respektive finanziert und geschmückt, alle Geschenke aus den diversen Verstecken bereit gelegt und zur rechten Zeit mit der Glocke geläutet.

Ja, natürlich, sinnierte Schuster, hatte er sich auch gefreut über die Geburt des Sohnes, des Stammhalters, dem man doch auch einiges mitgeben konnte für den Lebensweg, später einmal, wenn er dann aufnahmefähig war für die kleinen Weisheiten und Winkelzüge des Lebens, die er, Schuster, bereit war, der Nachkommenschaft zu überlassen. Ja, aber derzeit war Florian, all die Freuden inbegriffen, doch auch eine Belastung.

Wieder rollte der Kreisel unter den Weihnachtsbaum und bestätigte scheinbar Schusters Überlegungen. Lächelnd sah der Sohn zu seinem Vater. Schuster verstand, wollte kurz zögern, das Kind aus erzieherischen Erwägungen selbst unter den Baum kriechen lassen, doch nein, es war Weihnachten und den Kreisel hatte er ja gekauft.

Ja, er hatte alles finanziert und Katharina hatte alles angenommen. Anfangs eben mit einem Strahlen, mit Küssen, mit Lust und jetzt mit einer ehelichen Selbstverständlichkeit, an die er sich nicht gewöhnen wollte.

War dieser Prozess umkehrbar? Schuster sah sich um. Überall lag buntes Papier, standen kleinere Kartons, waren die Möbel leicht verrückt worden, um für den Christbaum Platz zu machen. An den Weihnachtsgeschenken war leicht abzulesen, wer hier das Zentrum aller Zuwendung, aller Liebe war und es auch in Zukunft sein würde. Ein neues Paar Pantoffeln, eine Krawatte und zwei Paar graue Socken standen einer Auswahl an Spielsachen gegenüber, die ein kleines Schaufenster gefüllt hätten.

Noch bevor der Sohn von den Weisheiten seines Vaters profitieren und diese wertschätzen konnte, wurde er überhäuft mit allem, was Katharina zu geben im Stande war. Für ihn, Schuster, würde zwar immer noch ein gewisses Maß an Sympathie übrig bleiben, aber mehr auch nicht.

Würde man Katharina vor die Wahl stellen, an seinem oder an Florians Krankenbett zu wachen, war klar, wie sie sich entscheiden würde. Nur natürlich, dachte Schuster, nur natürlich. Frau Washkansky hatte am Bett ihres Mannes gewacht, doch ihr Sohn war zu dem Zeitpunkt gesund. Wie viele Geschenke hätte Washkansky heuer wohl zu Weihnachten bekommen? Sicher mehr als sein Sohn, überlegte Schuster.

Hatte Washkansky diesen Vorsprung mit einem kranken Herzen bezahlt?

Schuster sah seinen Sohn an, der einen kleinen Karton mit bunten Mikadostäbchen vor sich auf den Teppichboden leerte. Wie auch immer die Ehe der Washkanskys verlaufen war, in seiner Ehe mit Katharina würde sich sobald nichts ändern. Er würde die Socken bekommen und Florian die schönen, bunten Überraschungen.

Schuster sah auf die Uhr. Fast eine Stunde sprach Katharina jetzt mit ihrer Mutter. Eigentlich, durchzuckte es Schuster, kein schlechter Gedanke. Das Bild von Washkanskys Sohn, der trauernd vor dem Krankenhaus gestanden hatte, fiel ihm wieder ein.

Florian, komm einmal her“, rief Schuster, der noch immer mit dem Rücken am Schrank lehnend auf dem Boden saß. Florian blickte von den Mikadostäbchen auf und krabbelte auf allen Vieren zu seinem Vater.

Schuster nahm das Kind liebevoll hoch und setzte es auf seinen Schoß. „Na, mein Kind, wie gefallen dir die Geschenke?“

Freudig erschöpft ließ sich der kleine Bub nach vorn auf Schusters Brust fallen und umschlang den Körper seines Vaters. „Papa, das Christkind ist der beste Mensch, den es gibt.“

Schuster tätschelte den Kopf seines Sohnes. Florian richtete sich auf, saß auf Schusters Schoß wie ein kleiner Reiter. Sie sahen sich in die Augen.

Trotz der Erschöpfung war da noch immer ein immenses Leuchten in Florians Gesicht. Jede Pore schien Zufriedenheit, Optimismus und tiefe Geborgenheit auszustrahlen, während Schusters Blick zwar Wohlwollen, aber eben auch aufrechte, männliche Entschlossenheit signalisierte.

Kurz holte Schuster Luft, hielt den Sohn an den Schultern fest und meinte: „Weißt du Florian, das Christkind, das gibt es gar nicht. Die Geschenke hat alle der Papa bezahlt.“

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Kapitel 4

Das Telefon läutete im Arbeitszimmer. Franz sprang von der Toilette auf, hielt sich mit einer Hand die Hosen hoch und lief los. Er war sich der Lächerlichkeit seiner Handlung bewusst, tröstete sich aber mit dem Gedanke, er könnte mit seinem Einsatz ein wahrlich drängendes Problem aus der Welt schaffen. Die Chancen dafür standen schlecht. Wer kam in die engere Wahl für einen Anruf an einem Dienstag um 8:40?

Stefan hatte immer um diese Zeit angerufen und für einen Anruf von eben diesem Stefan Neustifter wäre Franz gerne aufgesprungen, hätte sich mit Freude und vor Publikum lächerlich gemacht. Aber Stefan, die letzten 37 Jahre sein bester Freund, würde nie wieder anrufen. Knapp vor einem Jahr war er, erst 42 Jahre alt, an Leukämie verstorben. Die Wunde, die der Verlust dieser Kindergartenfreundschaft geschlagen hatte, war noch nicht verheilt.

Zu der Trauer über Stefans Tod mischt sich auch noch ein Gefühl der Schuld. Im letzten Jahr hatte sich Franz selten bei Stefans Frau Lisa gemeldet. Die beiden hatten sich nie viel zu sagen gehabt. Franz hielt Lisa für eine neurotische Skandalnudel und was Lisa von ihm hielt, wollte er sich gar nicht vorstellen.

Trotzdem, dachte Franz, war er es seinem toten Freund schuldig, sich nach dem Wohlbefinden der grenzverrückten Witwe zu erkundigen. Nein, sie ist nicht verrückt, beschwichtigte sich Franz, sie ist ein guter Mensch, nur leider hat sie eine Zunge wie ein Schwert und zu wenig soziale Intelligenz für eine angemessene Handhabung desselben.

Fordernd läutete das Telefon. Franz, die Hose haltend, öffnete die Tür zum Arbeitsraum. Wahrscheinlich war es Bruder Horst, der wieder jemanden suchte, der am Wochenende seine Kinder betreuen würde, damit er in Ruhe, diese junge Assistentin vögeln konnte.

Franz mochte seinen Bruder, doch im Gegensatz zum Rest der Welt, kannte er ihn wirklich gut. Der stille, geniale Horst, universal gebildet, Spezialist für ausgefallene Finanzprodukte, war im Grunde seines Herzens ein geiziger Kleingeist, der seinen Chefs im Vorstand nie verzeihen würde, dass sie mehr verdienten als er.

Franz wünschte seinem Bruder von ganzem Herzen, dass diese neue Assistentin ihm endlich den nötigen Schwung gab, sich scheiden zu lassen. Schade nur, dass Horst fast das ganze Leben aus einem finanziellem Blickwinkel betrachtete und damit einiges übersah. „Alles Leben ist… Marie“, war Horsts Lieblingssatz und das Wort „Marie“ bedeutete in diesem Fall „Geld“.

Franz stand vor dem Telefon. Kurz bevor er die grüne Taste drückte, atmete er einmal tief durch, ließ seine Hosen los und antworte in einem Ton, der professionelle Gelassenheit signalisieren sollte: „Kreuzmaier

Die Eva bitte“, kam es schnell und fast genervt aus dem Telefon. Franz runzelte die Stirn. Für Eva war er also mit seiner Hose in der Hand quer durch die Wohnung gesprintet und der Anrufer fand es nicht der Mühe wert, seinen Namen zu nennen oder ihn, den offiziellen Besitzer des Telefonanschlusses, mit einem Gruß zu würdigen.

Wer spricht, bitte?“, antwortete Franz so schneidend unfreundlich, wie einem Menschen das möglich ist, dessen Hosen sich um seine Knöchel gewickelt hatten. Und natürlich wusste er, wer da angerufen hatte. Die Stimme dieses aufgeblasenen und in sich selbst verliebten Mannes war ihm schon beim ersten Besuch, den Eva und er in der Galerie Tauber absolviert hatten, unangenehm aufgefallen. Franz hatte Eva aus reiner Gefälligkeit und einem Funken Beschützerinstinkt zu diesem Termin begleitet.

Tauber organisierte damals eine Ausstellung junger Maler und bat Eva, ein Bild, dass er auf ihrer Homepage entdeckt hatte, aufhängen zu dürfen. Die Galerie Tauber genoss in der Stadt einen ausgezeichneten Ruf und daher war Eva nur allzu bereit, das kleine Bild selbst vorbei zu bringen. Sie freute sich wie ein kleines Kind und betrachtete diese Einladung als Anerkennung ihrer Arbeit. Franz versuchte Evas Begeisterung ein wenig zu bremsen. Es war eine Gruppenausstellung und nur ein Bild unter vielen war von ihr.

Die Zweifel waren berechtigt. Herr Tauber vermittelte den Eindruck, als würde er Evas Bild nur gnadenhalber aufhängen, doch Eva schien den mitleidigen Unterton des Herrn nicht zu bemerken. Franz hatte sich im Hintergrund gehalten und es auch nach dem Verlassen der Galerie nicht übers Herz gebracht, Evas Enthusiasmus einen Dämpfer zu versetzen.

Zu dem Zeitpunkt war Eva fast 40zig Jahre alt, eben keine junge Malerin mehr und bis auf die Freunde der Familie hatte sich noch niemand für Evas Bilder begeistert. Franz war der Einzige, der Evas Bilder jahrelang immer wieder gelobt hatte und sie bestärkte, auch ohne gesellschaftliche Anerkennung weiter zu arbeiten. Solange irgendwie genug Geld vorhanden war, sollte Eva in ihrem kleinen Atelier malen und er würde die Familie mit seinen Einkünften aus der Arbeit als Werbetexter über Wasser halten.

Franz und Eva schrammten zwar jeden Monat knapp an der offiziellen Armutsgrenze vorbei, doch ihrem Eheglück schadete das nicht. Ihr pubertierender Sohn war der Einzige, der unter der Situation zeitweise zu leiden schien. Für diesen war klar, dass er nie und nimmer eine Karriere als Künstler oder Schriftsteller anstreben würde.

Mein Name ist Tauber und wenn Sie jetzt die Güte hätten, Eva ans Telefon zu holen, wäre ich ihnen sehr verbunden.“ Die Stimme des Galeristen klang gereizt. Franz antwortete mit übertriebener Freundlichkeit. „Oh, Sie sind es. Tut mir Leid. Eva ist nicht da. Versuchen Sie es doch am Handy.“ Auch die Antwort auf diesen Satz war Franz vollkommen klar, erregte sich Tauber doch über eine Eigenschaft Evas, unter der er selber seit Jahren litt.

Eva hatte zwar ein Handy, gab auch bereitwillig ihre Nummer weiter, vergaß aber regelmäßig, ihr Telefon einzuschalten oder es beim Verlassen der Wohnung in ihre Tasche zu stecken.

Franz konnte stolz von sich behaupten, sein Mobiltelefon noch nie vergessen zu haben. Jeden Morgen, kurz nach dem Aufstehen ging er zum Schreibtisch, steckte sich seinen Ehering an den Finger und aktivierte sein Mobiltelefon. Dass er einen Anruf versäumte, kam so gut wie nie vor. Den Tag über trug er es in seiner Hosentasche oder legte es neben die Tastatur des Computers. Ab und an schielte er fast sehnsüchtig darauf, wartete, dass sich jemand bei ihm melden würde. Die Anrufe kamen spärlich. Seine Auftraggeber kontaktierten ihn meist via Email, und wenn dann doch einmal das Telefon läutete, war es sein Vater, der ihn aus dem Altersheim anrief, um sich über eine der Schwestern zu beschweren.

Eva war in ihrem Leben noch nie zu einem läutenden Telefon gelaufen. Weder Eitelkeit oder der Wunsch nicht gestört zu werden hielten sie davon ab, sondern ein Raum- und Zeitempfinden, dass nicht dem üblichen Maßstab entsprach.

Sie schien mit einer traumwandlerischen Sicherheit durchs Leben zu gehen, war sehr bescheiden und bei einer leicht erhöhten Dosis äußerer Reize schnell überfordert. Für Franz, der alles immer unter Kontrolle zu haben schien, mehrere Dinge gleichzeitig erledigen konnte, aber dadurch oft oberflächlich blieb, war sie die ideale Partnerin.

Wenn er an einem Sonntag morgen wie wild mit dem Staubsauger durch die Wohnung fuhr, konnte Eva seelenruhig im Bett sitzen, mit dem Sohn Monopoly spielen oder einfach die Zeitung lesen. Franz bewunderte Evas Gelassenheit, die nichts Überhebliches hatte. Sie mit Alltagsproblemen aus der Ruhe zu bringen, war kaum möglich und zwar nicht, weil sie über den Dingen stand, sondern diesen Sorgen keinen Zutritt zu ihrer eigenen Welt gewährte.

Hellhörig wurde Eva nur, wenn sie Angst hatte, Franz könnte eine andere Frau anziehender finden oder gar mit ihr verkehren. In diesen Momenten erkannte sie Franz kaum wieder und er musste sich etwas Besonderes einfallen lassen, um sie zu besänftigen.

Oft kam das nicht vor. Franz’ sexuelle Leidenschaften waren bei Eva gut aufgehoben, außerdem verließ er viel zu selten das Haus, um sich oder einer Frau die Chance zu geben, ihn aus dem warmen Nest der Ehe zu locken. Auch sein Körperbau, wie die Wahl seiner Kleider waren nicht dazu angetan, bei weiblichen Bekannten ein sexuelles Interesse zu wecken. Seine gelegentlich auftretenden Phantasien Frauen betreffend verscheuchte Franz ganz einfach mit der Vorstellung, welchen Orkan der Entrüstung er damit bei Eva auslösen würde. Diese Mischung aus Trägheit, Angst vor Ungemach, einem Mangel an Gelegenheiten und Evas Gabe, ihn auch körperlich glücklich zu machen, zementierten seine Treue.

Eva liebte es, sich auf Franz verlassen zu können. Er war Mann, wenn sie danach verlangte, und Ehemann, wenn der Alltag dies einforderte. Wie ein Fels in der Brandung meisterte er alle kleineren oder größeren Katastrophen und gab ihr doch genug Raum, das zu tun, was sie von ganzem Herzen liebte. Eva wollte malen, musste malen. In ihrem winzigen Atelier verbrachte sie Stunde um Stunde vor der Staffelei und war glücklich. Dass sie es sich fast nie leisten konnten, auf Urlaub zu fahren, war ihr egal, dass sie ihre Kleider in einem Second Hand Laden kaufen musste, störte sie nicht. Solange Franz mit seinen Werbetexten genug Geld erschrieb und sie nicht einer normalen Arbeit nachgehen musste, war Eva zufrieden.

Kurze Zeit, nachdem sie sich kennen gelernt hatten, war Franz klar, in welche Frau er sich da verliebt hatte und wie ihre Beziehung aussehen würde. Ein ähnlicher Humor, Übereinstimmung bei Geschmack und den wesentlichen Dingen des Lebens waren der Boden, auf dem sich ihre Ehe ausbreiten konnte.

Er würde die Rolle des Beschützers, des kleinen, aber zähen Schreibers, des Generals der alltäglichen Dinge übernehmen, während sie die Herrin über die Seele, die Tiefe, den Gleichmut und fundamental bedeutende Entscheidungen war. Ob sie ein Kind haben würden oder in welcher Wohnung man leben würde, entschied Eva. Er suchte den Namen des Sohnes aus und verhandelte den Preis mit dem Vermieter.

Fast blind hatten Franz und Eva sich diese Aufgaben zugeteilt und waren damit von einem glücklichen Ehejahr zum nächsten gewandelt. Ließen sich Freunde und Verwandte scheiden oder kauten an ihren jeweiligen Ehen wie an einem zähen Stück Fleisch, so war es für Eva und Franz ganz selbstverständlich, ein Paar zu sein.

Natürlich hatten auch sie, selten aber doch, Meinungsverschiedenheiten oder stritten sich wegen der einen oder anderen Kleinigkeit. Ja, Evas nicht aktiviertes Mobiltelefon war des öfteren gut für eine Auseinandersetzung. Franz, der immer wissen wollte, wo Eva gerade weilte, immer fürchtete, ihr könnte etwas zugestoßen sein, verzweifelte, wenn er wieder nur die Stimme auf ihrer Mailbox vernahm. Kam sie dann Stunden später unversehrt nach Hause, wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte.

Einerseits wollte er ihr aus Freude um den Hals fallen, weil sie zurückgekehrt war und nicht wie in seiner Phantasie auf einem Operationstisch mit dem Tode rang, andererseits wollte er sie erwürgen, weil sie wieder vergessen hatte, das Handy einzuschalten und dann für irgendeine Tätigkeit länger als geplant im Atelier geblieben war. Erkannte sie seine Aufregung, ging sie zu ihm, küsste ihn, lächelte und fragte ganz beiläufig: „Willst du einen Kaffee?“ Nein, Franz trank nur wenig Kaffee, da sein Blutdruck auch ohne Koffein zu hoch war, aber diese Frage beruhigte ihn immer wieder. Auch er musste lächeln, verzieh ihr in dem Augenblick und war nur noch froh über ihre Anwesenheit.

Der zweite Punkt, der immer, wenn nicht zu Streit so doch zu Diskussionen führte, war die Frage, wie das spärliche Einkommen verteilt wurde. Franz, der dieses Einkommen mit seinen Gebrauchstexten erwirtschaftete, forderte Sparsamkeit ein und Eva war alles andere als eine kostspielige Gefährtin. Auf manche Dinge bestand sie jedoch.

Das Geburtstagsfest für den Sohn fand Jahr für Jahr statt, auch wenn Franz immer wieder betonte, dass seine Eltern nie eine Feier zu seinen Ehren veranstaltet hatten und er auch ohne ein Zimmer voller Spielsachen eine glückliche Kindheit gehabt hätte.

Eva glaubte ihm zwar, gab das Geld aber trotzdem aus.

Die teuerste Anschaffung, auf die sie bestand, war, abgesehen von dem Besuch beim Friseur alle zwei Monate, das Flugticket für ihre Mutter. Auch wenn die kleine Familie wegen finanzieller Engpässe auf einen Urlaub am Meer verzichten musste, so kam Evas Mutter doch jedes Jahr für vier Wochen auf Besuch nach Wien. Dass die sehr fidele Mindestrentnerin ihre Pension im Haus ihres verstorbenen Freundes auf Mallorca verbrachte, hatte keinen Einfluss auf Evas Entscheidung. Franz, der lieber einmal in drei Jahren mit der Familie nach Mallorca gefahren wäre, als jedes Jahr die Mutter nach Wien zu bringen, lehnte sich immer wieder dagegen auf und musste schlussendlich doch nachgeben. „Mama verträgt die Hitze nicht“, war Evas Standardsatz und deshalb verbrachte Mama Jahr für Jahr den August in Wien.

Die Kosten für das Flugticket und der Unterhalt der Schwiegermutter waren nur ein Teil des Übels. Viel schwerer wog, dass Franz den August über sein Arbeitszimmer räumen musste. Dieses winzige Zimmer war sein Reich, seine Höhle, sein liebster Ort. Hier arbeitete er, hier konnte er gefahrlos von einer Karriere als großer Schriftsteller träumen, mit dem alten Kinderpullover voller Löcher am Leib auf die Tastatur des Computers einhämmern oder auf der Flöte „Fuchs du hast die Gans gestohlen“ spielen.

Schloss Franz die Tür des Zimmers, war es niemandem erlaubt, den Raum zu betreten. Elf Monate lang konnte Franz in seinem Zimmer tun und lassen was er wollte.

Eva verstand Franz, wusste, dass auch er einen Platz brauchte, der nur ihm gehörte, doch einen Tag vor Schwiegermutters Ankunft bat sie ihn, das Zimmer zu räumen. Sie tat dies sehr behutsam und versuchte jedes Mal die bittere Nachricht mit einem kleinen Geschenk, einem besonderen Essen oder Sex zu versüßen.

Franz trug den Computer ins Schlafzimmer, nahm die Flöte mit, den Kinderpullover, säuberte den Schreibtisch und runzelte den ganzen August lang die Stirn.

Der Schwiegermutter ging er so weit wie möglich aus dem Weg. Die Frau war ihm nicht unsympathisch. Ab und an erkundigte er sich nach ihrem Befinden oder half bei Besorgungen. Er blieb immer höflich, doch niemand zweifelte daran, dass er mit jeder Faser seines Körpers ihre Abreise herbeisehnte.

Die Schwiegermutter ignorierte diesen Wunsch, genoss ihren Urlaub vom Meer in vollen Zügen und war nicht bereit, das Opfer, welches Franz erbrachte, zu würdigen.

Mutter und Tochter verstanden sich großartig. Hätte es da nicht diesen Funken Eifersucht gegeben, weil die Tochter ihren Mann mehr liebte als die eigenen Mutter, wäre ihr Franz genauso gleichgültig gewesen wie sie ihm. Evas Liebe war das einzige As, das Franz der Schwiegermutter gegenüber ausspielen konnte und Ende August lag es in Form des Flugtickets auf dem Tisch. Gerne hätten Mutter und Tochter mehr Zeit mit einander verbracht, doch Franz zu Liebe nahm Eva Abschied und zeigte damit deutlich, wer am Endes des Tages die bedeutendere Person in ihrem Leben war.

Die Schwiegermutter verließ das Haus und die Falten auf dem Gesicht von Franz verschwanden. Er lächelte, küsste Eva und trug den Computer in sein Zimmer. Alles war wieder, wie es sein musste. Erst im nächsten Frühjahr würden sie wieder mit der Diskussion beginnen. Wieder würde er versuchen, Eva davon abzuhalten, die Schwiegermutter einzuladen, und wieder würde er sein Zimmer, sein Reich, räumen.

Das waren die wenigen Dinge, die dem Paar Unstimmigkeiten bescherten und wie froh sie über den Mangel an Zwist und Streitigkeiten sein konnten, zeigte sich jedes Mal, wenn das Paar Freunde oder Bekannte besuchte, die mit weit schwierigeren Dingen zu kämpfen hatten. Hand in Hand, verliebt, wie am ersten Tag, verließen Franz und Eva regelmäßig diverse Gesellschaften, freuten sich, dass sie sich hatten, nie im Leben eine andere Frau, einen anderen Mann begehren würden.

Als „Gleichgewicht der Leichtgewichte“ oder „Balance der Blinden“ wurde ihre Beziehung von den Freunden oft verspottet, doch der Spott war nichts als Gram über die eigene, meist unglückliche Ehe. Insgeheim sehnten sich die Freunde nach so einer Verbindung und ihr Fortbestehen war für sie ein Zeichen der Hoffnung, ein leuchtendes Beispiel für die Möglichkeit, Glück, Liebe und Ehe zu verbinden.

Herr Kreuzmaier!“ Taubers Stimme hatte eine feindselige Note angenommen.

Was? Haben Sie es schon auf Evas Handy versucht?“, antwortete Franz schnell und grinste von Ohr zu Ohr. Am anderen Ende der Telefonleitung schien Tauber schwer zu atmen. Der Mann war offensichtlich kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Mit gepresster Stimme antwortete er: „Gut, wenn Sie Eva sehen, sagen Sie ihr, sie soll mich umgehend zurückrufen. Auf Wiederhören.“

Franz wollte noch mit einem Gruß antworten, aber Tauber hatte schon aufgelegt. Er wusste, dass er diesen aufgeblasenen Schnösel ordentlich geärgert hatte, doch das Problem, die eigentliche Misere war damit nicht aus der Welt geschafft. Franz zog sich die Hosen hoch, den Gürtel fest, überlegte. Ja, die wahre Misere war da, bohrt sich wie ein Stachel in sein Fleisch, nagte an ihm, Tag für Tag.

Tauber war, ohne es zu wissen, zumindest Mitschuld. Die Ausstellung, die er organisiert hatte, war ein voller Erfolg gewesen. Viele Künstler konnten ihre Arbeiten verkaufen. Evas Bild fand auch einen Käufer. Sie und Franz freuten sich wie kleine Kinder und gaben das Geld sofort für ein Abendessen aus.

Die eigentliche Überraschung kam Tage später. Ein sehr bekannter Museumsdirektor war in Taubers Galerie gekommen und hatte sich in Evas Bild verliebt. Laut Taubers Erzählungen interessierte sich der Mann für kein anderes Bild und sprach nur darüber. Ein ebenfalls anwesender Kunstkritiker hörte das Lob des Museumsdirektors und schrieb einen hymnischen Artikel über das Bild und seine Malerin.

Das alles war vor knapp sechs Monaten geschehen und seit damals hatte sich einiges verändert. Evas Bilder waren mit einem Schlag heiß begehrt und Tauber hatte die Preise dafür kräftig angehoben. Mit der nächsten Ausstellung in seiner Galerie, die alleine Evas Arbeiten gewidmet war, hatte er mehr Geld verdient, als mit vielen anderen Künstlern davor.

Sein Verhältnis zu Eva hatte sich kurz nach dem Erscheinen des Artikels schlagartig verändert. Aus dem hochnäsigen, aufgeblasenen Schlabbersack war mit einem Mal ein väterlicher Freund und Förderer geworden. Er bedrängte sie, doch bitte, jede Minute im Atelier zu verbringen, zu malen, „zu erschaffen“, wie er es ausdrückte. Die nächste Ausstellung war bereits geplant und einige der Bilder für Sammler vorab reserviert. Eva war ein voller Erfolg und sie verdiente Geld, mehr als das Paar je zuvor zur Verfügung gehabt hatte.

Franz beschloss, mit den ersten größeren Beträgen zuerst einmal die Schulden, die das Paar bei diversen Verwandten hatte, zu begleichen. Als diese bezahlt waren, dachte Franz, dass ein Versiegen des Geldsegens nun kein Problem mehr wäre und man zur jahrelang geübten Bescheidenheit zurückkehren könnte, doch das geschah nicht.

Eva verkaufte Bild um Bild und der Kontostand bliebt hartnäckig im Plus. Nach den Schulden kamen Anschaffungen, die lange geplant waren. Ein neues Bett, ein neuer Herd und ein Notebook für Eva wurde gekauft, immer mit dem Hintergedanken, dass Evas Einkünfte eine Art Bonus waren, der schnell versiegen würde, womit die tagtäglich anfallend Kosten wieder von den Honoraren, die Franz erwirtschaftete, bestritten werden mussten.

Als Eva eines Tages mit einem neuen Kleid, eingepackt in Seidenpapier und einen Karton einer Innenstadtboutique nach Hause kam, wusste Franz, dass sich etwas verändert hatte. Noch vor wenigen Monaten hätte das Auftauchen so eines Kartons eine der raren Ehekrisen verursacht, doch diesmal war es Franz unmöglich, Eva Verschwendung, finanziellen Wahnsinn, ja Egoismus vorzuwerfen. Das gemeinsame Konto war noch immer prall gefüllt mit Evas Einkünften und jetzt hatte sie sich – mit ihrem Geld – ein Kleid gekauft.

Sie strahlte, als sie es anzog. Franz wusste schon vorher, dass es ihm nicht gefallen würde, und war dann doch beeindruckt. Die Schwiegermutterfalten zeigten sich auf seiner Stirn, mitten im Juni. Ein rettender Gedanke glättete sein Gesicht. Ja, Geld war da, doch die Steuer, die Sozialabgaben, alles Dinge, mit denen Eva bis vor kurzem noch keinen Kontakt hatte, würden den neuen Reichtum sofort wieder hinwegraffen, weshalb es besser wäre …

Nein, mein Schatz. Tauber hat mir einen Steuerberater empfohlen und der hat das alles geregelt. Das Geld auf dem Konto gehört uns. Uns ganz allein. Das ist so eine Art netto, weißt du.“

Die Falten waren wieder da und vertieften sich am folgenden Abend. Eva sah bezaubernd aus in dem neuen Kleid, dass sie anlässlich der Gala, zu der sie der Museumsdirektor eingeladen hatte, trug. Natürlich war auch Tauber anwesend und der reichte Eva herum, stellte sie Sammlern und anderen Menschen aus der Kunstbranche vor. Alle waren ganz begeistert von Eva, die nie darauf vergaß, auch Franz vorzustellen. Nach einem höflichen Händedruck wandten sich die Gesprächspartner sofort wieder an Eva. Niemand interessierte sich für Franz´ Anekdoten aus der Werbewirtschaft, die er sonst immer bei gesellschaftlichen Anlässen zum Besten gab.

Diesmal war es nicht Eva, die still neben dem so welterfahrenen Partner saß, sondern Franz, und der war über diese neue Rolle gar nicht erfreut. Relativ bald stellten sich bei Franz Kopfschmerzen ein und er drängte Eva, doch bald nach Hause zu gehen. Eva, nicht gewöhnt im Mittelpunkt zu stehen, nahm das Angebot gerne an. Am Weg hinaus raunte ihr Tauber noch zu, dass er schon wieder zwei Bilder von ihr verkauft habe und sie doch bitte schneller malen möge.

Schweigend standen sie spät abends an der Straßenbahnhaltestelle, hielten sich an den Händen. Gerade als Franz anfangen wollte, über einige von Evas Bewunderern zu lästern, fuhr ein Taxi vorbei. Schnell hob Eva die Hand und das Taxi hielt an. Franz wollte wegen der anfallenden Kosten protestieren, doch Eva zog ihn hinter sich her. Mit dem Argument, er habe doch Kopfschmerzen, öffnete sie ihm die Wagentür.

Im Taxi, sagte sie dem Fahrer die anzufahrende Adresse, eine Aufgabe, die bis dato immer er innegehabt hatte. Als der Wagen vor ihrem Haus hielt, versuchte Franz nicht einmal nach seiner Geldbörse zu greifen. Der Abend war sowieso gelaufen.

Die folgenden Tage verbrachte Franz mit einem Schleier auf seinem Gemüt. Nichts freute ihn, keiner seiner Aufträge konnte ihn ablenken.

Normalerweise entwickelte er einen gerade zu sportlichen Ehrgeiz, aus einem absurden Thema einen Text zu schnitzen. Aus einer getrockneten Wurst, etwas Käse und einem Stück Paprika ein bodenständiges Festessen für die erlebnishungrige, aber konfliktscheue A Schicht der Gesundheitsschuhträger mit höherer Schulbildung zu machen, war so ein Auftrag.

Einige Hundert Euro hatten ein paar Wirte für einen passenden Text investiert. Mit der Not im Nacken hatte sich Franz des Problems angenommen und ein für die Wirte befriedigendes Ergebnis geliefert. Doch jetzt schien ihm irgendwie der Grund abhanden gekommen zu sein, dieser Art von Absurdität einen tieferen Sinn zu entlocken.

Um die Miete musste sich Franz keine Sorgen machen. Selbst wenn er die nächsten vier Monate keine Aufträge mehr annahm, hatten sie nach dieser Zeit noch immer mehr Geld auf dem Konto als vor Evas erster offizieller Ausstellung.

Franz starrte tagelang aus dem Fenster. Gedanken schossen ihm durch den Kopf, die ihm vollkommen neu waren: Evas Erfolg war schuld, Tauber war schuld, diese Kunstvermittlerfritzen waren schuld, die reichen, kunstkaufenden Geldsäcke waren schuld, alle waren schuld und Evas Bilder waren doch bitte nicht so viel Geld wert.

Nein, noch schlimmer. Eva war mit einem Mal zu einer vollwertigen Künstlerin geworden und er ein Gebrauchsautor, ein Sprachsöldner geblieben.

Franz kam sich plötzlich schrecklich nutzlos, ja minderwertig, vor, bis er eines Tages eine neue Idee gebar.

Warum sollte er nicht einmal einen Roman schreiben, Kunst statt Kommerz schaffen, er, der Prinz der Schaumschläger, musste einfach nur die Seiten wechseln. Jetzt hätte er Zeit, könnte ohne finanziellen Druck tagelang an Formulierungen feilen, große Texte über Liebe, Hass, menschliche Abgründe und seelische Ländereien verfassen.

Glücklich und voller Tatendrang macht er sich an die Arbeit. Eva, der Franz’ schlechte Laune natürlich aufgefallen war, freute sich, ihn wieder so strahlend zu sehen und ermutigte ihn. Franz sollte diese neue Freiheit genießen und einmal die Worte schreiben, die ihm wirklich am Herzen lagen.

Franz merkte an, dass echte schriftstellerische Arbeit aber um einiges mehr Konzentration verlange, weshalb Eva einen größeren Teil der Hausarbeiten übernehmen müsste, um ihm die notwendige Zeit zu geben. Eva stöhnte. Der Termin für die nächste Ausstellung stand schon fest und Tauber verlangte nach mehr Bildern. Andererseits schien es nur gerecht, dass Franz, der ja jahrelang seine schriftstellerischen Fähigkeiten der finanziellen Not geopfert hatte, den nötigen Freiraum bekam. Zufrieden besiegelte das Ehepaar den Pakt mit mehreren Küssen.

Auch diese Küsse waren Geschichte. Seit zwei Monaten saß Franz vor dem Bildschirm und überlegte, worüber er schreiben sollte. Mehrere Ideen hatte er geboren und gleich wieder verworfen. Diese Freiheit, schreiben zu dürfen, was er wollte, ohne sich um einen vielleicht beleidigten Auftraggeber sorgen zu müssen, lastete auf ihm wie ein Stein.

Er hatte sich abgelenkt, in seiner Not kleine Gedichte geschrieben und auch diese wieder gelöscht. Er hatte sich bemüht, doch die Intervalle zwischen den Worten, die er schlussendlich schrieb, wurden immer länger. Er lenkte sich ab, flüchtete in ein Computerspiel, saugte die Wohnung, las die Zeitung. Sein Arbeitszimmer wurde immer mehr zu einer Burg, in der er sich verschanzte.

Noch seltener als zuvor war es Eva erlaubt, auch nur einen Blick hinein zu werfen. Panisch achtete er darauf, dass niemand in die Nähe seines Computer kam, fürchtete, dass seine so zeitraubende Untätigkeit vielleicht entdeckt werden würde.

Auf seine Arbeit angesprochen antwortete er mürrisch, meinte, dass sich ein Roman eben nicht so leicht schreibt wie ein Werbetext, die Entwicklung der Geschichte aber vielversprechend sei. Eva schien die Beschränkung ihrer Arbeitszeit nur noch weiter anzuspornen. Nie zuvor hatte sie so entschlossen gearbeitet und die Qualität ihrer Bilder wurde noch besser. Franz, der sie ab und zu im Atelier besuchte, verließ dieses meist wie gelähmt. Seine Frau, die einst so Schutzbedürftige, sein behütetes Reh, hatte sich zu einer eigenständigen, anerkannten künstlerischen Kraft entwickelt. Niemand, absolut niemand konnte dieses Faktum bezweifeln. Eva brauchte keinen Schutz mehr, niemanden, der sie anspornte oder ihre Bilder lobte, weil sonst kein Bewunderer zur Verfügung stand.

Franz musste sich eingestehen, dass er Tauber sogar dankbar für seinen Anruf war. Jetzt war das Telefon wieder stumm und Franz blieb nichts anderes übrig, als die Zeile, die er in den letzten drei Stunden geschrieben hatte, noch einmal zu lesen.

„Konrad Maulbeer wusste, dass dieser Tag nicht gut enden würde.“ Ein hübscher Satz, dachte sich Franz, aber er hatte keine Ahnung, warum der Tag für Konrad Maulbeer nicht gut enden würde. Wenn schon keinen Roman, so wollte er doch wenigstens an einer Kurzgeschichte arbeiten. Die Idee, einen Gedichtband zu verfassen, hatte er verworfen. Sein Urteilsvermögen als Leser war intakt geblieben, was die Situation nur verschlimmerte. Der neue Plan war, eine kleine Geschichte über einen Mann zu schreiben, der in der Früh zufrieden aufsteht und am Abend bereit ist, sich das Leben zu nehmen. Das konnte doch nicht so schwer sein.

Es läutete an der Tür. Erleichtert erhob sich Franz. Wieder waren ein paar Minuten gewonnen.

Herr Kreuzmaier, hätte Sie vielleicht einen Bohrer für mich und…“ Sie sah an ihm herab und zögerte einen Augenblick.

Franz starrte seine Nachbarin ausdruckslos an. „Was für einen Bohrer?“ Der Blick der jungen Frau pendelte zwischen Franz Gesicht und seiner Leibesmitte hin und her.

So einen für die Wand“

„Steinbohrer?“

Ziegelbohrer, oder?“

„Das wäre dann ein Steinbohrer.“

„Wenn Sie meinen.“

Conny hieß die Nachbarin, die vor einem Monat in die Nachbarwohnung eingezogen war. Franz hatte sie ein paar mal auf der Stiege getroffen, kurz mit ihr geplaudert und nach wenigen Augenblicken festgestellt, dass ihm diese 20 Jahre jüngere Frau absolut gleichgültig war.

Conny war vom Land nach Wien gekommen, um hier einen Marketinglehrgang zu absolvieren. Sie litt offensichtlich unter einem Kommunikationsnotstand und versuchte diesen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu kompensieren.

Bei ihrer ersten Begegnung auf der Stiege, bat sie Franz, er möge doch auf einen Kaffee vorbei kommen. Er dachte nicht im Traum daran, ihr Angebot anzunehmen.

Connys Dialekt, ihre rundliche Gestalt, die große Oberweite und dieser Tick, immer um eine Spur zu nahe vor Franz zu stehen, hatten ihn abgeschreckt.

Menschen vom Land hatten für seinen Geschmack etwas zu Direktes und einen fast ungustiösen Mangel an gesundem Misstrauen.

Dass Conny jugendlich, strahlend lächeln konnte, war ebenfalls nicht hilfreich. Mit jungen Frauen konnte Franz nicht viel anfangen. Für ihn lebten diese in einer ganz anderen Welt, ohne Zukunftsängste, Mietschulden, Schwiegermütter, Erziehungsfragen oder Gedanken über gescheiterte Karrieren. Diese Welt war vor zwanzig Jahren auch seine gewesen, nur heute schien sie für Franz weit weg, eine blasse Erinnerung ohne viel Emotion, wie ihm überhaupt sein ganzes Leben vor der Ehe mit Eva lächerlich vergangen und bedeutungslos vorkam.

Franz starrte Conny gedankenverloren an, wartete auf ihre Entscheidung bezüglich des Bohrers und wunderte sich nicht über ihren pendelnden Blick.

Nein, ich verstehe sie nicht, diese jungen Frauen, dachte er, und sah dann doch auf ihre recht ansehnliche Oberweite. Große Busen sind, wie es Franz einmal salopp formuliert hatte, nicht so mein Ding.

Eva hat kleine, wohlgeformte, wunderschöne Brüste, die für immer ihre Form zu behalten schienen. Das waren kleine Birnen, die man liebevoll umsorgen konnte. Die hatten nichts mit dieser geballten Ladung Wollust zu tun, die sich, bedeckt durch eine dünne Bluse, mit großem Ausschnitt vor Franz auftürmte. Franz runzelte die Stirn. Ja, große Brüste waren ihm irgendwie unheimlich.

„Sie starren mich an, wie ein brünftiger Stier, Herr Kreuzmaier.“

Ah so?“ Ja, da war sie wieder diese ländliche Direktheit, die so gar keine Sensibilität für das Gegenüber erkennen ließ. Natürlich hatte er auf ihre Brüste gestarrt, aber keinesfalls wie ein brunftiger Stier; ganz im Gegenteil, wie er dachte, und sah Conny gleichgültig an.

„Jetzt wäre es halt noch gut zu wissen, welche Größe Sie bräuchten.“

Conny lächelte ihn an.

„Welche Größe haben Sie denn?“

Bitte, lass das nicht wahr sein. Hat dieses Landmenschenkind gerade eine anzügliche Bemerkung gemacht, überlegte Franz.

Die Millimeter-Größe des Bohrers, Conny, bitte schnell, ich habe zu arbeiten“, antwortete er schneidend.

Connys Lächeln erstarb und ihr Gesichtszug nahm einen fast leidenden Ausdruck an.

Ich glaub‘ drei Millimeter, Herr Kreuzmaier, bitte.“

Franz ließ Conny vor der Tür stehen, ging schnell in die Küche, zog die Werkzeugkiste unter der Bank hervor und nahm den Bohrer aus der Schachtel.

Franz war stolz auf seinen Werkzeugkasten. Die Ordnung der diversen Gerätschaften signalisierte männliche Geradlinigkeit. Echte Männer haben einen ordentlichen Werkzeugkasten, auch wenn sie handwerklich nicht begabt sind, dachte Franz.

Mit dem gewünschten Bohrer stand er kurz darauf wieder vor Conny. Die schien mit Tränen zu kämpfen, hielt sich ein Taschentuch an die Augen und machte einen zutiefst traurigen Eindruck. Franz tat als würde er das nicht bemerken.

Hier, der Bohrer. Und bitte bring ihn mir zurück, wenn du fertig bist.“

Ja, sicher, Herr Kreuzmaier, ganz sicher. Und wegen vorher, es… es tut mir wirklich leid… das wegen dem brunftigen Stier… das war nur ein Scherz… aber sie haben wirklich so auf meinen Busen gestarrt und ihr Hosentürl ist offen, da hab ich gedacht, ich sag…“

Franz sah schnell zu seinem Reißverschluss. Der stand weit offen und aus den Boxershorts lugte die Spitze seines Penis. Heiliger Himmel, durchfuhr es Franz. Schnell schob er sein Gemächt zurück und zog den Reißverschluss hoch.

Entschuldige, das … das war ein Versehen, wirklich, ich schwöre, das…“ Seine Ohren liefen rot an und diese Reaktion schien Conny zu beruhigen. Dieses wunderbar, sonnige Jungmädchenlächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

Franz atmete tief durch, sah Conny an und entspannte sich ebenfalls. Ja, sie hatte zwar einen großen Busen, aber ihr Lächeln war doch beeindruckend. Bevor es zu einer größeren Verbrüderung kommen konnte, runzelte Franz wieder die Stirn und meinte ernst:

„Ich habe nicht auf deinen Busen gestarrt und bring den Bohrer bitte heute noch zurück.“

Connys Lächeln erstarb. Sie senkte den Blick, wie ein ertapptes Schulkind und nahm den Bohrer.

„Mach ich, Herr Kreuzmaier. Sicher. Danke.“

Franz nickte und schloss die Tür. Das war knapp, dachte er und ging zurück in sein Zimmer. Der Computerbildschirm war in den Stand-By Modus übergegangen und der Schriftzug „Wie viele Seiten?“ leuchtete Franz rot entgegen.

Diesen Schriftzug hatte er am Anfang seiner Tätigkeit als Romanautor ausgesucht, doch bisher war es ihm überhaupt nur einmal gelungen, mehr als eine Seite Text zu verfassen.

Franz starrte den Bildschirm an. Da war es wieder: das Dilemma, das eigene Versagen und Evas Erfolg, die erniedrigende Erkenntnis auf künstlerischem und finanziellem Gebiet weit abgeschlagen hinter Evas Ruhm zurückgefallen zu sein. Er war nicht mehr der Ernährer dieser Familie und, würde er in diesem Moment tot umfallen, hätte das kaum längerfristige Auswirkungen gehabt. Franz vorzuwerfen, er sei ein Macho, ein Patriarch, ein Verhinderer weiblicher Entwicklung, ein Bollwerk gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter, war nicht möglich, doch in diesem Moment stellte er sich eine Frage, die ihm zuvor noch nie in den Sinn gekommen war:

Bin ich ein Mann?“, rief er Richtung Bildschirm.

Statt eine Antwort türmten sich weitere Fragen auf. Was ist ein Mann, abgesehen von den primären Geschlechtsorganen, den Haaren auf den Ohren oder dem unerklärlichen Drang, an den eigenen Socken zu riechen? Was macht ihn aus? Oder, anderes gefragt: kann man diesen Status auch verlieren? Wird man zu einer Art Zwitterwesen, wenn die Frau Geld und Ruhm nach Hause bringt, wesentliche Entscheidungen trifft, abends nicht kochen will und daher eine Pizza mit Pilzen bestellt, die das Männlein dann abholen muss, obwohl es Champignons nicht ausstehen kann?

Franz Hände begannen zu zittern, sein Kopf sank auf die Tastatur. Ein Wirrwarr an Buchstaben erschien auf dem Bildschirm und spiegelte damit Franz inneren Zustand. Nach exakt 40 Sekunden bewirkte die Verlagerung des Kopfes ein höhere Durchblutung einer nicht näher definierten Region im Hirn. Das Resultat war ein Gedanke, der Franz ein Gefühl bescherte, welches man mit dem Licht am Ende des Tunnels oder dem Silberstreifen am Horizont vergleichen kann.

Ein Mann begattet eine Frau und, will er sein biologisches Ziel der größtmöglichen Verbreitung erreichen, bleibt es eben nicht nur bei einer. Die simple Gleichung, dass sich der Mann-Faktor eines Mannes mit der Zahl der begatteten Weibchen erhöht, lag klar und eindeutig vor Franz.

Es gab viele Männer, die absolut keinen Mehrwert erwirtschafteten, zu Hause faul auf der Couch, aber im entscheidenden Moment eben obenauf lagen. Ein wahrer Hengst konnte den IQ einer Weinbergschnecke oder das Einkommen eines Schreibmaschinenhändlers haben, die Frauen würden trotzdem einen leicht verschleierten Blick bekommen und um nichts in der Welt seinen Status als Mann hinterfragen.

Da war er also, schloss Franz messerscharf, der Ausweg. Das rettende Ufer aus diesem Morast der Selbstzweifel lag zwischen den Schenkeln einer Frau, und mit „einer Frau“ war in diesem Moment ganz bestimmt nicht Eva gemeint. Würde er es zustande bringen, ein Weibchen zu bespringen, eines das nicht aus ehetechnischen Gründen quasi dazu verpflichtet war, wäre die Balance zwischen ihm und Eva wieder hergestellt.

Die Frage, welches Weibchen dafür in Frage kam, seinen Status als Mann wieder herzustellen, lag auf der Hand: Conny, die Nachbarin mit der erschreckenden Oberweite schien in diesem Augenblick die geeignetste Kandidatin. Fieberhaft dachte Franz nach, versuchte einen Schlachtplan, eine Strategie zu entwerfen, ihr auf schnellstem Wege die Kleider vom Leib reißen zu können.

Kalkulierte man Connys Kommunikationsnotstand mit ein, würde sie es vielleicht gar nicht mitbekommen, dass sie besprungen wird, solange man ihr gestattete, während der Begattung weiter plaudern zu dürfen. Was, wenn Conny aber nur reden wollte und sich im entscheidenden Moment weigerte, die Kommunikation auf die diversen Körpersäfte auszuweiten. Konnte er Conny verführen? Hatte er jemals eine Frau verführt, die ihm vorher nicht eindeutig signalisiert hatte, verführt werden zu wollen? Nein, die letzte Frage konnte er ganz eindeutig beantworten. Die Kontakte zu Frauen, die Franz vor seiner Ehe mit Eva gehabt hatte, waren, mit Blick auf die üblichen Variablen, immer nach dem gleichen Muster verlaufen.

Stufe 1: „Männlein schaut“. (100 %)

Stufe 2: „Weiblein schaut weg.“ (64, 3% ) oder „Weiblein lächelt.“ (35,7%)

Stufe 3: „Männlein kommt näher, tanzt sich Seele aus dem Leib, lässt Charme sprühen, bestellt hochprozentigen Alkohol, bezahlt mit letztem Hemd.“ (35,7% )

Stufe 4: „Weiblein geht mit bestem Freund nach Hause.“ (32, 1%) oder „Weiblein wird von bester Freundin auf der Toilette medizinisch versorgt und kann sich am darauffolgenden Tag an keine Kontaktaufnahme erinnern.“ (2,4%)

Stufe 5: Weiblein meint mit Blick auf Uhr und sich leerender Tanzfläche: „Okay, du kannst mitkommen, aber du musst dich vorher duschen und ein Kondom verwenden.“ (1,2%)

Welcher Prozentsatz auch immer zur Anwendung kam, die Entscheidung für oder gegen eine Kontaktaufnahme war immer von der Frau getroffen worden. Verschärft wurde die gegenwärtige Lage dadurch, dass Franz keinen Alkohol mehr trank und wilde Tanzschritte an einem ganz normalen Nachmittag die Erfolgsaussichten wahrscheinlich schmälern würden.

Franz runzelte die Stirn. Alles hing davon ab, ob man die Signale, die er bei Connys Besuch vor einer Stunde empfangen hatte, als Sprunglizenz deuten konnte oder eben nicht. Franz schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch und stand auf. Gab es eine Wahl? Nein. Die Option, weiter die Zeit damit zu verbringen, auf den Bildschirm zu starren, während die letzten Reste seines Selbstbewusstseins verschwanden, war schlimmer als jede Ablehnung.

Festen Schrittes und voller Tatendrang ging er durch die Wohnung hin zur Eingangstür. Als er nach der Türschnalle griff, zögerte er einen Augenblick. Was würde passieren, wenn Eva von seinem Abenteuer erfahren würde? Ohne seinem Hirn die Chance einer Antwort zu geben, machte Franz’ Körper quasi autonom auf dem Absatz kehrt und ging zurück Richtung Schreibtisch. Sollte Eva je von so einem gemeinen, vorsätzlichen Akt erfahren, hätte Franz zwar einen Teil seines männlichen Selbstbewusstseins zurück, aber keine Wohnung mehr und müsste mit einer Axt im Rücken auf einer Parkbank nächtigen.

Der Bildschirmschoner seine Monitors war wieder aktiv. „Wie viele Seiten?“ leuchtete es Franz entgegen. Er blieb stehen. Nein, sie wird es nie, nie, nie erfahren.

Sekunden später stand Franz vor Connys Wohnungstür und betätigte den Klingelknopf. Die Strategie sah vor, ab der ersten Sekunde keine Zweideutigkeiten zuzulassen. Er würde sofort klar machen, warum er angeläutet hatte, und sollte sich Conny wenig später bei Eva über seine verbale Entgleisung beschweren, würde er einfach alles abstreiten. Eva hatte Conny ebenfalls einmal im Stiegenhaus getroffen und noch eine Stunde später Worte wie „dumme Kuh“ und „halluzinierende Landpomeranze“ vor sich hin gemurmelt.

Conny öffnete die Tür, lächelte. Franz machte ein ernstes Gesicht, trat einen kleinen Schritt näher, sah ihr direkt in die Augen und beantwortete ihr freundliches „Hallo“ mit den Worten:

„Ich muss mich entschuldigen. Du hattest recht. Ich bin ein brunftiger Stier und habe deine Brüste angestarrt. Wenn du gestattest, würde ich dir jetzt gerne meinen Bohrer zeigen.“

Conny war zu erstaunt, um etwas erwidern zu können. Sekunden später konnte man die Worte einer jungen Frau, die sich wohl im Inneren der Wohnung aufhielt, hören:

„Hey Conny, ist das schon wieder dein perverser Nachbar, der versucht, mit seinem Stummelschwanz zu wedeln.“

Physiologisch interessant war, dass die Ohren von Franz und Conny kurz nach diesem Satz die jeweils gleiche signalrote Färbung aufwiesen. Dann erschien der Kopf der Sprecherin im Türrahmen. Die Dame war ungefähr gleich alt wie Conny und musste eine Studienkollegin sein. Als diese Franz sah, erschrak sie leicht und stammelte: „Oh, entschuldigen Sie, ich dachte Sie, Sie sind die Sylvia.“

Franz, der inständig hoffte, dass seine roten Ohren nicht den falschen und daher richtigen Eindruck vermitteln würden, antwortete geistesgegenwärtig:

„Nein, ich bin nicht die Sylvia, ich bin der perverse Nachbar mit dem Stummelschwanz.“

Diese Antwort war keineswegs erwartet worden und führte dazu, dass alle drei in ein großes Gelächter ausbrachen. Trotz der Tränen in den Augen der Lachenden wussten zwei von ihnen genau, wie gefährlich nahe die dritte Person der Wahrheit gekommen war.

Als sich die drei wieder beruhigt hatten, bat Conny Franz in die Wohnung, bedankte sich für die angebotene Hilfe. Ja, die Handhabung der Bohrmaschine wäre nicht nach Plan verlaufen. So beiläufig wie möglich schritt Franz durch die Wohnung, erkannte das technische Problem und löste es binnen weniger Minuten.

Auch Connys Studienkollegin war aufrichtig erstaunt, wie schnell Franz diese Aufgabe erledigt hatte und entschuldigte sich noch mehrmals für die vorlaute Bemerkung. Franz behauptete, selbst einmal jung gewesen zu sein und Verständnis für solche Späße zu haben.

Bemerkenswert an dem weiteren Verlauf des Besuches, der fast zwei Stunden dauerte, war aber etwas anderes. Die Damen trafen sich, um an Werbetexten zu arbeiten, die sie, einen Tag später, dem Leiter des Marketing-Lehrgangs vorlegen sollten. Franz hatte erzählt, dass er seinen Lebensunterhalt mit solchen Texten finanzierte, woraufhin die Damen ihn baten, doch einen Blick auf ihre bisher verfassten Zeilen zu werfen.

Franz las sich die Texte durch. Hatten die Damen anfangs noch gelacht und immer wieder die eine oder andere Bemerkung betreffend Bohrer und seines Besitzers gemacht, so stellten sie nun fest, wie gewissenhaft und professionell Franz die Texte kommentierte.

Innerhalb kurzer Zeit hatte sich auch bei Franz eine Wandlung vollzogen. Das Verfassen von Texten war für ihn kein Kinderspiel sondern ernsthafte Arbeit. Nachdem er klar analysiert hatte, wo die Stärken und Schwächen der einzelnen Arbeiten lagen, schwiegen die Damen leicht betreten.

Franz erkannte die Stimmung. Nein, nein, die Texte wären an und für sich nicht schlecht, man müsste nur hier und da etwas umformulieren, dort einen Satz streichen bzw. die Struktur leicht verändern.

Die Damen blieben stumm. „Das ist doch kinderleicht“, rief Franz.

„Für Sie“, warf Conny ein. Die Freundin nickte und beide sahen Franz mit großen Augen an. Franz begriff, welche Richtung die Gedanken der Frauen eingeschlagen hatten und sah auf die Uhr. Er war nicht gekommen, um ihre Hausarbeiten zu erledigen, sondern um, wollte man bei der Wortwahl von Connys Freundin bleiben, mit seinem Schwanz zu wedeln.

Die Damen wiederum waren gedanklich schon einen Schritt voraus. Synchron drehten sie sich zu Franz, lächelten ihn an, reckten die versammelten Oberweiten, leckten sich die Lippen und ließen ihre Wimpern flattern. Franz wollte sich davon nicht beeindrucken lassen, doch es gibt ein Netz, in dem sich jeder Fisch verfängt: Lob und Anerkennung.

Wie kann ein so talentierter Mensch wie Sie, so lange unentdeckt bleiben?“, kam es ganz unschuldig aus Connys Mund. Franz dachte ernsthaft über diese Frage nach, „Ja, wissen Sie, das Leben ist nicht immer…“ und war gefangen. Während er die Arbeiten der Damen erledigte, streichelten sie sein ausgetrocknetes, geschundenes Ego so gekonnt, dass er ihnen alle Arbeiten des zweijährigen Lehrgangs ausformuliert zu Füßen gelegt hätte.

Nach einer Stunde saß er schweißgebadet und selig grinsend vor den fertigen Texten. Die Freundinnen bedankten sich und reduzierten die Frequenz der verbalen Streicheleinheiten auf null. Franz erhob sich widerspruchslos, verabschiedete sich artig und wankte trunken vor Glück zur Tür. Kurz bevor er sie öffnen konnte, hielt ihn Conny zurück. Ernst sah sie ihn an.

Ich weiß … weshalb Sie zu mir gekommen sind. Und …ich…“, hier stockte Sie ein wenig, „… ich meine, ihr Angebot, ach was…“

Schnell zog sie ihre knallrote Unterhose unter ihrem Rock hervor und reichte sie dem erstaunten Franz.

„Das ist, … so eine Art Trostpflaster und wenn sie wieder einmal …ein Problem haben… dann, dann bringen Sie mir die. Vielleicht ergibt sich ja etwas.“

Fast gerührt nahm Franz den Damenschlüpfer an sich, dankte und ging. Wie ein Ritter nach dem entscheidenden Kampf, gestärkt vom Blut des getöteten Drachen, gewappnet mit dem sorgfältig in seiner Hosentasche verstauten Damenschlüpfer, steckte er den Schlüssel in das Schloss seiner Wohnungstür.

Wieder allein saß Franz vor seinem Computer, zögerte nur wenige Sekunden und löschte mit einem Tastendruck die wenigen Zeilen seines Romans. Anschließend griff er zu seinem Telefon und rief den Herrn von der Agentur an, der ihn in der Vergangenheit mit Aufträgen für Werbetexte versorgt hatte.

Er entschuldigte sich für sein abweisendes Verhalten im letzten Monat und bat um neue Aufträge. Der Mann freute sich über Franz Gesinnungswandel. Ja, es gäbe da eine knifflige Aufgabe, für die Franz genau der richtige Mann wäre: 300 Wörter über das neue Modell eines Druckkochtopfes, gespickt mit emotionalen Höhepunkten würden dringend einen Autor suchen. Franz nahm den Auftrag an, ließ sich ein paar Details betreffend das Kochtopfmodell durchgeben und begann zu schreiben.

Nach zwei Stunden war der Text fertig und Franz rechtschaffend erschöpft. Ohne sich sein durchgeschwitztes Hemd auszuziehen, warf er sich auf sein Bett und schlief ein. Das erste Mal seit langer Zeit schlief er tief und fest. Eva, die am frühen Abend nach Hause gekommen war, wunderte sich zwar, freute sich aber, ihren Franz so entspannt schnarchend vorzufinden.

Franz blieb entspannt. Die Möglichkeit, jeder Zeit die Nachbarwohnung aufsuchen zu können und mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht abgewiesen zu werden, hatte ihn befreit und gestärkt zugleich. Eine junge, attraktive Frau hatte ihm eine Art Card Blanche, oder Card Rouge in die Hand gegeben, mit der er seine Männlichkeit beweisen konnte. Er hatte es nicht mehr notwendig, wirtschaftlich erfolgreicher als Eva zu sein oder künstlerisch mit einem gedruckten Roman sein Ego zu stärken.

Die Tage vergingen, Franz schrieb einen Text nach dem anderen und war glücklich. Eva freute sich, Franz wieder so fröhlich zu sehen. Die gedrückte Stimmung im Haus hatte auch ihre Arbeit beeinflusst, doch jetzt wo Franz zu seiner grundsätzlich liebevollen, optimistischen Stimmung zurückgekehrt war, malte sie mit noch größerem Elan.

Der Sommer kündigte sich an und wurde von allen Bewohnern der Stadt mit offenen Armen empfangen. Der Sohn beendete sein Schuljahr zur Freude seiner Eltern mit guten Noten und widmete sich ganz den militärischen Kommandoaktionen auf seiner Spielkonsole.

Seine dauernde Anwesenheit in der Wohnung störte Franz, der sich in seinem geliebten Arbeitszimmer aufhielt, nicht im geringsten. Hatte Franz einmal ein Problem mit einem Text, zog er den roten Schlüpfer aus der Lade, betrachtete ihn kurz und war danach wieder so motiviert, dass er jede textliche Hürde überspringen konnte.

Nach einiger Zeit war auch das nicht mehr notwendig. Schon der Gedanke an den Schlüpfer erzielte die gewünschte Wirkung. Connys Angebot je anzunehmen, kam ihm nie in den Sinn. Traf er sie im Stiegenhaus, lächelten die beiden einander an und setzen ihren jeweiligen Weg weiter fort.

Mitte Juli erfuhr Franz eher zufällig, dass Conny aus der Nachbarwohnung ausgezogen war. Diese Information bekam er von einem jungen Mann mit strahlend blauen Augen, der einen Blumentopf die Stufen hinab trug. Franz erkannte den Topf und sprach den jungen Mann an. Der verkündete recht stolz, dass dies Connys letzter persönliche Gegenstand in der Wohnung war und er diesen jetzt in die neue, gemeinsame Behausung verfrachten würde.

Franz lächelte, bat den jungen Mann, Conny seine besten Grüße auszurichten und wünscht beiden viel Glück für den weiteren Lebensweg. Fast gerührt reichte ihm der junge Mann mit den strahlend blauen Augen die Hand.

Ja, alles war wieder, wie es sein sollte. Als Eva Franz am 28. Juli daran erinnerte, dass die Schwiegermutter wie jedes Jahr den August in seinem Arbeitszimmer verbringen würde, waren auch die Falten auf Franz’ Stirn wieder da. Nichts hatte sich geändert. Franz legte vergebens Protest ein, hörte sich die alle Jahre wiederkehrenden Argumente an, brachte die eigenen vor und räumte, seinen Missmut vor sich hin murmelnd, das geliebte Arbeitszimmer.

Den roten Schlüpfer versteckte er vorsorglich hinter seiner Schallplattensammlung. Dieses Versteck war deshalb so sicher, weil Franz keinen Plattenspieler mehr besaß.

Die Schwiegermutter kam und verkündete schon am ersten gemeinsamen Abend, wie schön und kühl es doch in Wien sei, weshalb sie gerne länger hier bleiben würde. Womit die Schwiegermutter allerdings nicht gerechnet hatte, war die Veränderung, die das letzte Jahr mit sich gebracht hatte. Dank Evas Einkommen und Franz drastisch erhöhtem Auftragsvolumen hatte sich die frei verfügbare Geldmenge im Haushalt fast verdoppelt.

Damit einher ging auch ein gewisses, gesteigertes Selbstbewusstsein. Franz machte sofort klar, dass die Schwiegermutter gerne länger bleiben könnte, aber eben in einem Hotel, welches man gerne für die Schwiegermutter aussuchen und, sollte das notwendig sein, auch bezahlen würde.

Natürlich ging es der Schwiegermama nicht darum, sich Geld für ein Hotel zu ersparen. Mit forschreitendem Alter war es ihr immer wichtiger, sich der Liebe ihrer Tochter zu vergewissern. Bei einem Notfall oder einer plötzlich auftretenden Krankheit wäre ein fest geknüpftes Familienband allemal sicherer als eine zweifelhafte Krankenversicherung auf Mallorca.

Die Schwiegermutter bemerkte sofort, wie dünn ihre Sicherheitsleine geworden war und sah ihre Tochter an. Franz lächelte, als er die Schwiegermutter sagen hörte: „Ja, vielleicht ist es das Beste, wenn ich in Zukunft meinen Urlaub daheim auf Mallorca verbringe.“

Das ist eindeutig das Beste, dachte Franz und wartete gespannt auf Evas Antwort. Noch vor einem Jahr wäre Eva sofort ihrer Mutter zu Hilfe gekommen, doch jetzt hatte sie, wieder eine neue Ausstellung und den damit erhöhten Arbeitsaufwand vor Augen, selbst kein gesteigertes Interesse daran, das Familienleben durch den Gast auf eine Probe zu stellen.

„Aber Mama, du weißt doch, wie sehr wir dich alle lieben. Du kannst natürlich den ganzen August bleiben, aber wir haben einfach so schrecklich viel zu tun, dass es dieses Jahr eben nicht länger geht. Oder Franz?

Hilfesuchend sah Eva Franz an. Der lachte innerlich, bemühte sich nach außen hin aber um einen zerknirschten Eindruck. „Glaub mir, dieses Jahr ist es wirklich eng. Wenn dieser Auftrag nicht wäre, könntest du natürlich länger bleiben, aber ich brauch mein Arbeitszimmer und dieses Hotel gleich um die Ecke ist sehr nett.“

Eva nahm Franz’ Hand, sah ihn lange und liebevoll an. Die Schwiegermutter konnte Franz mit seiner Vorstellung nicht überzeugen, aber das hatte er auch nicht erwartet. Eva und Franz so glücklich und vereint zu sehen, war ein klares Signal, dass sich dieses Jahr ihr Aufenthalt in Wien wohl nicht verlängern lassen würde.

Schwiegermama gab sich scheinbar versöhnlich und geschlagen. „Kinder, ihr wisst es sicher besser. Wenn es geht, freue ich mich, und wenn nicht, dann kann man eben nichts machen.“

In Franz’ Augen war das Match um das Arbeitszimmer damit ein für alle Mal entschieden. Keinen Tag länger würde er sein Reich abgeben müssen und nächstes Jahr konnte er Eva wahrscheinlich dazu überreden, die alte Dame überhaupt in dem Hotel am Ende der Straße unterzubringen.

Die folgenden Tage über war Franz der beste Schwiegersohn, den man sich vorstellen konnte. Sogar die Falten auf seiner Stirn waren verschwunden. Den finalen Sieg vor Augen, erfüllte er der Schwiegermutter jeden Wunsch.

Einen August noch, dachte Franz, und ich muss nie wieder mein Arbeitszimmer räumen. Die Schwiegermutter wiederum erwähnte öfters, wie schön es in Wien sei und wie gut die medizinische Versorgung hier funktioniere. Eines Abends klagte sie auch über Atembeschwerden, doch als Eva meinte, dass die Luft auf Mallorca eben viel sauberer sei, atmete sie wieder einwandfrei.

Am 23. August wurde die Ausstellung von Evas neuen Werken in der Galerie Tauber eröffnet. Die Schwiegermama war wegen akuten Schwindels zu Hause geblieben. Gut, denn Eva war viel zu aufgeregt, um sich um ihre Mutter kümmern zu können und hielt Franz’ Hand, während Tauber die eröffnenden Worte sprach.

Tauber präsentierte Eva als den glänzenden Stern am Künstlerhimmel und sogar Franz war gerührt von seiner herzlichen Vorstellung. Fast überrascht stellte Franz fest, dass er nicht mehr den leisesten Anflug von Bitterkeit über Evas Erfolg verspürte. Stolz stellte er sich hinter sie und trachtete keine Sekunde danach, sich auf irgendeine Art präsentieren zu wollen.

Wenig später war Eva im Getümmel verschwunden, wurde herumgereicht, beglückwünscht und mit Fragen bedrängt. Franz blieb am Rand stehen, sah zufrieden in die Menge. Vom anderen Ende des Lokals winkte ihm Horst zu.

Franz musste fast lachen, hatte er doch jahrelang erfolglos versucht, dem Bruder ein Bild von Eva zu verkaufen. Bei Evas kleinen, selbst organisierten Ausstellungen war Horst immer erschienen, hatte viel Wein getrunken und sich mit den Brötchen in der Hand lange über Kunst unterhalten. Obwohl er im Vergleich zu Franz wirklich viel Geld verdiente, hatte er nie ein Bild gekauft.

Irgendwann schenkte ihm Eva einfach eines zum 45 zigsten Geburtstag. Dieses hing Horst dann auch sehr zufrieden in der großen Wohnung auf und präsentierte es immer wieder stolz seinen Gästen. Auf die Idee, Eva vielleicht einmal ein Bild abzukaufen, war er trotzdem nie gekommen.

Tauber wieselte zwischen den Gästen hin und her, schüttelte Hände, flüsterte in Sammlerohren und klebte freudestrahlend kleine, rote Punkte neben verkaufte Bilder. Nach einiger Zeit erst sah er Franz, schüttelte ihm die Hand und meinte: “Ach, schön, dass Sie gekommen sind. Entschuldigen Sie, dass ich Sie noch nicht bemerkt habe.“

Nein, nein, ich bitte Sie, das ist Evas Abend und ihre Galerie. Ich muss mich entschuldigen, wenn ich mich hier ganz schamlos bei ihrem Buffet bediene.“

Essen Sie, mein Lieber,“ flüsterte ihm Tauber ins Ohr, „es ist bereits alles bezahlt.“ Kurz darauf war er verschwunden und Franz leerte genüsslich das zweite Glas Champagner.

Am nächsten Morgen verließ Eva gegen 10 Uhr die Wohnung. Sie hatte versprochen, nach der Ausstellungseröffnung mit Tauber einen Sammler zu besuchen. Franz, der länger geschlafen hatte, betrat gegen elf Uhr laut gähnend die Küche, setzte sich in Unterhosen an den Frühstückstisch und war noch zu benommen, um die strahlende Aura der ihm gegenübersitzenden Schwiegermutter zu erkennen.

Du bist mir hoffentlich nicht böse, wenn ich jetzt auch den September über in deinem Arbeitszimmer bleiben werde. Dieses Schwindelgefühl macht mir Sorgen und das will ich abklären lassen.“

Franz sah seine Schweigermutter nur müde an. Dieser Versuch war einfach zu leicht zu durchschauen, um ihn zu beeindrucken oder Eva, von seiner Seite auf die der Schwiegermutter ziehen zu können. Ein Wort von Franz und Eva wäre überzeugt, dass die Schwindelgefühle mittels stationärem Aufenthalt im Spital ihre Klärung finden würden.

Du, wenn du lieber im Spital diese Untersuchungen machen willst, verstehe ich das. Du kannst deinen Koffer ruhig in meinem Arbeitszimmer stehen lassen.“

Diesmal lächelte die Schwiegermutter und dieses Lächeln beunruhigte Franz. „Nein, nein“, meinte Sie, „ die Untersuchungen sind nur ambulant. Wohnen würde ich, deine Zustimmung vorausgesetzt, natürlich weiter in deinem Arbeitszimmer.“

War es die Müdigkeit oder die Sehnsucht, diesem zermürbenden Spiel ein Ende zu setzen, die Franz im Bruchteil einer Sekunde dazu bewog, ganz offen zu sprechen. Er legt den Teelöffel beiseite, sah die Schwiegermutter an und sagte: „Schau, ich weiß, dass du so lange wie möglich in Evas Nähe bleiben willst, doch dieses Arbeitszimmer gehört mir und je schneller du wieder weg bist, desto besser.

Franz hob seinen Teelöffel und rührte in seiner Tasse um. „Und übrigens: das war der letzte Sommer, den du hier verbracht hast.“

Die Schwiegermutter sah Franz gelassen an. „Eva wird das nicht so sehen.“

Schon leicht erregt, antwortete Franz. „Eva wird das ganz genauso sehen. Sie ist nämlich meine Frau. Ich lebe mit ihr, ich bin ihr Ehemann und wenn du sie vor die Entscheidung stellst, zwischen dir und mir zu wählen, wird sie sich für mich entscheiden. Begreif das bitte, und such dir endlich ein Hotelzimmer.“

Franz wollte schon aufstehen und die Schwiegermutter alleine in der Küche zurücklassen, als diese ihn bat, doch noch einen Moment zu verweilen.

Weißt du, einerseits ist es für mich als Mutter schön zu sehen, wie gut eure Ehe ist, andererseits war ich zutiefst schockiert, als ich feststellen musste, dass diese Harmonie wohl auf einem Missverständnis beruht.“

Franz sah die Schwiegermutter mit großen Augen an.

Dass Eva dich so liebt, hat mich immer überrascht. Doch jetzt bin ich ziemlich sicher, dass auch Eva überrascht wäre, wenn sie erfahren würde, was du so hinter ihrem Rücken treibst.“

Ein kurzer Moment der Stille breitete sich in der Küche aus. „Ich will das nicht dramatisieren und glaub mir, ich persönlich halte solche Geschichten für weit weniger wichtig als Eva. Sie wäre schockiert, ja schrecklich enttäuscht, würde ich ihr von dem Besuch, gestern Abend, von dem netten, jungen Mann mit diesen strahlenden blauen Augen, erzählen.“

Franz lies den Teelöffel auf den gekachelten Küchenboden fallen. Freundlich lächelnd fuhr die Schwiegermutter fort.

So ein lieber Mensch. Steht da vor der Tür, vollkommen aufgelöst und verlangt nach dir. Er wurde richtig laut in seiner Verzweiflung. Wenn er schon nicht die Jungfräulichkeit seiner Verlobten wieder zurückhaben könnte, so wollte er doch wenigstens den roten Schlüpfer wieder haben. Ja, und dann hat er noch ein paar unschöne Dinge über dich gesagt. Du würdest mit deinem Schwanz wedeln und junge Frauen anbohren. Ich hab das nicht ganz verstanden.“

Ohne zu antworten, rannte Franz ins Wohnzimmer, langte mit seinem Arm hinter die Plattensammlung, doch seine Hand griff ins Leere. Der rote Schlüpfer war weg. Als er sich wieder umdrehte, stand die Schwiegermutter in der Tür und lächelte.

Schau mein Lieber, es ist doch ganz einfach. Ich will nur das Beste für Eva und du bist sicher der Meinung, dass ich auch den September in Wien verbringen sollte.“

Franz ließ sich auf den großen, grünen Ohrensessel fallen. Die Schwiegermutter deutete dies zu Recht als eine Art Zustimmung und verließ den Raum.

Die Schlacht war entschieden. In Franz’ Kopf machte sich eine große Leere breit.

Sein Mobiltelefon, welches ein paar Meter entfernt auf dem kleinen Couchtisch lag, meldete sich. Franz lauschte der kleinen Melodie. Schön eigentlich, dachte er und blieb sitzen.

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Kapitel 5

Küsse, Lachen, freundliche Plauderei und wieder läutete es an der Tür. Roberts Geburtstagsfest kam in Schwung. Die Gäste standen dicht gedrängt in der kleinen Küche und zögerten, Ursulas Anweisung, doch bitte ins Wohnzimmer zu gehen, Folge zu leisten.

Robert, seit zwei Tagen vierzig Jahre alt, füllte Gläser nach und begegnete allen Witzen bezüglich seines Alters gelassen. Er hatte genügend Zeit vor dem Spiegel verbracht um zu wissen, dass sein dichter schwarzer Lockenkopf, der muskulöse Körperbau und sein schelmischer Gesichtsausdruck weit wichtiger waren, als das Datum auf seiner Geburtsurkunde. Die existenzielle Erschütterung, die er vor einer Woche erfahren hatte, verschwieg er und, da diese nicht geladen war, würde auch so bald niemand davon erfahren.

Die Festgäste teilten sich in drei Gruppen. Zwei Sandkastenbekanntschaften aus Kindertagen, die unvermeidbaren Verwandten und die Grazer Freunde. Letztere hatten gemeinsam studiert, sich geliebt, gestritten, getrennt und waren doch alle die Jahre über in Verbindung geblieben. Die leidenschaftlichen Turbulenzen, die die Gruppe früher einmal durchgemacht hatte, schienen vergeben und vergessen.

Gib zu, du hättest nie gedacht, dass du deinen vierzigsten Geburtstag einmal im Kreis lauter gesättigter Mittelschichtlern feiern wirst “, sprach Julia, die neben dem Bücherregal saß und Robert einen spöttischen Blick zuwarf.

Robert, der mit der Weinflasche von Gast zu Gast ging, stand vor ihr, schenkte nach und lächelte. „Oft bekommt man…“ Hier legte er eine Pause ein und sah ans andere Ende des Raumes. Dort, abseits, stand Gustav, Julias Ehemann, der scheinbar geistig abwesend versuchte, durch ein Klopfen an die Scheibe des Aquariums mit den Fischen Kontakt aufzunehmen. „…was man verdient,“ setzte Robert fort.

Julia, die von ihrem Sitzplatz aus Roberts Anspielung gar nicht begreifen konnte, winkte ab. „Nein, nein, wir sind einfach erwachsen geworden.“ Robert überlegt kurz, schwieg aber und ging weiter.

Julia lächelte zufrieden. Sie sah bezaubernd aus. Groß und schlank, mit funkelnden Augen, einem wunderschönen Mund und langen, brünetten Haaren hatte sie etwas von einem reifen Fixstern. An diesem Abend war Julia zufrieden mit sich und der Welt. Alle Gefühlswirren innerhalb der Gruppe schienen mit Roberts vierzigstem Geburtstag restlos und endgültig beendet.

Robert, Hans und Christina waren alle einmal in Julia verliebt gewesen und hatten diese Ehre mit einem gebrochenen Herzen bezahlt. Zu Unfrieden zwischen den Freunden war es vor allem beim Wechsel von Robert zu Hans gekommen.

Hans, damals Student der Volkswirtschaft, war mit Julia schon händchenhaltend durch den Grazer Stadtpark spaziert, als Robert noch überlegte, wie er die kränkelnde Beziehung zu Julia retten könnte. Leicht verwirrt stand er auf der Suche nach Julia eines Abends vor Hans’ Tür in der Rechbauer Straße und bat ihn um Hilfe.

Abgesehen davon, dass Hans zu diesem Zeitpunkt, betreffend Julia, bereits eigene Interessen verfolgte, gab es wohl niemanden, der weniger hilfreich sein konnte.

Hans eine konkrete Antwort auf eine Frage abzuringen, war nahezu unmöglich. Er konnte aus einer simplen Frage eine Lawine möglicher Antworten kreieren und alle Seiten eines Problems so beleuchten, dass zum Schluss nur noch geblendete Fragesteller übrig blieben.

Darüber hinaus besaß Hans auch ein fast unheimliches Geschick, Entscheidungen zu verzögern. Sein scharfer Verstand sezierte ein Problem so lange, bis es sich entweder von selber gelöst hatte oder seine Position in einer strittigen Frage so stark geworden war, dass der Gegner zermürbt aufgab.

Hans’ Onkel, ein führendes Mitglied der Metallarbeitergewerkschaft, erkannte das Talent des Neffen und engagierte ihn. Schon bei Hans’ erster Teilnahme an einer Tarifverhandlungssitzung brachte er die Arbeitgeberseite in Rage und sicherte sich damit eine fast unangreifbare Stellung innerhalb der Gewerkschaft.

Robert, der Hans um Hilfe gebeten hatte, verließ die Wohnung des Freundes verwirrter, als er sie betreten hatte, spürte jedoch, dass seine Verbindung zu Julia unter keinem guten Stern stand. Zwei Tage später musste er die Schlüssel zu Julias Wohnung abgeben. Dass die Schlüssel kurz darauf in die Taschen seines Freundes Hans wanderten, überraschte ihn dennoch. Empört rief er Hans an und schrie ein verzweifeltes „Warum?“ in den Hörer. Kurz war es still. Hans atmete tief ein und wollte zu einer seiner berüchtigten Antworten ansetzen. „Vergiss es“, unterbrach ihn Robert und legte auf.

Julia war es keinesfalls leicht gefallen, sich von Robert zu lösen. Mit ihm hatte sie ihre erste „erwachsene“ Liebesbeziehung durchlebt, sich eine Wohnung geteilt, die Eltern des jeweils anderen getroffen und war Weihnachten zu zweit unter dem Baum gestanden.

Mit Robert hatte sich Julia frei, ja leicht gefühlt. Einerseits war er ein guter Liebhaber und andererseits verstand er es, störende Kleinigkeiten, die ein studentischer Alltag mit sich brachte, gänzlich auszublenden. Julia, die Tochter eines Mediziners, der sich sein Leben lang für die Sicherheit der Arbeitnehmer in der Metallindustrie eingesetzt hatte, lebte auf in ihrer Beziehung mit Robert.

Der Vater, ständig im Einsatz für die gerechte Sache, verhielt sich zu Hause wie ein Diktator. Ordnung, Strebsamkeit und Überblick waren die höchsten Tugenden, denen sich auch Julia zu unterwerfen hatte. Robert hatte nie den Überblick über Dinge, die ihn nicht interessierten, dafür konnte er mit barocker Freude das Frühstück, Mittagessen und Abendessen im Bett einnehmen, Julia dazu überreden, sich des Nachts nackt in den Hilmteich zu werfen und sie auf dem Schlossberg auf einer Bank mit Blick auf die Stadt zum Beischlaf verführen.

Julia fühlte sich wie neugeboren, sprühte vor Freude und studierte mit einer ungeahnten Leichtigkeit. Gute Prüfungsnoten schienen ihr nur so zuzufallen. Robert hingegen entwickelte keinen Ehrgeiz, seine Studien zu beenden. Lieber ersann er neue Abenteuer und freute sich über jeden Abend, an dem Julia neben ihm einschlief.

Mit der Zeit wurde Julias Schlaf unruhiger. Wie lange sollte das weiter gehen mit diesem, zugegebener Maßen, netten, jungen Mann, der zwar ein eigenes Konto hatte, aber nie genau wusste bei welcher Bank. Ein gescheiter, schöner und charmanter Mensch, der seinen Professor für Philosophie beeindrucken konnte, aber prinzipiell zu spät zur Prüfung erschien.

Julia war vierundzwanzig Jahre alt und stand kurz vor dem Abschluss ihres Medizinstudiums. War Robert auch für die Zeit danach der richtige Mann an ihrer Seite? Liebte sie ihn oder war das Zuneigung, die man auch für einen besonders guten Freund empfand? Robert konnte sie alles, wirklich alles anvertrauen, doch „eine feste Burg“, ein Mann für die Zeit nach dem romantischen Rauschen, war er nicht. Robert würde sich nie und nimmer die eigene Telefonnummer, geschweige denn die Versicherungsdaten möglicher Kinder merken.

Der Entschluss, sich von Robert zu trennen, schmerzte trotzdem, weshalb die wärmende Hand des jungen, aufstrebenden Gewerkschafters Hans Mehlich gerne angenommen wurde. Vor dem Eingang zum verschneiten Grazer Stadtpark hatte sich eine Eisplatte gebildet und Hans reichte Julia seine Hand. Als die beiden eine Stunde später den Park wieder verließen, war für Julia klar, dass sie diese Hand nicht mehr loslassen würde.

Roberts Trauer über das Ende der Beziehung überraschte Julia. Natürlich war Hans ein alter Schulfreund von Robert und die Sache daher unangenehm, aber in Julias Augen hatte sie doch viel mehr verloren als Robert. All die schönen, bezaubernden Momente waren doch seine Erfindung gewesen.

Robert war es immer egal gewesen, wie phantasievoll Julia je sein würde. Er hatte sie geliebt. Ihre Augen, ihre Hände, ihren ganzen Körper, geliebt. Das Vertrauen, das sie ihm entgegenbrachte, dieses Bewusstsein, dass sie in gewissen Momenten wirklich eins werden konnten, war ihm immer wichtiger gewesen. Dass es ihr so leicht gefallen war, ihn zu verlassen, machte ihn traurig. Viel trauriger als der Umstand, dass Hans mit ihr ein Bett teilen würde.

Antipasti?“ Ursula, Roberts Ehefrau und Gastgeberin, reichte eingelegte Zwiebel, Schüsseln mit Kapern, getrocknete Tomaten und Oliven. Die Geburtstagsgäste verschlangen die Vorspeisen ohne Rücksicht auf den Hauptgang. Roberts vierzigsten Geburtstag wollte Ursula mit einem speziellen Gericht – Hirschmedaillons mit geröstetem Kürbis – krönen. Tagelang hatte sie sich die Sache überlegt und dann doch wieder ihre südsteirische Großmutter um Rat gebeten.

Von allen Ehepartnern der Freunde war Ursula die beliebteste. Sie war weder besonders intelligent noch schön, aber offen und herzlich. Es störte sie nicht, dass Robert Kleinigkeiten vergaß oder öfter zu spät kam. Sie organisierte das Familienleben und verstand es, Robert genau die Dinge tun zu lassen, die er perfekt beherrschte.

Julia und Ursula waren freundlich zu einander, herzlich wurde das Verhältnis zwischen ihnen nie. Ursula wusste, dass Julia schöner, gescheiter und eine Zeit lang der große Schwarm, ihres Mannes war, doch sie hatte auch erkannt, was Julia wirklich fehlte. Ursula, die Frau aus einfachen, ländlichen Verhältnissen hatte die schöne, raffinierte Arzttochter durchschaut und das konnte ihr diese nicht verzeihen.

Dabei lebte Julia, am Abend des Geburtstagsfestes, durchaus in Frieden mit sich selbst. Sie war 39 Jahre alt, sah, wie schon beschrieben, blendend aus und war verheiratet mit Gustav, einem Vertreter für Baumaschinen. Sie wohnte in einer komfortablen Altbauwohnung im Stadtteil Waltendorf und hatte einen siebenjährigen Sohn. Julias Leben verlief ruhig, sicher, kontrolliert. All ihre Ziele schienen erreicht. Sie hatte den Überblick und nirgends gab es so etwas wie emotionale Unordnung.

Gustav, Julias Ehemann, stand noch immer vor dem Aquarium und betrachtete die Fische. Ruhig und gelassen glitten sie durch ihre Welt. Gustav lächelte. All die Erwartungen, die von anderen an sein Leben gestellt worden waren, hatte er erfüllt. Er selbst hatte nie etwas erwartet, war nie zielstrebig gewesen, nur gehorsam den Wünschen anderer gegenüber.

Schule, Beruf, die Ehe mit Julia, all diese Dinge waren nie sein ureigenster Wunsch gewesen, vielmehr hatte er die Wünsche anderer so tief eingeatmet, dass er sie für die eigenen gehalten hatte. Doch seit einem Jahr atmete Gustav nur mehr aus. Die Wünsche der anderen drangen nicht mehr zu ihm vor und er fühlte sich seit sehr langer Zeit wieder wohl in der eigenen Haut. Dass er an diesem Abend Julia zu Roberts Geburtstagsfest begleitet hatte, war seine Idee gewesen.

Er wusste, dass Julias alte Freunde wenig mit ihm und er fast nichts mit ihnen anfangen konnte, doch es machte ihm Spaß, Julia im Wagen zu chauffieren, zu sehen, wie sie sich auf den Abend mit den alten Freunden freute.

Seit diesem Jahr fühlte er fast so etwas wie Liebe für seine Frau. Ja, seit dem die Wünsche der anderen an ihm abprallten, hatte er zu leben begonnen, ein eigenes ruhiges Leben, zwischen den Aufgaben und der Freude.

Die Freude lag immer auf der Straße mit dem Motorrad zwischen seinen Schenkeln. Mehr aus Spaß war er einem Motorradklub beigetreten und ritt nun fast jedes Wochenende mit einem Schwarm von Bikern durch die Landschaft. Er liebte den Fahrtwind, das Auf und Ab des Steirischen Hügellandes, die Pausen in den Gasthäusern mit Fernblick, die Gelassenheit der Leute.

Für den Großteil der Menschheit hätte diese Kleinigkeit keine wesentliche Veränderung gebracht. Für Gustav war es wie eine zweite Geburt. Die anderen Biker verlangen nichts von ihm, stellten keine Anforderungen, nahmen ihn auf, eben so wie er war.

Julia verstand ihn nicht, sprach abschätzig von Wilden oder pubertierenden Bartträgern. Aber Julia hatte ihn noch nie verstanden. Sie hatte ihn geheiratet, weil er so berechenbar war, sie und mögliche Kinder beschützen würde, es leicht war, ihm einen Wunsch einzupflanzen.

Gustav klopfte noch einmal an die Glasscheibe. Die Fische schienen mit ihm zu spielen, ihn anzulächeln. Er wusste, dass es Einbildung war und freute sich trotzdem. Auch als Julia vor acht Jahren seinen Heiratsantrag angenommen hatte, war er froh gewesen. Damals aber hatte er nicht an Einbildung geglaubt, war überzeugt gewesen, seinen eigenen Willen durchgesetzt zu haben. Dass zu dem Zeitpunkt die Hochzeitsfeier von seiner Mutter und Julia schon fix und fertig arrangiert war, erfuhr er erst später.

Gustav wendete den Blick ab von den Fischen, hin zu den Menschen im Raum. Er sah zu Julia, die am anderen Ende des Raumes saß, lächelte. Ihre Blicke trafen sich.

Ja, dachte Julia, auf Gustav kann man sich verlassen. Ihr Vater wäre stolz auf sie gewesen. „Keine Aufregung, keine Unordnung“ war auch zu ihrem Motto geworden. Nichts geschah ohne ein Mindestmaß an Berechnung. Gegessen wurde mit Bedacht auf die Linie, geheizt mit Rücksicht auf die stetig steigenden Energiepreise und Geschenke mussten einen praktischen Wert haben. Diese Haltung bezog sich gleichsam auf Geist, Körper und Gefühle. Dabei war Julia alles andere als geizig. Ein Freund in Not konnte sich jederzeit auf ihre Hilfe verlassen und ihrem Sohn befahl sie zu Weihnachten, einen kleinen Teil seines Taschengeldes zu spenden. Doch die Verschwendung, das Geben oder Lassen ohne erkennbaren Sinn, ertrug sie nicht.

Genau das hatte Ursula erkannt. Julia war ab dem vierzehnten Lebensjahr, genau genommen, seit dem Tod ihres Vaters, nicht mehr in der Lage, bedingungslos zu lieben. Liebe ohne Rücksicht, ohne Gedanken an die Zukunft, das reine Auskosten eines glückseligen Augenblicks, die Verschwendung des Selbst an eine verwandte Seele, all das war ihr unmöglich.

Die Zeit mit Robert war nur eine scheinbare Befreiung gewesen, ein kurzes Aufblühen vor der eigentlich ersehnten Gefangenschaft in väterlichen Werten. Und sie lebte gut in dieser Gefangenschaft, zumal es ihren Freunden und Altersgenossen, sah man von Ursula ab, nicht anders zu gehen schien. Aus dem einen oder anderen Grund glaubte niemand mehr an die große Liebe. Nach Julia hatten alle akzeptiert, dass glückselige Augenblicke selbstloser Hingabe ein Hirngespinst waren. Das Leben als langer, ruhiger Fluss, ohne emotionale Stromschnellen, war zum angestrebten Ziel geworden.

Julia wusste, dass ihr Ehemann Gustav langweilig, unerotisch und geistig träge war, aber er hatte praktische Qualitäten, Eigenschaften, mit denen man den Alltag, jahrein, jahraus, bewältigen konnte. Gustav ist ein guter Mann, dachte Julia, er macht mich glücklich und zufrieden, auch wenn ich ihn nicht liebe.

Ursulas Hingabe und Verehrung für Robert war Julia in gewissem Sinne verdächtig. Hatte dieses Festhalten an pubertären Idealen nicht etwas Lächerliches, ja Geistloses? Die beiden Damen würden nie Freundinnen werden. Das war auch viel praktischer so, denn Julia wusste Dinge über Robert, die seine Frau mit Sicherheit nicht einmal erahnen konnte. Für Julia würde Ursula immer das gutherzig, dümmliche Mädchen vom Land bleiben, die zwar bereit war, ihren Robert aufopfernd zu lieben, doch Robert – und da war sich Julia ganz sicher – liebte seine Frau nur wie ein Erwachsener seinen Teddybär aus Kindertagen.

Gerade in diesem Augenblick sah Ursula ihren Robert so gefühlstriefend an, dass Julia kurz peinlich berührt die Mundwinkel verzog. Andererseits, überlegte Julia, war der Status quo ideal für sie. Hatte sie einst Robert als Ehemann verschmäht, so schätzte sie doch seine Qualitäten als Freund. Alle ihre ehemaligen Liebhaber waren gute Freunde geworden. Man konnte ihnen kleine Geheimnisse anvertrauen, sich manchen Ärger von der Seele reden und wunderbar charmante Abende verbringen. Für die Unterhaltung hatte sie die Freunde und für den Alltag Gustav. Mehr braucht der Mensch nicht, dachte Julia und lächelte.

Christina setzte sich, mit einem vollen Glas Gin Tonic in der Hand, neben Julia.

Warum hast du deinen Mann mitgebracht?“

Es war seine Idee, aber ich versteh es auch nicht.“, erwiderte Julia, legte ihre Hand auf Christinas Knie und lächelte: „Dass du da bist, freut mich sehr.“

Christinas Anwesenheit war keinesfalls selbstverständlich. Sie hatte nur während ihres Studiums der Technische Chemie in Graz gelebt und war danach sofort wieder zu den Eltern nach Wien heimgekehrt. Florian Schuster hatte sie danach kennengelernt. Und Florian war keinesfalls begeistert gewesen, als sie ihm vor ein paar Tagen eröffnete, sie müsse wegen des Geburtstagsfestes eines Freundes das Wochenende in Graz verbringen. Florian hatte vergeblich protestiert, gemeint, dass sie mehr Zeit mit Sohn Peter verbringen müsse. Sie war trotzdem in den Zug gestiegen.

Christina nippte mit glasigen Augen an ihrem Gin Tonic, einem Getränk, dem sie schöne Stunden verdankte, das sie aber lange nicht mehr getrunken hatte.

Julias Freude über Christinas Anwesenheit war ehrlich und vielleicht antwortete die Angesprochene deshalb ein wenig aufgekratzt: „Wie sehr?“ Julia warf Christina ein mitleidiges Lächeln zu und zog ihre Hand weg.

Keine zwei Menschen in dem Raum kannten und ergänzten sich so gut wie Julia und Christina. Jede gehobene Augenbraue, jeder verzogene Mundwinkel konnte von der jeweils anderen richtig gedeutet werden. Die beiden Frauen verstanden einander ohne Worte, aber vor allem wusste sie, wenn die gesprochenen Worte falsch waren, oder eine ganz andere Bedeutung hatten.

Sie waren das ideal Paar und während ihrer Studienzeit hatte Christina zwei Jahre lang ein Zimmer in Julias Wohnung gemietet. Nie gab es Diskussionen oder Streit. Man wohnte zusammen, lud gemeinsam Freunde ein und erzählte sich gegenseitig alle Sorgen und Geheimnisse.

Sorgen hatte Julia damals viele. Ihre Beziehung zu Hans entwickelte sich vollkommen anders, als sie das gehofft hatte. Alle Freunde kannten bereits jedes Detail der Beziehungsgeschichte und wandten sich genervt ab, wenn Julia von neuem drohte, ihr Herz auszuschütten. Nur Christina hatte die Kraft, Julias täglichen Schmerzen zu lauschen, was daran lag, dass es eben noch ein Geheimnis gab, das Christina ihrer Freundin bisher nicht gebeichtet hatte.

Eines Abends saßen die beiden Frauen wie ein altes Ehepaar vor dem Fernseher, tranken Gin Tonic und wärmten einander unter einer hellbraunen Kamelhaardecke. Julias Augen waren rot von den Tränen, die ein Telefonat mit Hans provoziert hatte. Plötzlich spürte Julia eine Hand auf ihrem Schenkel. Sie sah Christina überrascht an, schob die Hand aber nicht beiseite. Christina beugte sich vor und küsste Julia zart auf die Lippen. Es war wohl eine Mischung aus Trunkenheit, Überraschung und Sehnsucht nach Zuwendung, die sie davon abhielt, die Freundin zurückzuweisen. Christina nützte dieses Zögern, um ihr letztes Geheimnis, der Freundin gegenüber zu lüften. Christina liebt Julia und das nicht nur platonisch.

Der Abend verlief, wie sich Christina das erträumt hatte. Die beiden Körper wurden ein Paar und Julias Überraschung wuchs. Hier gab es jemanden, der genau wusste, wie ein weiblicher Körper gebaut war und wonach er sich sehnte. Mehrmals wollte sich Julia wehren, wollte der Hemmung und Abneigung, sich von einer Frau berühren zu lassen, nachgeben, doch Christina hielt den Schlüssel zu Julias Lust fest in der Hand, öffnete alle Schlösser bis nur noch Wohlbefinden Julias Körper durchflutete.

Der nächste Morgen verlief unspektakulär. Die beiden Damen frühstückten wie gewohnt in der kleinen Küche, aber Christina schien förmlich zu strahlen und lächelte Julia öfter als üblich an. Zweimal streichelte sie ihr wie zufällig über die Hand und Julia schien das nicht zu stören.

Nach einiger Zeit erwähnte Julia beiläufig, dass sie bereits mit Hans telefoniert habe. Christina war überzeugt, dass dieses Telefonat Julias Verhältnis mit Hans beendet hatte und biss grinsend in ihre Buttersemmel. Julia zögerte, trank einen Schluck Kaffee, bot der Freundin noch eine Tasse an, warf einen Blick in die Zeitung und reichte Christina den Immobilienteil.

Christina runzelte die Stirn und die Falten zwischen ihren Augen blieben den ganzen Tag über sichtbar. Julia hatte Hans am Morgen ein Ultimatum gestellt. Entweder er würde bei ihr einziehen, oder das Verhältnis wäre beendet. Hans gab sich geschlagen. In der „gegebenen Situation“, wie Julia das am Frühstückstisch sitzend, nannte, wäre es wohl vernünftiger, wenn Christina sich eine neue Unterkunft suchen würde.

Christina ließ die Semmel fallen, zu ungeheuerlich erschien ihr Julias Verhalten. Abgesehen davon, dass sie in diese Frau verliebt war und die beiden noch vor kurzem ihre nackten Körper unter der Decke aneinander gerieben hatten, konnte sie nicht verstehen, warum Julia nach so vielen Tränen und so viel Bitterkeit immer noch mit Hans zusammen sein wollte. Jeder Vollidiot sah, dass die beiden sich eher behinderten als ergänzten. Dass Julia sie aus der Wohnung warf, um mit Hans weiter unglücklich sein zu können, war absurd. Christina wollte schreien, auf Julia einschlagen und blieb doch stumm. Wenige Stunden später verließ sie die Wohnung.

Ein Jahr später beendete Christina ihr Studium mit Auszeichnung und zog zurück nach Wien zu den geliebten Eltern. Von den Ereignissen an jenem Abend unter der Kamelhaardecke erfuhr nie ein Mensch.

Viele Jahren sahen die Frauen einander nicht und erfuhren nur über gemeinsame Bekannte, dass die jeweils andere geheiratet und Kinder bekommen hatte.

Ein Treffen ergab sich vor drei Jahren rein zufällig am Strand von Grado. Der kleine Peter half dem gleichaltrigen Benni, Julias Sohn, beim Bau einer Sandburg als die beiden Frauen plötzlich vor einander standen. Sie lächelten sich an und wussten, dass sie in gewisser Weise nie getrennt waren.

Die Ehemänner wurden eiligst einander vorgestellt und den Rest des Urlaubs sich selbst und den Kinder überlassen. Kommentiert wurden die Ehemänner nicht, denn beiden Frauen war klar, dass sie Teil eines Kompromisses waren, den man aus ganz unterschiedlichen Gründen eben eingegangen war.

Hans hat eben angerufen“, meinte Robert und schenkte Julia Rotwein nach. „Er kommt später?“

Warum?“ antwortete Julia, was von Robert und Christina mit einem breiten Grinsen quittiert wurde.

Weil er sich auf dem Weg vom Flughafen in die Taxifahrerin verliebt hat. Aber kein Sorge mein Schatz, bis er hier ist, streiten sie sich schon“, sagt Christina und legte ihren Arm versöhnlich auf die Schultern der Freundin. Julia sah ihre Freunde an, lachte: „Ihr seid so unfair.“

Hans war ein schwieriger Mensch. Nach der Trennung von Julia suchte er verbissen nach einer neuen großen Flamme und scheiterte jedes Mal. Sogar seine Freunde waren mittlerweile der Meinung, dass er sich Mühe gab, seine Schwächen nicht allzu schnell sichtbar werden zu lassen, doch der Erfolg blieb aus.

So turbulent Hans Liebschaften auch waren, als Freund war er sehr beliebt und ihm war es zu verdanken, dass sie sich kennen gelernt hatten. Hans war intelligent, charmant und versprühte eine Aura, der sich kaum jemand entziehen konnte.

Fast fünf Jahre lang waren Julia und Hans ein Paar gewesen. Vom ersten Händchenhalten im winterlichen Grazer Stadtpark bis zu der wesentlich dramatischeren Abschiedsszene vor der Annenpassage durchlebte das Paar viele Krisen und seltene Höhepunkte. Dabei sah anfangs alles sehr vielversprechend aus. Rein äußerlich passten sie sehr gut zu einander. Ihre Ansichten über die Welt, das Aufwachsen in einem Haushalt sozialistischer Akademiker, ihre Liebe zu Graz, überschnitten sich. Für beide musste alles eine gewisse Qualität haben, aber nie wollte man „es übertreiben“.

Julia hatte Hans aufrichtig geliebt. Für sie war bald klar, den Erzeuger ihrer Kinder gefunden zu haben. Die Unterschiede, die es zwischen ihnen gab, versuchte sie zu verdrängen. Das war nicht immer leicht.

Die Auswahl der Lebensmittel, die er zu sich nahm, war beschränkt und diese mussten auf eine ganz spezielle Art zubereitet werden. Er verlangte nie von ihr, für ihn zu kochen, doch wenn sie es tat, musste sie immer damit rechnen, dass er die angebotene Speise rundweg ablehnte. Das ging nicht nur ihr so. Bei einem Abendessen mit ihrer Mutter weigerte sich Hans, ein köstliches Rindsragout zu essen. Sein Teller blieb den ganzen Abend über leer. Julia oder ihrer Mutter zu liebe, höflich einen kleinen Teller Ragout zu essen, kam nicht in Frage.

Auch diese Eigenart akzeptierte Julia, doch die Versuche, Hans in jeder Hinsicht zu gefallen, waren zum Scheitern verurteilt. Wer mit Hans zusammenleben wollte, musste ihm widerstehen, die Eigenständigkeit bewahren, denn nur so würde er nicht bald sein Interesse verlieren. Das geschah nicht und nach einem Jahr der ungeteilten Freude folgten vier Jahre zäher Nervenkrieg.

Wenig hilfreich war Hans bereits angesprochene Angewohnheit, keine Entscheidungen zu treffen und solange zu diskutieren, bis das Gegenüber erschöpft aufgab. Schon bald nach dem Spaziergang im Stadtpark wollte Julia Hans dazu bewegen, bei ihr einzuziehen.

Diese Entscheidung verzögerte Hans drei Jahre, dabei lebte er in einem Loch. Julia freute sich, als er mit seinen Koffern vor der Tür stand, doch diese gemeinsame Wohnung konnte nur der Prolog zu einer weiteren Frage sein und Julia beging den Fehler, diese auszusprechen. Ja, sie wollte eine Ehe mit Hans und sie wollte die Mutter seiner Kinder werden. Als eine angemessene Zeit für eine Antwort auf ihre Frage „Willst du mich heiraten?“ verstrichen war, hatte Hans noch immer nicht begriffen, dass nur eine eindeutige Antwort dieses Problem lösen konnte.

24 Stunden später wollte er, müde nach einem langen Sitzung im Kreise der Arbeitnehmervertreter, den Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür stecken, doch es gelang ihm nicht. Verwundert versucht er es mit zwei weiteren Schlüsseln, bis er einen Zettel entdeckte, der in einem Spalt neben der Tür steckte. „Deine Sachen sind bei deinen Eltern. Julia.“

Hans geriet nicht in Panik. Für ihn war das Spiel noch keineswegs vorbei. Niemand hatte zur Gänze seinen Argumenten gelauscht. Er wollte ja weiter mit Julia zusammenleben, nur die Entscheidung, ob und wann man unter Umständen heiraten sollte, musste man doch nicht sofort treffen. So eine wichtige Entscheidung musste gründlich überdacht werden. Oder? Nein, Hans hatte nichts begriffen. Hier gab es keinen Widerstreit der Argumente, keine Verhandlungspartner denen man den eigenen Standpunkt verkaufen musste.

Tagelang versucht Hans mit Julia Kontakt aufzunehmen. Vergebens. Sie schloss sich ab, oder vielmehr, ihn aus. Kein Telefonanruf, kein noch so lautes Läuten an der Tür, kein Klopfen auch von unverdächtigen Personen wurde erwidert. Julia war verschwunden, untergetaucht in der eigenen kleinen Stadt Graz.

Hans wurde nervös und steigerte seine Bemühungen. Er fand sie schließlich im Unfallkrankenhaus und verfolgte sie bis zu der Wohnung ihrer Freundin. Aber nein, Julia wollte nicht mehr mit ihm über eine gemeinsame Zukunft reden. Was niemand für möglich gehalten hatte geschah: Hans geriet in Panik. Er hatte erkannt, dass sich hier jemand seinem Spiel widersetzte.

Julia hatte einen Entschluss gefasst und es gab nichts, was sie umstimmen würde. Für sie war klar, er wollte sie nicht und so hatte sie ein für alle Mal beschlossen, ihn aus ihrem Liebesleben zu verbannen. Ja, er bedrängte sie, wurde laut, schrieb glühende Liebesbriefe, randalierte, drohte und schwor, all ihre Wünsche zu erfüllen.

Der Spuk dauerte fast sechs Monate, dann sah sogar Hans ein, dass eben die andere Seite ihre Position durchgesetzt hatte. Sie blieben Freunde.

Hans Liebesleben nach Julia war ein einziges Debakel. Seine grandiose berufliche Karriere konterkarierte die Entwicklung seines Liebeslebens. Er war noch immer sehr charmant, geistreich und gefiel auf Anhieb, doch die Damen schienen immer schneller zu verstehen, worauf sie sich da eingelassen hatten.

Kurz wurde ein bisschen diskutiert, dann gestritten und bald darauf die Beziehung gelöst. Im Kreis der Freunde scherzt Hans, er sei der am öftesten verlassene Junggeselle der Stadt. Und der Strom an jungen Damen ließ nicht nach, zu gut sah er aus, zu unterhaltend erschien er anfangs und zu hoch war bereits sein Ansehen in der linken Reichshälfte des Landes.

Zirka ein Jahr vor Roberts Geburtstagsfest mit Hirschmedaillons und geröstetem Kürbis schlitterte er in eine Sinnkrise. Da bot sich eine Chance, seinem turbulenten Liebesleben zu entfliehen.

Die steirischen Metaller waren mit einer Gewerkschaftsgruppe aus dem Norden Schwedens eine Kooperation eingegangen. Teil dieser Kooperation war es, dass jeweils ein Mitglied der Partnergewerkschaft drei Monate im Land der jeweils anderen verbrachte.

Hier muss man wissen, dass Schweden für jeden aufrechten, österreichischen Sozialdemokraten nicht irgendein Land war. Egal wer dort gerade regierte, Schweden war und blieb das Land in dem Bruno Kreisky – eine Zentralfigur der österreichischen Sozialdemokraten – während des zweiten Weltkrieges Zuflucht gefunden hatte.

Ein österreichischer Linker dachte bei diesem Land eben nicht an Kälte, Dunkelheit, ungenießbare Fischgerichte oder sich um den Verstand trinkender Eigenbrötler, sondern an Astrid Lindgren, blonde Mädchen, Olof Palme und Vollbeschäftigung. Fairer weise muss man sagen, dass die Phantasien der Österreicher betreffend Schweden immer im Süden des Landes beheimatet waren. Der Süden Schwedens hatte durchaus den einen oder anderen lauen Sommertag im Portefeuille. Nicht so die, aus gutem Grund, spärlich bevölkerten Bergbaugebiete im Norden in den Monaten Dezember bis Februar.

Hans nahm das Angebot an. Nach einem kurzen Flug und einer sehr langen Autofahrt durch eine dunkle Schneewüste wurde ihm klar, was Vorurteile anrichten können.

Noch in der ersten Woche ließ er seine Freunde per Email wissen, dass er in einer Hölle gelandet sei und alle seine Sünden, vergangene und zukünftige, nach diesen drei Monaten gesühnt wären.

Eine genaue Beschreibung der „Hölle“ bekamen die Freunde nicht. Kurz deutete er an, dass er nun wüsste, wie sich Missionare in einem feindlichen Urwald fühlen würden und es in dem Ort nur einen Nahrungsmittellieferanten seines Vertrauens gäbe, nämlich den Cola-Getränkeautomaten.

Danach hörte bis zu seiner Rückkehr niemand mehr etwas von ihm.

Julia hatte vor zwei Tagen mit ihm telefoniert. Offensichtlich war er gut heimgekehrt, aber die Arbeit zwang ihn, das Gespräch kurz zu halten. Mit der Wahl des Geschenks für Robert, – die Mitgliedschaft in einem exklusiven Fitnessklub – war er einverstanden. Alle Neuigkeiten betreffend die Reise würde er am Fest den Freunden erzählen.

Ja, dachte Julia, Robert hat Recht. Wir bekommen alle, was wir verdienen. Er hat seine Ursula, die ihn hündisch verehrte, aber nie intellektuell befriedigen wird, Christina den wirklich netten Florian, der das Pech hat, keine Frau zu sein, Hans hat seine bärtigen, schwedischen Gewerkschafter im Schneegestöber und ich, ich habe Gustav.

Julia strahlte zufrieden. Das Eingeständnis, dass es statt der großen Liebe nur einen großen Kompromiss gab, störte sie nicht im geringsten. Der verlässliche Gustav, der brav der Hausherrin folgend bereits am Esstisch Platz genommen hatte, war, so Julia, ein Glücksgriff und solange sich noch Männer nach ihr umdrehten, Kollegen mit ihr Kaffeetrinken wollten, der eine oder andere junge Turnusarzt ihr mit roten Ohren Blumen brachte, konnte sie mit diesem Kompromiss sehr gut leben.

Essen, bitte kommt Essen!“, schallte es durch den Raum. Ursula hatte Angst um ihre Hirschmedaillons und bat die Gäste jetzt eindringlich, einen Halbstock höher am Esstisch Platz zu nehmen. Robert half ihr dabei, die Gäste aufzuscheuchen.

Zu Tisch, aber schnell“, bat er die Freunde.

Was ist mit Hans?“, meinte Julia. „Er kommt sicher gleich.“

Das ist mir egal. Ursula erwürgt mich, wenn der Hirsch wegen Hans vertrocknet. Außerdem isst er so was eh nicht.“

Da hast du recht. Was ist mit dem Geschenk? Es ist auch von Hans.“

Das gebt ihr mir eben später“, sprach Robert schon etwas genervt.

Die Stimmung bei Tisch war ausgelassen und fröhlich, bis die ersten Gäste Teile des Hirsches in ihre Münder steckten. Schlagartig wurde es still. Hektisch griffen einige nach den Wein- und Wasserflaschen. Die Freunde sahen sich erstaunt an. Ursula war nie in den engeren Kreis aufgenommen worden, hatte nie verstanden, worüber sie lachten, doch ihre Fähigkeit, großartige Gerichte zu kochen, stand für alle außer Zweifel. Was mit diesem Hirsch geschehen war, konnten sich niemand erklären.

Robert sah alarmiert zu den Freunden. Die Botschaft war klar: dieser Hirsch wird gegessen, egal wie er schmeckt. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass einige Gäste auffällig langsam kauten.

Endlich aß auch Ursula ein Stück von dem allseits verschmähten Tier. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Nur der Koch selber konnte bei so einer Gelegenheit die Gäste aus ihrer Pflicht entlassen. Sie schluckte hinunter und schien absolut zufrieden mit ihrer Kreation zu sein. Einige Gäste runzelten die Stirn. Ursula bemerkte, wie Gustav mit seiner Gabel unschlüssig in der Speise stocherte.

„Schmeckt es dir nicht?“ Alle sahen Gustav an. Gustav, kein Mann, der gerne öffentlich sprach, stotterte: „Ich, ich…“, spürte, wie sich Julias Fingernägel unter dem Tisch in seinen Schenkel gruben und winselte: „Ich… Ich… Ich bin Vegetarier.“ Julia hob erstaunt die Augenbrauen. Andere Gäste schienen hektisch zu überlegen, ob das nicht auch für sie genau der richtige Zeitpunkt wäre, auf Fleisch zu verzichten.

Christina machte dem Spuk ein Ende. Sie hob ihr Glas und verkündete: „Der Hirsch ist tot, es lebe die Köchin.“ Alle lachten und hatten die Botschaft verstanden. Das Wohl der Köchin stand über dem schrecklich versalzenen Tier. Jeder musste brav seinen Anstandsteller aufessen. Sofort wurde die Stimmung wieder ausgelassen und nur ein sehr aufmerksamer Beobachter hätte festgestellt, dass alle am Tisch sehr viel tranken.

Beinahe hätten die Gäste die Türglocke überhört. Robert sprang auf und öffnete. Julia lächelte und tätschelte Gustavs Wange. Gustav sah sie an: „Was ist?“ „Nichts, mein Schatz. Hans ist da.“

Auf der Stiege hinauf zum Esszimmer waren Schritte zu hören. Robert stand als erster mit einem fröhlich, erstaunten Gesicht vor dem Tisch.

„Hans ist da, und…,“ aber da war Hans schon auf der obersten Stufe erschienen, sah sich kurz um, erkannte die Freunde, lächelte breit und verkündete: „Uma.“

Julia sah ihn an, meinte sich verhört zu haben, doch in dem Augenblick tauchte eine schwarzhaarige, leicht pummelige, aber attraktive junge Frau mit einem runden, mongolischen Gesicht neben Hans auf. Und es war ihr Gesichtsausdruck, der sofort die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zog.

Uma strahlte soviel frische und gesunde Fröhlichkeit aus, als hätte sie ihre Wangen mit Schnee eingerieben. Jeder der Anwesenden konnte sich Uma sofort in einem Eskimo-Kostüm vorstellen, wie sie lachend und mit einem Speer bewaffnet durch den arktischen Sommer lief.

Die kurze Stille wurde von einem lauten Magenknurren unterbrochen. Hans sah Uma liebevoll an und meinte dann entschuldigend. „Ich glaube, sie ist sehr hungrig. Wir haben schon ewig nichts gegessen.“ Wie als Dank für die Übersetzung ihrer Gedanken küsste Uma Hans schnell auf die Wange und die beiden setzen sich zu Tisch.

Ursula zögerte keinen Augenblick und reichte der glücklichen Eskimofrau einen vollen Teller. Von allen Seiten aufmerksam beäugt, nahm Uma die Gabel und stopfte sich schnell mehrere Bissen zwischen die blendend weißen Zähne. Mit genießerisch, halb geschlossenen Augen verschlang sie Bissen drei und vier. Die Gäste staunten.

„Es schmeckt ihr.“ Ursula sah Uma vergnügt an und vergaß auch Hans einen Teller zu reichen. Das war nicht nötig, denn Uma hob ihre Gabel und begann Hans zu füttern.

Julia wartete gespannt, was jetzt passieren würde, doch Hans sah Uma nur verträumt an und schluckte das zähe, salzige Fleisch hinunter. Noch kauend wandte sich Hans an die Gäste, deren ungläubige Blicke ihm aufgefallen waren.

„Ihr müsst entschuldigen, aber da oben im Norden, da bekommt man höchstens einmal in hundert Jahren so etwas Gutes zu essen und…“

Uma unterbrach Hans und schob ihm ein Stück Hirsch in den Mund. Hans ließ es geschehen, als sei diese Art der Behandlung für ihn vollkommen normal. Nur Julia und dem Rest der Freude war bewusst, welch besonderes Schauspiel sie gerade erlebten.

Die Stimmung wurde ausgelassen. Alle unterhielten sich, nur Julia wurde so still, dass Gustav es für notwendig empfand, Konversation zu betreiben.

Auch das Gemüse ist sehr gut.“

Halt den Mund, Gustav“, antwortete Julia.

Der Wein hob die Stimmung weiter und mehrere Gäste wollten jetzt alles über Uma und Hans wissen. Hans gab bereitwillig Auskunft, erzählte die ganze Geschichte, die ihn und Uma zusammengeführt hatte.

In Erinnerung blieb den Gästen, dass die beiden kaum mit einander sprechen konnten, denn Uma verstand nur ein paar Brocken Englisch und Hans kein Wort ihrer nordschwedischen Eingeborenensprache.

„Aber es geht auch so“, sprach Hans und lächelte Uma an. Wie auf ein Signal tat sie es ihm gleich. Wer immer die beiden sah, wusste, dass hier die Kommunikation auf einer ganz anderen Ebene geführt wurde.

Besonders lustig fanden die Gäste Hans’ Beschreibung der Gesellschaftsstruktur, in der Uma aufgewachsen war. Dieses fast unbekannte Volk – eine Untergruppe der Lappen – war matriarchalisch organisiert. Die wesentlichen Entscheidungen wurde dort von den Frauen getroffen. Die Frauen fuhren das Schneemobil, kauften das Haus und suchten den Ehepartner aus.

Als wollte sie dies beweisen, stand Uma plötzlich auf, verbeugte sich, sprach: „ Thank you. Food good. We go.“, und nahm Hans an der Hand. Offensichtlich dachte sie keine Sekunde daran, ihre Entscheidung mit Hans vorher abzustimmen oder eine Diskussion darüber zu führen.

Hans lächelte nur, winkte seinen Freunden zu und trabte Uma glücklich hinterher. So schnell, wie die beiden gekommen waren, hatten sie das Fest auch wieder verlassen.

Sofort entbrannte eine wilde Diskussion über Beziehungen, kulturelle Unterschiede und die Liebe im Allgemeinen.

Julia sah ihre Freunde betroffen an. Die wussten, was geschehen war, und teilten, bis zu einem gewissen Grad, Julias Betroffenheit.

Hans hatte sich verliebt. Er schwebte auf Wolken, sah alles rosa und war über den Umweg Nordschweden auf eine große Liebe gestoßen. So groß war die Liebe, dass ihm die eigenen Gepflogenheiten vernachlässigbar erschienen. Mehr noch: Hans hatte sich offensichtlich vergessen, hatte innerlich diese Verbindung über sein altes Ich gestellt und war ganz in dieser neuen Beziehung aufgegangen.

Robert tröstete sich damit, dass dieses süße Rauschen sehr bald der Realität weichen würde, während Christina nach der Flasche Gin Ausschau hielt. Julia starrte nur auf den Punkt, wo Hans verschwunden war.

Als sich gegen halb zwölf der erste Gast verabschiedete, sprang Julia ebenfalls auf und reichte Ursula die Hand. „Danke, für das gute Essen.“

Ursula war nach Umas Vorstellung überzeugt, dass ihr Hirsch ein voller Erfolg gewesen war und glaubte Julia jedes Wort.

Danke, dass ihr gekommen seid.“

Eilig küsste Julia Robert. Gustav stand wieder vor dem Aquarium und war sichtlich enttäuscht, so früh gehen zu müssen.

„Los.“

Die Nacht war angenehm kühl. Gustav wollte Julia die Hand reichen, doch sie lehnte ab und ging, ohne sich umzudrehen, auf den Wagen zu.

Erst als Gustav länger nach dem Autoschlüssel suchen musste, erkannte er Julias angespannten Gesichtsausdruck.

„Willst du fahren?“

„Nein.“

„Ich habe was getrunken.“

Julia funkelte Gustav böse an. Schnell ging sie um das Auto herum, nahm Gustav den Schlüssel weg und öffnete die Fahrertür.

Seite an Seite saßen sie im Wagen. Julia hatte den Autoschlüssel in der Hand, starrte aber nur schweigend hinaus in die Nacht.

„Soll doch besser ich fahren?“, fragte Gustav zögernd.

Julia schwieg und erst als sich Gustavs Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er den bebenden Unterkiefer seiner Frau.

Er beugte sich zu Julia und erkannte die Träne. Verwirrt lehnte er sich zurück.

Zuerst schluchzte Julia nur leise, dann immer heftiger, bis sie den Kopf vollkommen verzweifelt auf das Lenkrad legte. Ihr ganzer Körper schien zu beben, während die Tränen auf den Boden tropften.

Gustav räusperte sich. Julia reagierte nicht. Als auch ein zweiter Versuch erfolglos blieb meinte er trotzig: „ Jetzt komm! So schlecht war das Essen auch wieder nicht.“

Julia drehte sich zu Gustav, schien kurz zu überlegen und schrie dann aus voller Kehle: „Ich lass´ mich scheiden!“

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Kapitel 6

Florian Schuster hüstelte, sah aus dem Fenster und suchte nach etwas, was ihn dazu motivieren würde, an diesem kalten, nebligen Sonntagmorgen Laufen zu gehen. Der Wind wurde kräftiger und es begann zu nieseln. Schaudernd drehte sich Florian weg, ging leise durch das Zimmer, um Christina und Hanna nicht zu wecken. Peter saß bereits mit dem Gameboy im Bett.

Guten Morgen, willst du einen Tee“, fragte Florian seinen Sohn. Peter, der seinen Blick nicht von dem Spielzeug löste, antwortete: „Ist die Mama wach?“

„Nein, und bitte lass sie schlafen. Willst du einen Tee?“

Peter wollte keinen Tee. Florian ging in die Küche und machte Kaffee. Er könnte Hans anrufen und ihm sagen, dass er sich schlecht fühle und das Wetter miserabel sei. Den zweistündigen Lauf hinauf auf den Kahlenberg könnte man ein andermal absolvieren.

Nein, Florian würde nicht anrufen. Erstens hatte er gar nicht die Telefonnummer, denn Christina hatte diesen Lauf mit ihrem alten Bekannten aus Graz arrangiert und zweitens war Florian schlicht zu unflexibel, einen einmal gefassten Plan zu verwerfen.

Das war nicht eine Form der Beharrlichkeit, die jemanden dazu treibt, sein Ziel trotz widriger Umstände nicht aus den Augen zu verlieren, sondern die Unfähigkeit, eine geplante Marschroute den Umständen entsprechend anzupassen.

Florian verfolgte Ziele wie ein Fahrgast der Straßenbahn: Hier war die Einstiegstelle, dort die Endstation. Dazwischen lag ein Schienenstrang, der sich nicht verbiegen lassen würde.

Trotz des leichten Hustens wusste Florian, dass ihn seine trainierten Beine leicht hinauf auf den Berg und wieder nach Hause tragen würden.

Erst spät, mit 38, hatte er begonnen, regelmäßig Laufen zu gehen, doch bald wurde ihm die Bewegung zu einer mentalen Stütze. Stress privater oder beruflicher Natur ließ sich am Besten mit einem langen Lauf bewältigen. Nach 90 Minuten lockeren Trabens durch die Landschaft, sah die Welt meist freundlicher aus.

Sex war ebenfalls ein gutes Mittel Stress abzubauen, doch dafür brauchte er Christina und die baute ihre Stress lieber anders ab. Genaugenommen war keine der fünf festen Freundinnen, mit denen Florian je eine Wohnung geteilt hatte, so uninteressiert an Sex gewesen, wie Christina. Und doch hatte er sie geheiratet. Ihr konnte er vertrauen. Mehr noch: im Gegensatz zu den anderen Frauen, die er kennen gelernt hatte, war Christina eine echte Stütze, ein gleichwertiger Partner, auf den man sich absolut verlassen konnte.

Ein weiterer Grund warum sich Florian bei Christina so geborgen, ja beschützt fühlte, war ihre Beziehung zum Rest ihrer Familie. Christinas Eltern, wie die noch lebenden Großeltern, Tanten, Onkeln und Cousinen waren eine verschworene Gemeinschaft.

Selbst wenn innerhalb der Familie einmal gestritten wurde, so half doch jeder jedem und Florian hatten sie seit der Hochzeit quasi adoptiert. In dieser Familie war es kein Problem jemanden zu finden, der in der Not auf die Kinder aufpassen konnte. Im Gegenteil: Christinas Eltern wären beleidigt gewesen, hätte man sie nicht um Hilfe gebeten. Geburtstage alle Familienmitglieder wurden gemeinsam gefeiert und zu Weihnachten saßen fast zwanzig Personen an einem Tisch aßen, tranken und plauderten bis tief in die Nacht.

Ein Verhalten wie das seines Vaters, war in Christinas Familie undenkbar. Alle paar Wochen rief Florian Vater Schuster an, um den Kontakt nicht ganz abreißen zu lassen. Melde sich Vater Schuster hingegen bei Florian, wollte er sich Geld ausborgen. Die Enkelkinder sah „der Schuster-Opa“ höchstens einmal pro Jahr und diese Begegnungen waren geprägt von gegenseitigem Desinteresse.

Demnächst würde er ihn besuchen. Ein Bekannter hatte Vater Schuster ins AKH gebracht. Diesen hatte Florian wenig später zufällig auf der Straße getroffen. Der Bekannte erkundigte sich nach dem Gesundheitszustand von Vater Schuster doch Florian wusste nicht einmal, dass sein Vater erkrankt war. Den Sohn zu verständigen, dass eine Herzklappe fehlerhaft sei, war Vater Schuster nicht in den Sinn gekommen.

Florian trank den Kaffee und schnallte sich den Pulsmesser um. Der Plan war, mit Hans laufen zu gehen, also würde er trotz des leichten Hustens und dem Nieselregen das Haus verlassen.

Dass er Hans erst einmal, bei der eigenen Hochzeit gesehen hatte, spielte keine Rolle. Christina meinte Hans sei einer ihrer ältesten Freunde, wäre für zwei Tage in Wien und hätte sie um einen Lauftipp gebeten.

Zurecht vermutete Florian einen anderen Grund, warum er mit diesem Gewerkschaftsfunktionär laufen gehen sollte. Christina hatte ihm aufgetragen, unbedingt den Status von Hans Beziehung zu einer Eskimofrau abzufragen. Diese Information sei wiederum wichtig für eine andere Freundin aus Christinas Bekanntenkreis.

Na gut, dachte Florian, trotzdem habe ich mir ein bisschen Motivation verdient. Das war einer der kleinen Tricks, die er sich im Laufe seines Lebens zurecht gelegt hatte. Schaffe ich dieses oder jenes, dann werde ich mir etwas gönnen. Bekommt unser Team den Auftrag zur Brückenprüfung der U-Bahnlinie, fahren wir ans Meer. Beauftragt mich die Stadt St. Pölten mit der Planung der Fußgängerbrücke über die Traisen, kaufe ich ein Bild dieser Künstlerin, deren Arbeiten ich letztens sah. Laufe ich den nächsten Marathon in drei Stunden und 30 Minuten, frage ich Bernadette, ob sie mit mir schläft.

Florian grinste. Warum ihn Bernadette sexuell so inspirierte, wusste er selbst nicht. Allerdings: den Marathon in drei Stunden und 30 Minuten zu laufen, war für ihn leider unrealistisch.

Die Schinderei an diesem nasskalten Sonntag musste versüßt werden. Diesmal würde dieser kleine Bonus perfider ausfallen. Florian wollte sich daran ergötzen, wie diesem Hans beim Lauf hinauf auf den Berg die Zunge aus dem Hals hing.

Das Leben war ungerecht und wenn man da einmal die Gelegenheit hatte, gewisse Dinge zurecht zu rücken, so war das nur fair. Während Florian als Teilhaber des kleinen Ingenieurbüros um jeden Auftrag kämpfen musste, war Hans als Gewerkschaftler von allen finanziellen Ungewissheiten befreit.

So blöd konnte die Gewerkschaft gar nicht wirtschaften, dass sich nicht Monat für Monat ein schönes Gehalt für die eigenen Spitzenkräfte ausgehen würde. Florian bestritt nicht, wie wichtig ein Vertretung der Arbeitnehmer war, doch war er der Überzeugung, dass diese Kaste beamteter Vertreter eine Art Staat im Staat bildete.

Besonders ärgerlich war, dass Hans von seinem sparsamen Vater zwei Häuser geerbt hatte und sein Einkommen nicht auf viele Köpfe einer Familie verteilen musste.

Ja, und wenn ich jetzt hinausgehe, bei dem Wetter, mit meiner Verkühlung, dann will ich sehen, wie die Zunge des kinderlosen Hausbesitzers und Gewerkschafters den Asphalt entlang schleift.

Dass sich Florian sicher war, der überlegene Läufer zu sein, hatte ihm Christina vermittelt. Sie meinte, Hans habe keine Zeit für Sport und würde jede freie Minute mit der Bewältigung diverser Beziehungsprobleme verbringen.

Florian schlug vor, auf den Kahlenberg zu laufen. Von dort hätte man einen schönen Ausblick und das steile Stück gegen Ende der Strecke wäre nur kurz. Christina hatte nur mit den Schultern gezuckt und Hans telefonisch den Treffpunkt durchgegeben. Solange Florian die gewünschten Informationen betreffend die Eskimofrau liefern würde, war ihr egal, wohin er lief.

Pünktlich erreichte Florian den Treffpunkt, sah auf seine Pulsuhr und musste husten. Kurz bevor er sich einigermaßen erfangen hatte, sah er Hans, der am Ende der Straße auftauchte.

Wohlwollend stellt Florian fest, dass Hans wie ein blutiger Anfänger ausgerüstet war. Seine Schuhe waren alt, die blaue Trainingsjacke zu dick und die Hosen weit statt anliegend.

Laufen war auch deshalb zu Florian’ bevorzugter Sportart geworden, weil dieser Sport kaum Möglichkeiten bot, mit extravaganter Ausrüstung zu protzen. Natürlich konnte man die neueste Pulsuhr oder besonders teure Kleidung kaufen, doch im Verhältnis zu anderen Sportarten erzielte man dadurch kaum einen leistungssteigernden Vorteil.

Schon mit relativ bescheidenen Mitteln konnte man sich ordentliche Schuhe, eine winddichte aber atmungsaktive Jacke, eine eng anliegende Laufhose und die unerlässlichen Laufhemden zulegen. Wer ernsthaft trainierte, hatte sofort diese Ausrüstungsgegenstände und war für alle Wetterlagen gerüstet. Florian lächelte. Ja, die Zunge des pragmatisierten Lohnzettelempfängers würde hängen im Dienste der Gerechtigkeit.

Entschuldige, dass ich zu spät bin, aber ich hab mich verlaufen“, meinte Hans zerknirscht und reichte Florian die Hand. Der hustete noch einmal.

Alles Okay mit dir?“ Hans sah Florian besorgt an.

Kein Problem“, sagte Florian, „das ist nur eine leichte Verkühlung und nach dem Lauf geht es mir besser. Von Christina soll ich dir schöne Grüße ausrichten. Sie ist ganz scharf darauf, deinen Beziehungsstatus zu erfahren.“

Hans lachte. „Was? Christina schickt dich mit Husten bei diesem Mistwetter hinaus, nur weil sie neugierig ist? Diese Weiber. Wenn du willst, setzen wir uns in ein Cafe´ und ich ruf sie später an?“

Florian musste lächeln. „Nein, nein, ich wäre sowieso Laufen gegangen. Ehrlich, ich mach das jeden Sonntag.“

Wie du willst. Du bist der Fachmann. Ich lauf einfach neben dir her.“

Genau das will ich mir anschauen, dachte Florian, musste sich aber eingestehen, dass Hans Freundlichkeit seine Vorfreude auf das Gewerkschafterdebakel dämpfte.

Langsam trabten sie los. Ihr Weg führte sie von einer bürgerlichen Wohngegend hinein in das Gebiet der Villen, der Botschaftsresidenzen und schlossartigen Behausungen adeliger Familien.

Die ersten Kilometer unterhielten sie sich über Kleinigkeiten des Alltags und gemeinsame Freunde wobei Hans das Thema Uma immer elegant umschiffte.

Im Verlauf der Unterhaltung stellte sich heraus, dass Hans in den letzten Monaten sehr oft in Wien war und ernsthaft an eine Übersiedlung dachte. Seine kränkliche Mutter würde er natürlich mitnehmen.

Die beiden Männer liefen ruhig durch den feuchten Nebel Richtung Kahlenberg. Einem entgegenkommenden Passanten wäre nie aufgefallen, dass hier zwei Männer neben einander her liefen, deren Lebensumstände doch sehr unterschiedlich waren. Hans mit seiner altertümlichen Ausrüstung machte keinesfalls den Eindruck, als würde er auch nur in der Nähe der Villengegend wohnen.

Langsam näherten sie sich dem Fuß des Berges und der Weg wurde merklich steiler. Dass Hans außer Atem kam, war nicht zu bemerken. Ganz im Gegenteil, er war offensichtlich bei seinem Lieblingsthema angekommen und begann die Häuser, an denen sie vorbei liefen, zu kommentieren. Dieses habe er sich auf seiner Suche nach einem adäquaten Wohnsitz angesehen, aber es hätte nicht dem Marktwert entsprochen, jenes habe seine Mutter abgelehnt, weil es keinen Garten habe, das hier liege leider ungünstig.

Florian wunderte sich. Hans hatte den Häusermarkt offenbar recht lange beobachtet. Ihn zu fragen, wie viel Geld er für sein Domizil schlussendlich auszugeben bereit war, traute er sich nicht. Einerseits wäre es wohl unhöflich gewesen, andererseits fürchtete sich Florian davor, eine Zahl zu hören, die so jenseits der eigenen Möglichkeiten war, dass er sich schämen, ja minderwertig vorkommen würde.

Florian forcierte das Tempo und stellte eine Frage: „Christina hat erzählt, du hast in Graz zwei Häuser geerbt und eines davon renoviert?“ Die Antwort darauf interessierte Florian nicht, doch er wollte endlich Schweißperlen auf Hans Stirn sehen. Jetzt ging es kurz steil bergauf und Hans, der konstant neben Florian her lief, würde durch das Erzählen mehr Kraft brauchen.

Der Plan schlug fehl. Hans erklärte ausführlich, wie und zu welchem Preis er sein Haus adaptiert, umgebaut und erweitert hatte. Stil und Form, schlichte Eleganz und nachhaltige Qualität waren die Leitlinien seines Handelns gewesen. Florian begann zu husten.

Alles Okay?“, meinte Hans besorgt. Florian wischte sich den Schweiß von der Stirn, während Hans am Stand weiter lief.

Na klar, es ist nur… die Verkühlung. Geht schon.“ Florian lief schnell weiter.

Schau dir das Haus zum Beispiel an. Ich mein das… das muss über eine Million gekostet haben. In der Gegend… aber der Vorbau… das passt überhaupt nicht zusammen. Und hier: das ist doch Kitsch pur.“

Florian schwieg und steigerte noch einmal das Tempo. Alles woran er dachte, war sein Bonus für diesen Lauf durch die feuchte Kälte an einem Sonntag, den sein Körper besser im Bett verbracht hätte. Dieses bisschen ausgleichende Gerechtigkeit sollte doch zu haben sein. Das Gerede, in das sich Hans immer mehr hineinsteigerte, interessierte Florian nicht.

Einmal war er bei Hans in Graz zu Gast gewesen und, obwohl das Haus sicher sehr schön renoviert worden war, konnte man es doch nicht mit den Villen hier, in der schönsten Gegend Wiens vergleichen. Die Besitzer dieser Häuser bewegten sich auf einem finanziellen Niveau, das mit Erwerbsarbeit, nicht zu erreichen war. Schon der Preis der Grundstücke in dieser Gegend beschränkte die Zahl möglicher Käufer. Diese Leute lebten in einer anderen Welt und ihr luxuriöses Schicksal ließ Florian vollkommen kalt.

Na das ist aber sehr schön. Obwohl… die vielen Bäume um das Haus… wenig Licht, kaum Sonne.“

Florian riss sich die schweißdurchtränkte Mütze vom Kopf. Die beiden kamen an eine Weggabelung. Florian blieb stehen. Sein ganzer Körper schien zu dampfen. Hans, der ebenfalls stehen blieb, stemmte die Arme in die Hüften. Florian schöpfte Hoffnung.

Also normalerweise lauf ich jetzt den Weg rechts hinauf. Der ist zwar etwas steiler aber sehr schön.“ Insgeheim war es ihm egal, welchen Weg sie einschlagen würden. Kam das schwerste Stück beim rechten Weg etwas früher, so kam es beim linken etwas später. Er wollte vor dem finalen, alles entscheidenden Angriff auf den Gipfel nur noch einmal verschnaufen.

Nein, laufen wir lieber links, da gibt es einen Friedhof und ein paar neue Häuser… aber wenn du lieber rechts läufst, bitte, ganz wie du willst, du bist ja der Läufer.“

Florian stutzte. Bis hierher war Hans auf seiner Suche nach einem Haus gekommen?

Aber er hatte recht, dachte Florian, ich bin der Läufer, ich habe die trainierten Waden. Florian setzte die Mütze wieder auf, lächelte und lief los.

Der idyllische Weg führte sie einen Bach und eine Friedhofsmauer entlang hin zu einem Hang mit Weingärten. Für die herbstlich verzauberte Landschaft, die zwischen den Nebelschwaden immer wieder auftauchte und verschwand, hatten sie keinen Blick mehr. Florian trieb sich den Hang hinauf, forderte seine Beinmuskulatur, das pochende Herz, die Lunge.

Florian blickte neben sich. Hans war die Anstrengung deutlich anzusehen. Er atmete schwer. Seit zehn Minuten hatte er kein Wort gesprochen. Er sah, die Stirn in Falten gezogen, fast zornig nach vor, als wollte er Löcher in den Nebel brennen.

Das war’s, jetzt kommt die Zunge, freute sich Florian und lief noch schneller, wissend, dass der Gipfel nicht mehr weit war. Hans wurde langsamer, fiel eine halbe Schrittlänge zurück, dann einen Meter und lief schlussendlich überhaupt hinter Florian her.

Mit jeden Schritt steigerte sich Florians Wohlbefinden. Das war eben seine Domäne und hätte der liebe Gott alle Güter dieser Welt gerecht verteilt, dann wäre er mit seinem Starrsinn auch längst Eigentümer eines Hauses mit großem Garten.

Keuchend und grinsend setzte Florian einen Fuß vor den anderen, die Muskeln bis zum äußersten gespannt, lief er den Hang hinauf, als würde oben am Gipfel des Kahlenberges die lang ersehnte Erlösung eines Übels warten.

Es ist aber ein Faktum, dass körperliche Anstrengung die Durchblutung der Muskulatur fördert, während andere Körperteile derweil mit geringerer Versorgung bedacht werden. Die Leistungsfähigkeit gewisser Hirnregionen nimmt ab. Das war auch Florian bekannt, der oft versucht hatte, eine schwierige Trainingseinheit mit diversen Rechenoperationen zu begleiten.

Die Frage, wie schnell man eine 400-Meter Runde zu laufen hatte, wollte man den Kilometer in 4 Minuten und 15 Sekunden bewältigen, war schon ausgeruht am Schreibtisch sitzend eine Denksportaufgabe. Schnell laufend, hier am steilsten Stück der Strecke kurz vor dem riesigen Mast des Senders Kahlenberg, war so eine Kalkulation für die meisten Menschen nicht zu bewältigen.

Das Gehirn war schlicht unterversorgt und in das geistige Vakuum stießen Gedanken vor, die unter anderen Umständen fein säuberlich verschlossen geblieben wären.

Schau dir das an…!“, schallte es laut durch den stillen, nebeligen Morgen. Florian erschrak und drehte sich im Lauf zu Hans um. Dieser rannte, die eine Hand ausgestreckt in die Landschaft deutend, so schnell an Florian vorbei, als sei das bisherige Lauftempo nur eine Art lockeres Aufwärmtraining gewesen. Mit rasendem Herzschlag, aufgerissenem Mund und wirrem Blick verfolgte Florian Hans. Alle Muskeln spannten sich in seinem Körper. Wie wild versuchte er Hans nachzusprinten, wusste aber nach wenigen Schritten, dass sein Körper dazu nicht mehr in der Lage war.

Diesen scheußlichen Kasten haben sich die Kinder von diesem Pseudo-Industriellen Schöpfberger gebaut… und der ist gerade wegen fahrlässiger Krida fünf Jahre gesessen.“ Für wenige Sekunden konnte Florian die Villa erspähen, die sich, von Nebelschwaden umgeben, sanft an den Hang schmiegte. Das Haus war ein typischer Neubau, weder besonders imposant oder schön, noch markant hässlich. Nur über die große Fensterfront und die damit verbundenen Heizkosten wunderte sich Florian, kurz bevor er auf dem nassen Stein ausrutschte und auf dem Waldboden aufschlug.

Die Arbeiter hat er ausgequetscht und gleichzeitig sein Scheißhäusl zu einem Palast ausgebaut. Voller Kitsch. Wie in einem türkischen Puff sieht’s da drinnen aus. Krachen gegangen ist er aber erst, als er sich mit einem noch größeren Ausbeuter angelegt hat. Die Arbeiter sind natürlich mit leeren Händen übrig geblieben …aber jetzt bauen seine Kinder noch einmal was dazu. Mit welchem Geld frag ich mich, weil die Kinder von dem kenn ich. Keine Leuchten, sag ich dir, keine Leuchten. Und der Geschmack sagt ja einiges. Schau dir mal die Farbe an… Geht’s wieder?“

Langsam stand Florian auf. Sein rechtes Knie schmerzte. Vorsichtig machte er ein paar Schritte. „Aua!“

Willst du lieber gehen?“, meinte Hans besorgt. „Nein, nein, aber…laufen wir halt ganz langsam“, antwortete Florian und trabte vorsichtig los.

In einem Tempo, das sich unwesentlich von dem einer wandernden Kindergruppe unterschied, legten die beiden die letzten fünfhundert Meter bis zum Gipfel zurück. Hans begann sofort wieder, vom anscheinend doch nicht so tiefen Fall des Arbeiterschinders Schöpfberger zu berichten, während Florian schweigend neben ihm her trippelte.

Der Sturz und die damit erzwungene Pause hatte zwar ein wundes Knie hervorgebracht, war aber, was die Durchblutung des Hirns betraf, sehr hilfreich gewesen. Der Wettkampf, der nur in seinem Kopf stattgefunden hatte, war verloren. Hier und heute, an diesem neblig, kalten Herbsttag, war Florians Zunge dem Boden weit näher gekommen als die von Hans. Mit dem geh ich nicht mehr Laufen, dachte Florian, soll er sich doch mit anderen Haus – und Gartenbesitzern treffen.

Der Nebel hatte das Schinder-Haus wieder verschluckt und selbst der riesige Sendemast vor ihnen war kaum zu sehen. Hans hinderte das nicht weiter daran, die Verbindung aus Geschmacklosigkeit und kriminellem Verhalten anzuprangern.

Die Strecke bis zur Kirche und dem neu errichteten Hotel mit seiner Aussichtsplattform war fast eben und in Anbetracht des Tempos der beiden nicht weiter anstrengend. Florian schwieg, ärgerte sich nach wie vor, doch das frische Blut in seinem Kopf ermöglichte ihm einen Gedanken, der zwar keinen Bonus jedoch einen friedlichen Ausklang dieses Sonntagmorgens versprach.

Warum konnte sich Hans über diese Häuser so erregen? Weshalb fand keines der Bauwerke in dieser besten Wohngegend Wiens seine Zustimmung? War Hans ein Architekturfanatiker oder war die Kritik an diesen Häusern damit zu erklären, dass seine finanziellen Möglichkeiten zwar für ein Haus mit Garten in Graz ausreichten, aber eben nicht in der nobelsten Gegend Wiens?

Plötzlich tauchte das Hotel auf. Erleichtert schlenderten sie zur Aussichtsterrasse, lachten und öffneten ein wenig ihre Jacken.

Meine Jacke ist ein totaler Mist“, meinte Hans. „Ich brauch so eine wie deine. Unter diesem alten Ding schwitzt man wie in einer Sauna.“

Was?“ rief Florian überrascht, „Und ich hab gedacht, dir macht die Steigung nichts aus“

Was? Ich war fast froh, wie es dich hingestreut hat. Viel länger hätte ich das Tempo nicht halten können. Ich bin ja nicht so trainiert wie du.“

Verwirrt lehnte Florian an dem Geländer der Aussichtsplattform. Zu sehen gab es nicht viel. Er suchte nach dem Allgemeinen Krankenhaus, diesen, von allen Spezialisten für hässlich befundenen Türmen, die normalerweise aus dem Häusermeer ragten, wie die Würfel eines Riesen. Allein, der temporäre Aufenthaltsort des herzkranken Vaters und der Rest der Stadt waren versteckt hinter einer weißen Nebelwand.

Florian hustete. Nur eines schien an diesem Sonntagvormittag gewiss: da war ein Läufer mit Haus und Garten und einer ohne. Von einer ausgleichenden Gerechtigkeit, einer Art Gleichstand konnte also nicht die Rede sein. Oder doch? Gab es einen Gleichstand der subjektiven Unzufriedenheit, jenseits objektiver Vermögensverhältnisse?

Florian drehte sich leicht nach rechts, wollte den Rückweg antreten, als er die Villa entdeckte.

Noch vor dem Nebel und dem angrenzenden Wald stand sie leicht abseits an der alten, für den Verkehr gesperrten Straße. Sie musste um die Jahrhundertwende gebaut worden sein und jeder Laie konnte erkennen, dass dieses Haus ein Juwel, ja, ein in Holz und Stein gegossenes Beispiel für Eleganz und Stil war.

Wäre es nicht beruhigend, könnte Florian beweisen, dass Hans, wenn auch auf höherem Niveau, genauso ein Opfer seiner Wünsche und Sehnsüchte war? Jemand, dem es schwer fiel, anderen zu gönnen, was ihm selber verwehrt bleiben würde.

Einen Moment zögerte Florian, dann drehte er sich zu Hans und deutete in Richtung Villa: „Schau einmal… das Haus da drüben?“

Hans blickte in Richtung Villa und überlegte einen Augenblick. Auf seiner Stirn bildeten sich Falten, sein Mund verzog sich. Fast betroffen schüttelte er den Kopf.

„Die arme Sau.“

Für einen Augenblick bahnte sich ein Sonnenstrahl einen Weg durch die Nebelwand. Florian grinste als sich Hans zu ihm drehte.

Stell dir doch einmal vor, du hast so ein Haus und genug Geld, um es zu erhalten. Was willst du da noch erreichen im Leben?“

Florians Lächeln verschwand so schnell wie der Sonnenstrahl. Leicht verwirrt stand er da, wusste in dem Moment nicht, ob er zufrieden oder enttäuscht sein sollte.

Na komm, laufen wir los“, meinte Hans, „sonst verkühlen wir uns.“

Still trabten die beiden neben einander her, die Kahlenberger Straße hinab, hinein in den alles verschlingenden Nebel.

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Kapitel 7

So ein Nebel. Die auf der Sonderklasse sehen sonst den Kahlenberg, aber heute… Haha, heute nix. Ich schau immer nur vom AKH aufs AKH. Da zahl ich ein Leben lang ein, finanzier den ganzen Spaß und dann schau ich auf den grauslichen Kasten.

Wo bleibt das Frühstück? Und der Mayer? Der schläft noch. Wie der schlafen kann. Armes Schwein. Immer brav Geld nach Haus gebracht, gekuscht, alles runter geschluckt… und dann: Herzinfarkt. Aber schlafen kann er. „Hey Mayer, aufwachen, Frühstück kommt gleich.“

Hört nichts, sieht nichts, schläft nur.

Gestern war das ganze Zimmer voll. Seine Frau, seine zwei Söhne und sein Bruder waren da, aber er hat geschlafen. Ich hab sie unterhalten können. Ist eh eine nette Familie. Rührend, wie die…

Atmet er noch? Warum sie den nicht an den Herzmonitor hängen? Die arme Sau hat doch gar nicht mehr die Kraft, dass er den Knopf drückt, wenn ihm die Luft wegbleibt. Ich mein, ich bin eh da, aber…

Na, endlich, Frühstück. „Guten Morgen, Schwester? Nein, der Mayer, der schläft. Noch ein bisserl und der wacht euch nicht mehr auf. Hahah….

Wann kommt denn der Primar heute? Warum auf Urlaub?“

Mh, das Semmerl ist gut. „Hey Mayer, ham Sie was dagegen, wenn ich auch ihr Semmerl…“ Sein Semmerl nehm ich mir. … Zeitung, ich brauch eine Zeitung. Das Semmerl vom Mayer ess ich aber mit Zeitung und der Spaziergang wird mir gut tun.

Da ist was los am Gang. „Grüß, Sie…ja, danke, sehr gut, und Ihnen?“ Wie der ausschaut. Kasweiß im G´sicht.

Hier kommt die Frau Schönhuber. Fast 80 und sieht aus wie 65. Die ist ein Phänomen. Luft kriegts halt keine. Wieso die Herzpatienten alle keine Luft kriegen? Alle habens große Augen und schnappen nach Luft, wie die Fisch auf der Wies´n.

Die Schönhuber, die macht noch mit Achtzig was her. So ein Luder. Die war sicher nicht verheirat. Die hat sich ganz ohne Ehe ausfinanziert. …

Schau, da ist der Pokorny. „Du Pokorny, hast du a Zeitung?“

Fahr ich halt runter und kauf mir eine. Der Aufzug ist ein Wahnsinn. Da stirbst beim Warten. Und alle schaun deppert, wennst im Nachthemd…

Das dauert. Warten in der Trafik wegen dem Scheiß Lotto. Das war ein richtiger Marathon. „Nein, gnädige Frau der Aufzug fährt hinauf, wenn Sie hinunter….“ So deppert sind die Leut. Endlich. Noch zweimal um die Ecke, der lange Gang und… Was? Heute macht der Junge die Visite. Der ist vielleicht 27.

Zimmer 2B, mein Reich. Was? Ja spinnt die! „Na hörn Sie, jetzt ist aber keine Besuchszeit. Das ist mir wurscht. Wir haben gleich Visite und ich will meine Ruhe…. Von wem haben Sie das Semmerl, bitte schön? Mayer, kannst du der Dame sagen, dass sie… Was heißt, ich soll ihn nicht aufwecken. Was woll´n Sie überhaupt hier, wenn er eh schloft. Natürlich reg ich mich auf. Wie, bitte? Ob mich wer besucht, geht Sie einen feuchten Scheißdreck an, Sie, Sie… Wie schaun Sie überhaupt aus? Ham Sie nix zum Anziehen? Wie eine Hur´ schaun Sie aus. Ja `Hur´ hab ich g`sagt.“

Jetzt is weg. Mit meinem Semmerl. Na danke. Die Leut sind so deppert. Kommt da vor der Visite. Was der Mayer mit so einer überhaupt will? Der kann doch eh nimmer. Wer ihm die g’schickt hat? Sicher so ein Freund aus dem Ministerium. Eine Hand wäscht die andere.

Ich hab mir meine Hurn immer selber finanziert. Das war was, damals in Vorarlberg. Am Vormittag mit dem Herrn Spenger Geld verdient und am Nachmittag das Fräulein Lore. Die hat auch so ein kurzes Rockerl ang´habt. Sehr fesch.

Und am Abend Heimreise. Kein Mensch auf der Straße. Mit 140 durch die Nacht. Ich und mein Mercedes 300 SEL 6.3. Wie ein Glöckerl ist der gegangen. Das war noch ein echtes Auto. Nicht so ein zusammengeklebter Plastikschas. Der Volvo davor, war auch schön.

Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Wie ich mit dem Volvo vor der Tür gestanden bin, hat die Katharina g´schaut. Solche Augen hats g´macht. Und der Florian immer: Papa, Papa, Autofahren. Das war was.

Den Mercedes hat die Katharina gar nicht mehr… Moment… Ende 68 hab ich die Firma übernommen … 72 ist die Katharina gestorben… da hab ich den Mercedes schon gehabt. Aber ob die Katharina noch mit dem Mercedes… Die Fahrerei: Vorarlberg, Wien, Krankenhaus… noch das Alte AKH und wieder Vorarlberg… Ein Wahnsinn…

Ah, Jetzt wacht er auf, der Mayer. Pünktlich zur Visite. „Morgen Mayer. Wenn Sie so g´sund sind, wie ihr Schlaf, werden´s hundert Jahr´ alt. Ja, Danke, ebenfalls. Versäumt haben´s was. Na ich sag ihnen, mein lieber Schwan. Was? Wie meinen Sie? Ihr Enkerl? Ich weiß nicht, ob ihr Enkerl da war, ich war Zeitung… Wollen Sie eine Zeitung?… Ah Visite. …Guten Morgen, Herr Doktor.“

Na sicher, jetzt fangt er wieder beim Mayer an. Ist auch wurscht. Versteht eh niemand, was der daher redet. Warum schaut die Schwester so bös? Hab ich was g´macht? Was hat er gesagt? Ich kann den Jungen nicht ausstehen. Für mich ist das kein Arzt.

Den Washkansky hätt´ so einer nie operieren dürfen. Warum mir jetzt der Washkansky einfallt? Ist doch ewig her. Der Washkansky hat auch Besuch gehabt. Bis zum Schluss. Frau und Sohn.

Na endlich… „Wie bitte? Nein, kein Stuhl… Ja das Mibokol hab ich genommen, hilft aber nichts. Nein, Herzklappe, hat der Herr Primar gesagt. Die Schweinerne, ich will kein Plastik. Übermorgen?“ Das darf nicht wahr sein. Der junge Hupfer operiert mich. Der Primar hat mir doch versprochen… Herr Schuster, hat er gesagt, Herr Schuster was ist ihnen lieber: die Schweinerne oder das Plastik? G´lacht ham wir. Er fahrt auch einen Mercedes.

Die Herzklappe aus Plastik hält länger, dafür musst ständig Tabletten fressen. Die aus Schwein ist quasi bio.

Ich versteh schon, dass die Jungen auch irgendwo üben müssen, aber warum… da solln´s doch lieber einen nehmen, bei dem´s eh scho wurscht is. Ich mein, der Mayer, also der ist ein lieber Kerl, aber da spielt das echt keine Rolle, ob der ein paar Tag früher oder später…

Ich muss mich bewegen. Ah, der Gang. „Ja, Schwester Helga? … Also ich bitte Sie, das war doch… Was heißt, das ist kein Ton? Ham Sie g´sehn wie die anzogen war, wie eine billige… Ja, Schwester Helga, ja, …. Ich lieg doch nur beim Mayer im Zimmer, damit einer… aber von wegen alle gleich… ich lieg neben dem, damit einer klingelt, falls er nimmer kann… ich mach ihre Arbeit… Nein, Sie wissen genau, was ich mein. …. ja, ihnen auch.“

Blöde Kuh. Da hat´s g´schaut. Glaubt, ich bin so deppert, wie die anderen. Weiß eh ein jeder. Immer ein Maroder und einer, der noch auf den Knopf drücken kann. So läuft das hier. Aber wie´s g´schaut hat, wie ich ihr die Wahrheit… Mir is wurscht. Noch ein paar Tage und ich bin auf Rehab. Bad Schallerbach, alles schon arrangiert… hat der Primar… Ob die Schwester ihm das erzählt?

Das Fräulein Lore war nie billig, auch mit kurzem Rock, sehr nobel. Hat immer g´lacht, wenn´s mich g´sehn hat. Ich war aber auch sehr höflich. Grüß Sie Fräulein Lore, wie geht es Ihnen… immer per Sie, nie per Du… also nur ganz drinnen halt, aber sonst immer höflich und korrekt. Ja, die war eine sehr anständige Frau. Wie alt wird die jetzt sein? Irgendwas jenseits der Fünfzig. Vielleicht kommts mich besuchen… Haha, das wär ein Spaß. Das Fräulein Lore und ich. Da würd sie schaun, die Schwester Helga. Das ist her, Wahnsinn. Das Fräulein Lore hat mich auch noch einmal… wie der Konkurs schon. Der geht aufs Haus, hat´s g´sagt, weil ich immer so ein guter Kunde war. Ich hab ihr auch nix vorg´macht. Fräulein Lore, hab ich g´sagt, ich bin pleite. Die Chinesen mit ihrem billigen Klumpert haben mich ruiniert. Da hats g´lacht und mich noch einmal drüber lassen. Das war das letzte Mal Vorarlberg. Um den Mercedes hat´s mir leid tan. Der war auf die Firma angemeldet.

Das ist heut ein Gewurl am Gang. Im alten AKH war das irgendwie besser. Was ich in dem alten AKH wegen der Katharina herumgesessen bin… wenn ich Zeit g´habt hab. Ich war ja ständig in Vorarlberg. Das G´schäft ist gelaufen, aber Hallo… Da hats mir echt leid tan mit ihrem Krebs, die Katharina. Sie wollt immer, dass ich den Florian mitnehm, aber das war damals nicht so. Und der Bub hat sich so g´schreckt, wie er sie g´sehn hat. Geweint hat er. Mama, Mama, wieso bist du so dünn?… Mama, Mama bitte komm nach Hause, ich mach dir eine Suppe.

War eine Erlösung, wie sie g´storben ist. Nach dem Leichenschmaus wollt ich sofort weg. Die Arbeit ist mir über den Kopf… und da sagt die Schwiegermama, dass ich mich um den Buben kümmern soll. Wie das gehn soll, hat sie mir nicht gesagt. Der Florian war ja schon Monate lang bei ihr. Du musst dich jetzt um dein Kind kümmern. Er hat seine Mutter verloren. Um mich hat sich keiner gekümmert. Also bin ich mit ihm nach dem Leichenschmaus in den Prater gegangen. Ich hab echt ned g´wußt, was ich sonst tun soll. War ja ein schöner Tag. …

Da sitz ma in der Hochschaubahn und der Florian heult die ganze Zeit. Mama, Mama … rauf und runter. Das war ihm wurscht. Der Wagon hätt dreimal einen Looping machen können… So geheult hat der Bub, wie… wie … Da hab ich auch heulen müssen. … Ganz fest hab ich ihn an mich gedrückt … und er hat sich angehalten … die Tränen sind uns runter gelaufen. Mein Hemd war so nass, wie wenn´s g´regnet hätt. … Muss komisch ausgesehen haben, wie wir beide da unten angekommen sind. Dann bin ich mit ihm im Mercedes spazieren gefahren. Das hat er immer so gern g´habt. Raus auf die Südautobahn, nur weg und fahren… mit offene Fenster. Der Wind ist uns durch die Haar. Ganz still ist er da´gsessen.

Wie wir wieder vor dem Haus von der Schwiegermama g´standen sind, war es schon dunkel. Du wirst jetzt ein bisserl länger bei der Oma bleiben müssen, Florian, hab ich g´sagt. Du weißt ja, der Papa muss viel arbeiten. Ob ich ihn einmal mitnehm nach Vorarlberg, wollt er wissen. Wenn du ein bisserl größer bist. Zum Abschied hab ich ihm noch ein Bussi gegeben. Fahr vorsichtig. Ich hab dich lieb, Papa.

Das war schon ein Stich, da drinnen, wie er da g´standen ist mit sein Tascherl und gewunken hat… Hat gedauert, bis wir uns wieder gesehen haben. Bei der vielen Arbeit vergisst man ganz die Zeit. Bin eh immer hin am Wochenende, aber da ist einmal dies und … nach dem Konkurs hätt er zu mir zieh können, aber er wollt ja nicht mehr. Da war er schon mit seiner Frau … na die ist ein Drachen, mein lieber Schwan. Jetzt bin ich auch müd. Ich werd mich kurz …

Nein, Herr Primar, ich… wieso sind da so viele Leut? Wie lang hab ich geschlafen? … das ist ja gar nicht der Primar… nein… das… Hat der Mayer wieder Besuch? … Ja spinnt der? „Hey Mayer, Mayer… wie spät… ja freut mich auch sehr, angenehm… Was! Schon 15 Uhr?“

Aufg´weckt hams mich, die Bagage, dabei hab ich so gut g´schlafen. Vom Primar hab ich geträumt. Komisch. Dass er mich in Bad Schallabach besucht. Was sind das für Leut? Kann doch keiner soviel Familie… Fünf Leut´. Na Gott sei Dank, ist das Flitscherl nicht auch dabei.? Nein, ich halt das nicht mehr aus. Ich geh sofort wieder raus.

Von wegen Verständnis, wenn von mir wer kommt… kommt ja keiner. Ich bin dem Mayer noch nie auf die Nerven gegangen mit meinem Besuch. Obwohl es könnt natürlich schon wer kommen. … der… der Blahovez zum Beispiel…von dem hab ich immer die Verschleißteile für die Strickmaschinen … Oder ist der auch in Konkurs?… Der verdankt mir viel, der Blahovez und die… die Traude. Na, die wird ned kommen. Die wird noch grantig sein, wegen dem… wurscht. Wenn ihr Mann so deppert ist und nicht investieren will. Hätt ich sagen soll, er ist g´scheit, wenn er deppert war? Was hätt der für ein Geld verdienen können. So ein Trottel. Vielleicht schaut der Karli vorbei. Aber sicher nur weil er glaubt, ich schuld ihm was. Das kann er lang glauben. Von mir bekommt der nix. Hab ja selber alles … Wenn jetzt alle, denen ich einmal geholfen habe, hier her kommen würden, da würd der Mayer aber schön schaun… wenn er ned wieder schlafen würd.

Der Florian wird kommen. Sicher. Dann zeig ich ihm das Krankenhaus. Machen wir einen Wandertag. Das ist ja ein riesen Haus. Da brauchst eine Woche, bist überall durch bist. Und wenn der Primar nix dagegen hat, zieh ich mir schnell was an und wir fahrn eine Runde spazieren. Das hat er immer gern g´habt. …Scheiße, dass Auto hat der Sohn vom Kalinger. Ein begnadeter Mechaniker.

Hat der Florian… nein, der fahrt ja Straßenbahn. Schön deppert. Warum einer freiwillig mit der Straßenbahn… Kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte mal Straßenbahn… Da geh ich lieber zu Fuß, ehrlich. Oder ich bleib zu Haus. Taxi kann man noch, aber… da bleib ich lieber zu Haus.

Ich wär jetzt gern zu Haus. Hätt ich meine Ruh. Vielleicht könnt mich der Florian mit dem Taxi… der Florian war eh noch nie bei mir in der neuen Wohnung. Das hat ihm sicher seine Frau verboten. So ein Drachen. Wahrscheinlich würd er gern einmal zu mir… Und die Kinder. Meine Enkel. Wie alt ist der…. na… der Bub. Geht der schon in die Schule und die… die Kleine? Die wird noch in die Windeln scheißen. Ist vielleicht besser, die kommt erst, wenn sie stubenrein ist.

Dass sich der Florian soviel von seiner Frau sagen lasst? Von mir hat er das nicht. Die Katharina hat schon auch immer was sagen können, aber am Ende des Tages war klar, wer die Hosen anhat. Da hat´s nix geben. Der Florian war ihr Bereich, weil ich hab ja das Geld… ohne Geld, ohne eine Finanzierung ist überhaupt nix. Nicht einmal Windeln. …

Das war ein Drama damals. Was die Katharina Windeln gewaschen hat… ohne Ende. Gott sei Dank ist sie erst… nachdem der Florian keine mehr gebraucht hat. Wie alt war der Florian, wie die Katharina….? 66 der Volvo, 68 Firma übernommen, 72 ist sie gestorben … da war er …10.

Heut sind aber viele Besucher da. Müssen die nix arbeiten? Und die Frau vom Redling ist auch wieder, natürlich… die kommt ja jeden Tag. „Grüss Sie, Frau Redling. Nett wie Sie ihren Mann so … Danke, ihnen auch.“ Gehn da auf und ab wie ein junges Liebespaar. Ist nicht zum anschaun. Warum die jeden Tag kommt, frag ich mich. Der Redling läuft ihr eh nicht weg, so wie der beinander ist. Aber sie, die Frau Redling, fesch. Wird viel jünger sein als er. Wenn der aus den Schlapfen kippt, ist sie ausfinanziert. Der war bei der Versicherung. Pension, ohne Ende. Wenn ich sie wär, würd ich auch jeden Tag kommen. Aufpassen, dass der sich nicht noch im letzten Moment eine von den jungen Schwestern anlacht. Die ist g´scheit, die Frau Redling. Die passt auf. Jeden Tag, auf und ab… immer mit Händchenhalten, mein lieber Schwan. …

Haferflockensuppe, Wurst-Käsesalat, Diätmargarine, ein Stück Bio-Mischbrot. Sehr gut. Normal ess´ ich nicht so früh am Abend, aber hier geht das irgendwie. „Nehmens den Strohhalm, Mayer, sonst…“ Is schon g´schehn. Das ist eigentlich eine Frechheit, dass die Schwestern den Mayer allein essen lassen. „Wartens ich helf ihnen. So… da tun wir den Strohhalm rein und dann geht das. Warum hat ihnen ihr Besuch denn nicht geholfen? Ja, wenns ernst wird, sind die auf einmal alle weg. So bitteschön, geht ja.“

So eine Bagage. Den ganzen Tag einen Lärm machen, aber wenn er dann eine Hilfe braucht, kann ich… und ich bin ja selber. Irgendwie ist mir… nicht gut. Schwindlig, ist mir. Leg´ ich mich lieber schnell wieder hin. So. Geht schon. Wie lang es draußen hell ist. Der Nebel ist auch weg. Wird ja auch Zeit. Ist bald Frühling. Hier drin merkt man gar nix. Schaut immer gleich aus. Immer gleich hell, … wie in so einer Hendlbatterie. Lauter herzkranke Hendln.

Wo ist mein Mibokol? Soll ich probieren, ob es ohne geht? Ich war zwei Tag nicht mehr. Der Mayer scheißt in die Windeln. Puhh… jetzt druckts mich plötzlich. Soll ich die Schwester fragen, wegen einer… ich trau mich gar nicht mehr aufstehen.

„Aber Hallo. Wen bitte suchen Sie?“ Hört die mich nicht oder spinnt die? „Wen suchen Sie!… Nein, Mayer, das geht aber jetzt nicht. Jetzt nicht! Die Besuchszeit… Gnädige Frau, sein´s mir nicht bös, aber… Was heißt fünf Minuten? … Mayer, ich schwör dir, wenn diese Person … nein gnädige Frau, ich bin nicht unhöflich. Okay, Mayer, ich glaub dir. Fünf Minuten. “

Na gut, das werd ich aushalten. Alles kann man aushalten. Ich halt das aus. Wieso der Mayer überhaupt wach ist. Ich kann nicht scheißen, wenn jemand im Zimmer ist. „Entschuldigen Sie, gnädige Frau aber die fünf Minuten sind um… Nein, die sind um. Sie brauchen mit mir auch nicht zu streiten.“ Blöde Person. So, jetzt drück ich. Die Schwester wird sie raushauen. „Schwester…!“ Muss ich noch einmal drücken. Ich halt das nicht mehr aus, ich muss :.. „Schwester!!!“ Ohje.

Warum ist mir so kalt? Geht die Heizung nicht? Wie die Stadt funkelt in der Nacht. Wie ein Friedhof. Warum hab ich Angst? Is ja nix. Morgen Operation und dann ab nach Bad Schallerbach. Der Junge wird mich schon gut… Werd nicht der Erste sein, den der operiert.

Aber ein bisserl Angst. Ob der Washkansky Angst g´habt hat? Erste Herztransplantation, mein lieber Schwan. Und dann ist er doch g´storben. Alle Schwestern ham g´weint wie er… die Frau und der Sohn.

Was ist das? Was sagt er? Der kann mich am Arsch lecken, der Mayer. Nach der Geschichte mit seinem Besuch. Und dann schreit die Schwester mit mir. Warum ich mich aufreg. … So eine Frechheit.

Was tut er da, der Mayer? Will der was von mir? Der schaut so komisch. Wie der den Mund aufreißt. Na komm, schrei ein bisserl. Schrei nach deinem Besuch. Vielleicht kommt heut Nacht noch wer, ist eh erst ein Uhr früh. Bist ja so ein beliebter Bursche. Will der drücken? Ich glaub, der versucht zu drücken.

Das schau ich mir jetzt aber an. Ich drück sicher nicht für ihn. Ganz sicher nicht. Mir hat auch keiner g´holfen. Mich hat noch keiner besucht. Keine Sau. Gute Nacht, Mayer.

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Kapitel 8

Der Frühling war viel zu schnell ausgebrochen. Florian schwitzte unter dem langen, schwarzen Mantel.

Immer wieder musste er Peter auf dem Weg zur Einsegnungshalle auffordern, schneller zu gehen, nicht bei diesem oder jenem Grab stehen zu bleiben. „Schau Papa, das ist ja ein richtiges Haus. Wohnt da jemand?“ „Papa, was ist der Unterschied zwischen einem evangelischen Friedhof und einem katholischen?“

Florian hatte keine Lust, seinem Sohn etwas über die Feinheiten der diversen Glaubensrichtungen zu erzählen und herrschte ihn an, sich zu beeilen. Dass der Bub keinerlei Anzeichen von familiärer Trauer verspürte, konnte er ihm nicht verübeln.

Großvater Schuster hatte sich nie für die Enkelkinder interessiert, geschweigeden sich ihre Geburtstage gemerkt. Im Grunde genommen kannten die Kinder den Großvater Schuster kaum. Sie wussten von seiner Existenz, doch ihr Desinteresse an seinem Leben war eine logische Folge seines Desinteresses an ihrem.

Hat er sich je für mich interessiert, fragte sich Florian, als er jetzt, die Trauergemeinde anführend, vor dem Sarg des Vaters stand.

In der Halle war es kühl und seine Körpertemperatur normalisierte sich. Ich, ja, ich, sein Sohn habe ihn geliebt, auf eine kindliche Art, die nicht nachfragt und bedingungslos einem biologischen Programm folgt. Der, der einen die prägenden Lebensjahre über halbwegs liebevoll begleitet, wird geliebt. Aber hat mich mein Vater je geliebt?

Das war sie, die entscheidende Frage, die sich Florian immer wieder gestellt hatte. Das letzte Mal vor rund zwei Wochen, zu Ostern, als er nach einem Jahr ohne Kontakt zum Vater ins Krankenhaus an sein Krankenbett gekommen war.

Der baldige Tod des Vaters war da nicht absehbar gewesen. Die Operation an einer Herzklappe, wäre, so der behandelnde Arzt, reine Routine. Ja, der Vater war fast erstaunt über Florians Besuch, machte einen leicht verwirrten Eindruck und redete viel über einen Herrn Mayer, der in der Nacht zuvor gestorben war.

Fast schien es, als würde sich sein Vater die Schuld am Tod dieses Herrn geben. Abgesehen von dieser, für ihn recht unüblichen Haltung, machte er aber keinen gebrechlichen Eindruck. Pläne für die Zeit danach und der Aufenthalt im Rehabzentrum beschäftigten ihn.

In der knappen Stunde, die er im Zimmer seines Vaters verbracht hatte, war ihm bis auf die doch eindeutige Kurzatmigkeit nichts an ihm aufgefallen. Sie hatten nicht viel mit einander gesprochen, aber auch nicht gestritten, wie das die Jahre zuvor öfter geschehen war. Der Versuch, familiäre Bruchstellen zu kitten, stand nicht zur Diskussion.

Als das Krankenhaus Florian zwei Tage später vom Tod des Vaters benachrichtigte, sagte der behandelnde Arzt, dass man in dem Alter grundsätzlich mit allem zu rechnen hat.

Der äußere Anschein eines Patienten würde da oft ein falsches Bild vom wahren Zustand der inneren Organe entstehen lassen. Fast zerknirscht stellte der junge Chirurg fest, dass ihn Großvater Schusters Herz überrascht hatte. Sicher, die diagnostischen Methoden wären, zumal in diesem Krankenhaus „State of the Art“ – wie er es ausdrückte -, aber das System Mensch sei eben leider sehr komplex. Geradezu beleidigt erschien der junge Chirurg, weil ihm Vater Schuster unter dem Messer weggestorben war.

Noch schlimmer: kurz zuvor war ja bereits der Patient im Bett neben dem Vater verschieden. Rein statistisch, so führte der Chirurg aus, verstarben die Patienten erst Wochen nach dem Aufenthalt in der Rehab-Klinik und nicht, wie er betonte, hier auf der Station während seines Dienstes.

Der Chirurg blickte Florian so misstrauisch an, als würde er beim Sohn eine Erklärung für das statistische Missgeschick suchen. Einen Behandlungsfehler, meinte der Arzt sehr bestimmt, ohne dass ihn Florian darauf angesprochen hatte, nein, einen Behandlungsfehler könnte man ihm nicht vorwerfen. Jeder einzelne Schritt wäre dokumentiert worden, entspreche, wie schon erwähnt, dem „State of the Art“, einzig Vater Schusters Herz habe hier, zu einem wirklich ungünstigen Zeitpunkt versagt.

Florian hatte den 10 Jahre jüngeren Arzt angestarrt, nicht gewusst, wie er reagieren sollte oder welche Reaktion von ihm erwartet wurde.

Er hatte seinen Vater verloren, noch bevor dieser, die für ihn entscheidende Frage beantwortet hatte und nun vermittelte ihm der Arzt, er der Sohn, müsste sich für diesen Tod auch noch entschuldigen.

Ohne dem Arzt zu antworten, hatte sich Florian umgedreht und das Krankenhaus verlassen.

Noch immer war er verwirrt, unschlüssig, welches Gefühl der Tod des Vaters in ihm nun auszulösen hatte. Florian betrachtete den Sarg und die beiden schweren Leuchter, die links und rechts von der Decke hingen, mit Lampen in Form von Kerzen bestückt waren und der Halle wohl einen festlichen Anstrich geben sollten.

Er versuchte Abstand zu gewinnen und sich den toten Vater im Inneren der Holzkiste vorzustellen. Vergebens. Immer wieder tauchte das eine Bild seines Vaters auf, welches sich seit seiner Kindheit in ihm festgesetzt hatte.

Die Trauergäste, Verwandte oder Freunde wussten, dass Vater Schusters Verhältnis zum Rest der Familie gespannt war. In den letzten 20 Jahren seines Lebens hatte er so gut wie jeden emotionalen Kredit seinen Freunden und Verwandten gegenüber verspielt, und war, so sahen es die meisten, zurecht vereinsamt gestorben.

Die Trauergäste waren entweder aus Sympathie zu Florian, oder aus Solidarität zur eigenen Erinnerung an einen Mann, längst vergangener Tage, erschienen. Und einige dachten wohl, dass die Summe eines Lebens mehr war, als der verpfuschte letzte Akt.

Deshalb hatten sie Blumen und Kränze gebracht, die schwarzen Krawatten umgebunden, die Schuhe geputzt.

Die älteren Besucher hatten es leicht, das positive Ganze zu sehen, für Florian jedoch war es vielmehr ein Wollen, ein Hoffen, ein fast verzweifelter Wunsch, dass sein Vater sehr wohl eine Träne verdienen würde.

Florian wollte trauern, wollte keineswegs hier nur stehen und wünschen, dass alles so schnell wie möglich wieder vorbei wäre.

Aber es hing eben alles an dieser Frage, ob der Vater ihn geliebt hatte und deshalb starrte er den Sarg an, wartete auf ein Zeichen, verdrängte den rationalen Gedanken, dass jetzt und in Zukunft sicher nichts mehr nachkommen würde, was eine heiße Träne am Grab des Vaters rechtfertigen könnte.

Der Vater war tot und, betrachtete man dessen letzte zwanzig Lebensjahre, so war das Ende weder biologisch überraschend noch ein Grund für bittere Tränen.

Jetzt ist mir fast kalt, dachte Florian, sah sich um, doch der Priester war nicht wieder aufgetaucht.

Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wenn ich keine Träne vergieße, mich sogar darauf freue, bald wieder zu Hause zu sein.

Danke Papa, dass du mir diesen Schmerz erspart hast. Ich war dir im Grunde immer egal und jetzt steh ich eben hier, als wäre das ein x-beliebiges Begräbnis.

Diese Gedanken gingen Florian durch den Kopf, doch heimisch wurden sie nicht, eben wegen dieser einen Erinnerung.

Er musste ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein, als er mit dem Vater im neuen Auto einen kleinen Ausflug unternahm. Mama hatte die strikte Anweisung gegeben, dass er, Florian, auf der Rückbank zu sitzen habe, doch nach ein paar Kilometern auf der Landstraße war Vater Schuster stehen geblieben und hatte Florian auf dem Beifahrersitz Platz nehmen lassen. Wie zwei verbündete Desperados glitten sie nebeneinander über die Landschaft.

Die Fenster waren heruntergekurbelt und der sommerliche Fahrtwind wirbelte ihnen durch die Haare. In dem Moment fühlte sich Florian eins mit seinem Vater und war so stolz, auf gleicher Höhe mit ihm die Landschaft erkunden zu dürfen.

Wieder ein paar Kilometer weiter hielt Vater Schuster abermals an, hob Florian auf seinen Schoß und überließ ihm das Lenkrad. Und genau dieses Bild war es, auf dem Schoß des Vaters sitzend, die Hände fest am Lenkrad, wissend, dass der Vater ihm vertraute, welches sich in sein kindliches Hirn eingebrannt hatte.

Für ein paar Minuten hatte Vater Schuster mit seinem Sohn eine Einheit erschaffen, die dieser sein Leben lang nicht vergessen konnte.

So verklärt und verstaubt, so überproportional aufgeblasen diese Erinnerung auch war, bewirkte sie doch, dass Florian nun vor dem Sarg seines Vaters stand und sich nach einem finalen Zeichen der Liebe sehnte.

Dieses Zeichen, so glaubte er, würde eine Flutwelle auslösen und die Gleichgültigkeit hinwegspülen, die Erinnerung an den Vater reinigen von dem Morast der Jahre.

Papa, Papa, der Benni ist da. Kann ich zu ihm gehen?“ Florian sah sich um. Er hatte fast vergessen, dass sein Sohn mitgekommen war. „Ja, ja, geh nur.“ Sofort lief Peter zum Eingang der Einsegnungshalle.

Gut, dass Julia und Gustav ihren Sohn Benni gebracht haben, dachte Florian, obwohl es andererseits wieder ein bisschen peinlich war, dass seine Frau Christina und die kleine Hanna zu Hause geblieben waren.

Christina hatte sich morgens krank gefühlt und gemeinsam mit beiden Kindern wollte Florian nicht zum Begräbnis kommen. Die Konkurrenz zwischen ihnen, das ewige Hin und Her, wer, was, wie und warum als Erster zu bekommen hatte, war zermürbend.

Natürlich nahm er es Christina übel, dass sie nicht mitgekommen war. Sie hatte Vater Schuster nie leiden können, immer wieder gesehen, wie er Florian enttäuscht hatte. Sie war aber auch nicht seine Tochter und war nie als Kind auf seinem Schoß vor dem Lenkrad gesessen.

Mir zuliebe hätte sie kommen können, war Florian überzeugt, obwohl es so, was die Kinder betraf, wirklich einfacher war.

Gestern Abend und am Vormittag hatte er noch einmal mit Christina gestritten. Am Vormittag war Peter der Auslöser gewesen, weil der in der Nacht zuvor wieder ins Bett gepinkelt hatte.

Seit diesem Zwischenfall an der Station der Liliputbahn vor einem Jahr schien der Sohn auf jede Zurechtweisung mit feuchten Hosen zu reagieren.

Er braucht dich, du musst mehr mit ihm unternehmen, war Christinas Mantra der letzten Monate. Dagegen wehrte sich Florian gar nicht, hatte aber das Gefühl, Peter würde sich mehr um Christinas Zuneigung bemühen, lieber mit ihr gemeinsam Dinge erleben.

Gut, aber jetzt war Benni da, der Sohn von Julia und Gustav. Florian und Christina hatten das Grazer Ehepaar einmal zufällig am Strand von Grado getroffen. Christina und Julia waren, so hatte Florian später erfahren, einmal sehr gut befreundet gewesen. Warum der Kontakt zwischenzeitlich abgebrochen war, hatte ihm Christina nie erklärt. Die Kinder hatten sich am Strand gut verstanden, weshalb erst vor kurzem vereinbart worden war, dass Benni die Osterferien in Wien verbringen sollte.

Den Besuch des Kindes wegen Vater Schusters Tod zu verschieben, kam für Christina nicht in Frage. So einigte man sich darauf, dass Julia und Gustav ihren Sohn Benni zum Friedhof bringen würden.

Julia und Gustav würden aber nicht am Begräbnis teilnehmen, waren Sie doch nach Wien gekommen, um ein neues Motorrad abzuholen. Motorradfahren war, so hatte Florian erfahren, zu einem wichtigen Teil ihres Ehelebens geworden.

Seit Julia auf dem Rücksitz von Gustavs Motorrad Platz genommen hatte, schien ihre Ehe gerettet. Ein Grund für diese recht frische Harmonie dürfte auch die Abreise von Hans Freundin, dieser Eskimo Frau, gewesen sein.

Am Ende ihres gemeinsamen Laufes hinauf auf den Kahlenberg hatte Hans in einem Nebensatz erklärt, dass sich der mögliche Hauskauf seit der Trennung wesentlich vereinfacht habe. Diese Eingeborenen hätten, was die Ausstattung betraf, doch ganz eigene Vorstellungen.

Sekunden nachdem Florian diese Information eher en passant an Christina weitergeben hatte, wählte sie die Nummer ihrer Grazer Freundin.

Sogar ein Sakko hatten Julia und Gustav ihrem Sohn angezogen, doch die kurze Übergabe vor dem Begräbnis, war ihnen sichtlich peinlich. Am Telefon hatte Christina Julia gegenüber gemeint, das alles müsse ihr nicht unangenehm sein, es wäre nur Großvater Schuster gestorben und dem würde niemand eine Träne nachweinen.

Ja, das hatte sie am Telefon gesagt und Florian wollte sie beschimpfen, aber da waren die Kinder gerade schreiend durch den Vorraum gelaufen. Hanna hatte sich schluchzend in seine Arme geworfen und Peter, der sie mit einem Plastikdinosaurier bedrohte, musste von Christina beruhigt werden.

Aber wenn deine Eltern sterben, dann wirst du weinen und alle müssen parat stehen, dachte Florian, weil die ja so lieb sind, so gut zu uns und zu den Kindern, sich jeden beschissenen Geburtstag merken, nie „nein“ sagen, wenn man sie um einen Gefallen bittet.

Christinas Eltern waren die besten Schwiegereltern, die man sich wünschen konnte, und hier vor dem Sarg seines Vaters, ging ihm das schrecklich auf die Nerven.

Noch verbissener starrte er den Sarg an, hoffend, dass seine Seite der Familie auch einmal demonstrieren würde, dass man in der Lage war, sich Geburtstage zu merken oder auf kranke Kinder aufzupassen.

Florian war ein guter Vater, sah man jedoch von ihm und diversen familiären Nebenfiguren ab, so war mit Großvater Schuster gerade der letzte Vertreter eben dieser Seite der Familie gestorben.

Florian drehte sich kurz um. Gütiger Himmel. Dort hinten standen seine Schwiegereltern, herzten Peter, begrüßten Julia und Gustav. Statt wie Christina dem Begräbnis fern zu bleiben, hatten es die Schwiegereltern für notwendig empfunden, zu erscheinen.

Ihr Kontakt zu Vater Schuster war ebenfalls nicht konfliktfrei gewesen, doch ein Begräbnis war eben ein Pflichttermin.

Florian wurde schlecht beim Anblick von soviel Anständigkeit. Solange einer lebte, konnte man ihn verachten, den Kontakt meiden, doch einer Leiche zollte man Respekt.

Der Priester kam auf Florian zu, sah ihn mit professionellen Dackelaugen an und wollte wissen, ob es besser sei, noch ein wenig zuzuwarten. Ja, ja, warten wir noch, dachte Florian, vielleicht kommt ja noch etwas, irgendetwas und wusste doch, dass diese Hoffnung vergebens war.

Er hatte Übung im Umgang mit Begräbnissen. Als er 10 Jahre alt war, starb seine Mutter und neun Jahre später die ebenso geliebte Großmutter. Bei Letzterer hatte er die Zeit bis zur Volljährigkeit verbracht, weil Vater Schuster, laut eigener Definition, zu viel um die Ohren hatte, um einen Teenager zu zähmen.

Florian, das Einzelkind, war in einer Zwischenwelt aufgewachsen. Die Wohnung des Vaters war offiziell seine Heimatadresse, doch verbrachte er dort, ab dem Tod der Mutter, nur noch wenige Nächte.

Anders als man es vermuten würde, formte die unruhige Außenwelt in ihm eine stabile Innenwelt. Ihm war sehr bald klar, dass er sein Leben ganz anderes gestalten, seinen Kindern immer eine feste Burg sein würde.

Nach dem Tod der Großmutter hatte er überhaupt beschlossen, den Kontakt zur eigenen Familie auf ein Minimum zu reduzieren.

Das tat ihm gut und bedeutete ein Ende der gröbsten Turbulenzen. Christina und ihre Familie hatten ihn herzlich aufgenommen. Nein, Florian konnte sich nicht beschweren.

Seine ersten sieben Lebensjahre, waren sehr schön gewesen und für die Zeit danach hatte ihn die Familie seiner Frau mehr als entschädigt.

Warum, grübelte Florian, stehe ich dann hier, schimpfe auf meine Schwiegereltern und warte, dass ein Blitz in Papas Sarg fährt?

Die Aufbahrungshalle füllte sich. Würden alle auch zum Leichenschmaus in einer Gastwirtschaft gleich in der Nähe des Friedhofes kommen? Das war kein sehr stimmungsvolles Lokal, doch vor Tagen, als er das Gasthaus ausgesucht hatte, wollte Florian diesen Teil auf seiner Liste möglichst rasch erledigen. Der organisatorische Aufwand, den eigenen Vater zu beerdigen, hatte ihn überrascht.

Natürlich war dieses Lokal kein besonderer Ort, aber wo wäre Vater Schusters Geist für die Trauergäste noch einmal lebendig geworden?

Gegen Ende seines Lebens war er in der kleinen Wohnung am Stadtrand ständig vor dem Fernseher gesessen. Wenn Florian seinen Vater angerufen hatte, war er immer auf einen kurz angebundenen Erzeuger gestoßen.

Was willst du, ich seh´ mir gerade etwas an, pflegte der Vater ihn zu begrüßen.

Vielleicht, überlegte Florian, hätte ich den Leichenschmaus vor dem Fernseher in seiner Wohnung machen sollen.

Dicht gedrängt hätten wir uns alle zusammen eine Dokumentation über den Niedergang der europäischen Textilindustrie anschauen können.

Der Pfarrer machte ein fragendes Gesicht. Florian musste sich beherrschen, weil ihm die Vorstellung des TV-Leichenschmauses in der Wohnung des Vaters ein breites Lächeln auf das Gesicht zauberte. „Ja, ja, bitte fangen Sie an.“

Der Pfarrer verkündete feierlich: „Die Wege des Herrn,…“ und schon hörte Florian nicht mehr zu.

Die Gleichgültigkeit, die ihn überkam, wenn er einen Priester reden hörte, war eine der wenigen Eigenschaften, die ihn mit seinem Vater verband.

Wäre ich ein bisschen mutiger gewesen, hätte ich ihn ganz ohne kirchliches Gequake begraben, dachte Florian.

Feig, ja, feig war ich. Verbrennen im Garten, in einem Auto sitzend, das wäre es gewesen, und alle Trauergäste hätten sich mit rumänischem Rotwein betrinken müssen.

Aus irgendeinem Grund war sein Vater überzeugt davon gewesen, dass rumänischer Rotwein eine Wunderwaffe war, wenn es darum ging, die Stimmung zu heben.

Oft hatte der Vater erzählt, dass er, als Florian noch ganz klein war, zwei Jahre lang für eine Osthandelsfirma gearbeitet hatte, doch die besondere Beziehung zum rumänischen Rotwein blieb Florian ein Rätsel.

Soweit sich Florian erinnern konnte, verkaufte sein Vater, als Teilhaber einer zeitweise recht großen Firma, Zubehör für Strickmaschinen.

Vater Schusters Kunden saßen in Vorarlberg, waren Teil einer florierenden Textilindustrie und die Autofahrten quer durch das Land ein wöchentliches Ritual.

Alles war Geschichte, vergangen, vergessen, die österreichische Textilindustrie und jetzt auch Vater Schuster.

Aber im Auto verbrennen, das wäre eine würdige Bestattung gewesen, dachte Florian. Und da war es wieder das Bild seines Vaters, das Florian behütete, wie einen Schatz: Er und der Vater auf der Landstraße, vereint, glücklich, dem Sonnenuntergang entgegen schwebend.

Es ist vorbei, versuchte sich Florian zu beruhigen. Egal, ob er dich geliebt hat oder nicht, du behältst das Bild im Kopf, die Erinnerung.

Freu dich, dass ein halbwegs normaler Mensch aus dir geworden ist. Liebe deine Kinder, deine Frau und sei zufrieden. Wenn du unbedingt einen bewegenden Abschied willst, kauf dir einen rumänischen Rotwein und trinkt ihn in einem Zug aus.

Der Pfarrer sah ihn auffordernd an. Florian, in Gedanken noch mit einer Internetrecherche nach rumänischem Wein beschäftigt, verstand nicht, was von ihm verlangt wurde.

Ach ja, die Rede.

Florian drehte sich um, sah die Trauergäste an. Sein Leben lang hatte er es vermieden, so etwas wie eine Rede zu halten. Jetzt war er das Opfer seines eigenen Wunsches geworden und musste genau das tun.

Er wollte der Trauergemeinde einen Vater präsentieren, der wenigstens in seiner Wirkung auf den Sohn, Christinas Eltern ebenbürtig war.

Was willst du denn sagen, wenn dich der Pfarrer bittet, ein paar persönliche Worte an die Trauergemeinde zu richten, hatte ihn Christina am Abend zuvor leicht spöttisch gefragt.

Erzählst du dann, dass er dich als Kind ein Jahr lang bei einer Bauernfamilie abgeladen hat oder, dass er versucht hat, meiner Mutter eine Lebensversicherung anzudrehen?

Nein, ich werde der Trauergemeinde erzählen, dass mein Vater leider zu blöd war, deiner Mutter das zehnte Set Lilienthal Porzellan anzudrehen. Das wäre nämlich eine echtes Geschäft gewesen, hatte Florian gekontert.

Das war aber nur der Beginn ihres Wortwechsels betreffend die kleine Rede gewesen und gegen Ende dieser Unterhaltung fühlte sich Christina leicht fiebrig und außer Stande, am nächsten Tag beim Begräbnis zu erscheinen.

Dann wirst du sie eben versäumen, meine Rede, hatte ihr Florian trotzig entgegen geworfen.

Die halbe Nacht war er wach gelegen, hatte nachgedacht, was er dort sagen sollte, und am Morgen, mehr aus Verlegenheit, ein paar Worte auf ein Stück Papier gekritzelt.

Diese Worte waren unbrauchbar, belanglos und nichts, was vor dem geballten Familiensinn seiner Schwiegereltern Bestand haben würde.

Aber gerade sie und die eigene, abwesende Ehefrau galt es zu beeindrucken. Ihnen wollte er beweisen, dass seine Seite der Familie nicht gleichartig, aber gleichwertig war.

Damit hatte sich Florian sehenden Auges in ein Dilemma manövriert. Ein kurzer, mit Fakten bestückter Bericht über Vater Schusters Leben hätte die Trauergäste eher verstört denn gerührt, doch eine emotional bewegende Rede wäre als Schwindel abgetan worden.

Was konnte er erzählen? Sollte er den Trauergästen beichten, dass er selbst, hier und heute, noch immer nicht wusste, wie er zu seinem Vater stand? Konnte er ihnen erzählen, von der gemeinsamen Autofahrt auf dem Schoß des Vaters, die alles, was danach kam, verklärt hatte?

Die Frage, die einzig wichtige Frage war nicht beantwortet worden. Hat mein Vater mich geliebt? Ein eindeutiges „Ja“ oder „nein“ wären gleichermaßen willkommen gewesen.

Ein „Ja“ hätte Florian binnen Sekunden in einen trauernden Sohn verwandelt, der, mit welchen Worten auch immer, die Trauergemeinde davon überzeugt hätte, dass Vater Schuster, ob des bewegten Sohnes, seinen Frieden verdient hatte.

Ein „Nein“ wiederum hätte es Florian ermöglicht, kühl und ruhig, wohl geordnete Worte zu finden, die so tiefgründig und allgemein gewesen wären, dass jeder der Anwesenden ihm anerkennend auf die Schulter geklopft hätte.

Es gab aber kein „Ja“ und kein „Nein“. Vater Schuster war gestorben und hatte Florian mit dem Dilemma einer würdigen Grabrede zurückgelassen.

Gut, es war meine eigene Idee, dachte Florian. Ich wollte mich ja von der Zuneigung der Schwiegereltern emanzipieren, meinen Wurzeln den ihnen gebührend Platz einräumen.

Diesbezügliche Versuche hatte es bereits gegeben. Das letzte Jahr über hatte er jede Anschaffung der Schwiegermutter oder des Schwiegervaters kritisiert, hatte angemerkt, wie lächerlich kleinbürgerlich sie sich benehmen würden und hatte doch immer wieder gehofft, sein Vater würde einmal zu Peters Geburtstag anrufen oder von sich aus den Wunsch äußern, auf die Kinder aufpassen zu dürfen.

Florian nahm den vorbereiteten Zettel aus der Manteltasche, drehte sich zu den Trauergästen, begann zögernd: „Liebe Familie, liebe Freunde,…“

Das war genau der Text, den er heute morgen für gut befunden hatte. Die restlichen Worte auf dem Zettel waren, wie erwähnt, unbrauchbar.

Florian starrte das Blatt verzweifelt an, begann zu schwitzen. Die Trauergemeinde blieb ruhig. Noch erkannte niemand, dass Florian Sekunden zuvor von der Illusion befreit worden war, ihm würde im richtigen Moment schon noch etwas einfallen.

Florian stand nur da, fixierte das Stück Papier und schwieg. Die mit Bleistift gekritzelten Worte „geliebter Vater“, „langes, erfülltes Leben“ oder „kleine Fehler“ verschwammen vor seinen Augen.

Weiter hinten, beim Eingang der Einsegnungshalle hüstelte jemand. Kurz hörte Florian das Lachen eines Kindes und das scharfe „Psst“ eines Erwachsenen.

Lieber Gott, begann Florian still und stumm zu beten, ich glaube nicht an dich, deine Religion und den ganzen Unfug, aber wenn du mir bei dieser Rede hilfst, mich unterstützt in meinem Verlangen nach Wurzeln, die ich achten und lieben kann, dann verspreche ich dir, dass ich nie wieder mit meinem Schwiegervater streiten werden, nie wieder einen Porzellanteller meiner Schwiegermutter absichtlich fallen lasse, nie wieder Peter erzählen werde, dass seine Großeltern die Liliputbahn nicht leiden können.

Der Gott, an den Florian nicht glaubte, hatte keine Eile und so versuchte es Florian noch einmal mit der ersten Zeile: „Liebe Verwandte, liebe Freunde,…“ Weiter hinten wurde es unruhig, das gezischte „Psst“ der Erwachsenen, in Richtung der Kinder, kam in immer kürzeren Abständen. In der ersten Reihe hüstelte ein älterer Herr, der, wie Florian vermutete, seinen Vater noch aus den glorreichen Tagen der Strickmaschinen gekannt haben musste.

…mein Vater konnte…“ Diese drei Worte waren ein verzweifelter Versuch, die Welle der Unruhe aufzuhalten, aber leider kein Beginn eines sinnvollen Satzes, geschweige denn einer Rede.

Was der Vater gekonnt haben mag, wusste Florian in diesem Augenblick nicht, doch die Hoffnung, dass die Rede des Sohnes beginnen würde, beruhigte die Zuhörer. Zwei Sekunden nachdem Florian dieses „konnte“ ausgesprochen hatte, öffnete sich das große Tor der Einsegnungshalle.

Gott hat mich erhört, dachte Florian, doch es war Bernadette, die verlegen die Halle betrat. Florian freute sich, sie zu sehen, obwohl sie, wie er vermutete, nur gekommen war, um Christina die Neuigkeiten ihrer Tragödie mit dem Ex-Liebhaber zu erzählen. Der war ja, ob der möglichen Unterhaltszahlungen, wieder reuig zur Ehefrau zurückgekehrt.

Die kleine Pause, die sich Florian mit dem Wort „konnte“ erkauft hatte, verlängert durch Bernadettes Auftritt, war vorbei. Florians Hoffnung, die richtigen Worte zu finden, verpuffte in der kühlen Luft der Einsegnungshalle.

Er schloss die Augen. Nach einer kurzen Pause richtete er sich auf, sah mit der Kraft der Verzweiflung, die Trauergemeinde an, atmete tief und sprach: „Liebe Verwandte, liebe Freunde…“

Schweigen. Hüsteln. Räuspern. Florian setzte an, zu dem bereits gehörten „konnte“, doch in diesem Augenblick löste sich der linke Leuchter aus seiner Verankerung an der Decke und krachte mit voller Wucht auf den Steinboden neben dem Sarg.

Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte die Trauergemeinde, blickte fassungslos auf den am Boden liegenden Leuchter. Zwischen dem Aufprall und der Verarbeitung desselben in den Hirnen der Zuseher war es sehr still geworden.

Bis auf Florian hatte sich niemand unter den Anwesenden nach einem Blitz, einem plötzlichen Eingreifen einer höheren Macht oder ähnlichem gesehnt.

Florian war der Erste, der wieder zu Besinnung kam und der drohenden Welle der „Ohs“ und „Ahs“ mit fester Stimme Einhalt gebot.

… mein Vater, konnte… lange Reden …vor allem wenn nicht er der Redner war… nichtleiden. Ich glaube, das wollte er uns, hier und jetzt, ganz eindrucksvoll noch ein letztes Mal vermitteln.“

Florian begann zu lächeln und auf den Gesichtern der Zuhörer breitete sich Fröhlichkeit aus. Schnell dreht sich Florian zum Sarg des Vaters und wieder zurück zur Trauergemeinde. „Danke Papa. Ich, dein dich liebender Sohn, beuge mich heute deinem Wunsch.“

Zustimmendes Raunen ging durch die Menge. Gerettet, dachte Florian, während Bedienstete der Bestattung den Leuchter am Boden betrachteten. Mit Blick auf den zweiten, noch hängenden Leuchter trat einer der Männer an den Priester heran und flüsterte in das christliche Ohr. Der Priester nickte zustimmend. Sofort schulterten die Träger den Sarg und trugen ihn im Eiltempo aus der Halle.

Erleichtert trat Florian auf den kleinen Vorplatz. Auf seinem Weg durch die Halle hatten ihm mehrere Personen, freundlich lächelnd, die Hand geschüttelt, einer, ihm ein „gut gemacht“ zugeraunt und der Schwiegervater ihm anerkennend auf die Schulter geklopft.

Die Kinder Peter und Benni standen leicht abseits, diskutierten heftig den Absturz des Leuchters und beobachteten die Bestatter, wie sie den Sarg auf den kleinen Handwagen luden.

Jetzt kommt noch der kurze Weg hin zum Grab, Erde drauf, Hände schütteln und ab die Post, dachte Florian. Fast euphorisch schritt er voran, als Erster dem Sarg hinterher.

Der Leichenzug bewegte sich den sonnendurchfluteten Kiesweg entlang, vorbei an Bäumen und Gräbern, zwischen denen das helle Grün des Frühlings wucherte.

Es duftete nach feuchter Erde, frischem Gras und den ersten Blumen. Nach vielleicht zweihundert Metern bogen die Träger ab, in einen kleineren Gang, der zum Grab führte. Florian warf einen Blick nach hinten auf den Zug der Trauernden. Hätte nicht gedacht, dass da so viele kommen werden, wunderte er sich.

Florian stieg über einen Maulwurfshügel hinweg, sah an das Ende des Trauerzuges wo Bernadette hinter einem ältern Mann herging. Florian wunderte sich. Bernadette sah verändert aus. Obwohl ihm diese Veränderung gefiel, konnte er nicht genau sagen, worin sie bestand.

In letzter Zeit war Bernadette an den Wochenende oft zu Besuch gewesen. „Zum Tratschen“, wie Christina es ausgedrückt hatte. Florian hatte Bernadette immer nur kurz die Hand geschüttelt und wurde dann von Christina dazu beordert, mit den Kindern im oberen Stock zu spielen.

Das war eine schweißtreibende Aufgabe, musste Florian doch jedes Mal, die sich streitenden Kinder zähmen und dachte gleichzeitig an Bernadette, Dildos, Fesseln und diverse Körperöffnungen.

Natürlich hatte er Christina nie etwas davon erzählt. Das wäre das sichere Ende der Freundschaft zwischen den Damen gewesen und Christina hätte Bernadette nie wieder „zu einem Tratsch“ eingeladen. Wieder grübelte er, was sich an der jungen Frau verändert hatte.

Nach wenigen Metern hielten die Träger den Wagen an, schoben ihn über ein frisch ausgehobenes Grab.

Florian blieb stehen und damit verließ ihn auch dieses emotionale Zwischenhoch, welches der herabstürzende Leuchter in der Einsegnungshalle ausgelöst hatte.

Der herabfallende Leuchter war eben kein Zeichen Gottes gewesen, sondern nur ein Bluff, eine kurzfristige Atempause ohne Bedeutung. Vor den Augen der Trauergemeinde hatte Florian sein Gesicht gewahrt, doch die Ungewissheit in seinem Inneren war keineswegs beendet worden.

Florian stand still, mit gefalteten Händen neben der Grube.

Wieder sprach der Priester salbungsvolle Worte. Diesmal war es aber nur eine kurze Rede und nach wenigen Minuten reichte der Priester Florian eine kleine Schaufel, forderte ihn auf, Erde auf das Grab des Vaters zu werfen. Florian tat wie befohlen, reichte die Schaufel weiter an den nächsten Trauergast.

Einer nach dem anderen kam ans Grab, warf Erde auf den Sarg und schüttelte Florian, eine Beileidsformel murmelnd, die Hand.

Danach ging die betreffende Person weiter, weg vom Grab Richtung Ausgang.

Die Information, dass sich alle in der Gaststätte vis á vis des Friedhofs treffen würden, war bereits durchgesickert.

Peter war an der Reihe und sah seinen Vater fragend an. Florian nickte und Peter schaufelte etwas Erde auf den Sarg des Großvaters.

Er wollte die Schaufel an seinen Freund Benni weiterreichen, doch der lehnte ab. Die Sache war im offenbar nicht geheuer. Noch bevor die beiden weitergingen, hielt Florian Peter auf.

Ihr beiden geht bitte mit dem Meier-Opa und der Oma mit, ja. Ich muss hier noch was erledigen.“

Folgsam nickte Peter seinem Vater zu und war gleichzeitig ein bisschen stolz auf ihn. Der Papa hatte ja die ganze Zeremonie angeführt und seine Rede war, soweit Peter das beurteilen konnte, sehr gut gewesen. Also nahm Peter seinen Freund Benni an der Hand und führte ihn auf den Kiesweg. Dort warteten sie auf den Meier-Opa und verließen mit diesem den Friedhof.

Bernadette war der letzte Trauergast, der Florian die Hand schüttelte. „Mein herzliches Beileid und bitte richte Christina einen lieben Gruß von mir aus.“

Ja, mach ich, und Danke, dass du gekommen bist. Christina hat gestern Abend plötzlich Fieber bekommen, deshalb ist sie nicht da. … Aber… Also der Leichenschmaus ist in dem Gasthaus, gleich gegenüber vom Friedhof. Du bist natürlich herzlich…“

Die beiden sahen sich einen Spur zu lange in die Augen und lächelten.

Gerne“, antwortete Bernadette, strich mit ihrer Hand über Florians Oberarm, drehte sich um und machte sich Richtung Gasthaus auf den Weg.

Nur die beiden Sargträger und der Priester standen noch etwas unschlüssig vor dem offenen Grab. Florian stutzte, begriff dann aber, was von ihm erwartet wurde.

Er zückte die Geldbörse, reichte jedem einen Geldschein. Die Herren verabschiedeten sich, rollten den Wagen von der Grabstelle, meinten, dass in wenigen Minuten ein Angestellter des Friedhofs das Grab zuschütten würde und gingen.

Florian stand alleine vor dem offenen Grab seines Vaters. Das war es also gewesen, der letzte Akt, der finale Schritt in die Erinnerung der Nachkommen. Von jetzt an würde Vater Schuster nichts mehr dazu beitragen können, was das Andenken an ihn beeinflussen würde.

Möglich, dass sich einzelne Geschichten, die Bekannte oder Verwandte über ihn erzählen würden, durch den zeitlichen Abstand veränderten, doch das stille Verblassen war wohl die wahrscheinlichste Entwicklung.

Über kurz oder lang würde Florian der einzige Mensch sein, den ein dünner emotionaler Faden mit Vater Schuster verband.

Enttäuscht stand Florian vor dem Grab seines Vaters, wie damals vor langer Zeit, als er erfahren hatte, dass es kein Christkind gab, keinen Schutzengel, der darüber wachte, dass den Kindern nichts Böses widerfahren würde.

Hier und jetzt war Florian überzeugt davon, dass die Welt überhäuft war mit enttäuschten Hoffnungen und am Ende kein Fluchtpunkt aus Licht und Liebe wartete, sondern nur ein Meer aus grauen Zwischentönen und verklärten Trugbildern.

Der Vater war die Antwort nicht deshalb schuldig geblieben, weil ihm die physische Möglichkeit dazu fehlte, sondern weil die Frage, ob der Vater ihn geliebt hatte, nur in Florians Kopf eine irrlichternde Existenz führte.

Es gab kein Christkind und keinen liebenden Vater, nur ein biologisches Programm, dass einen Organismus dazu anhielt, Nachkommen zu zeugen, Fleisch, das geboren wurde und nach einiger Zeit wieder verrotten würde.

Ich, der Ingenieur, der prüft, ob eine Brücke hält, ob Verbindungen aus Metall korrodieren, Lager ausgeschlagen sind, hätte es wissen müssen.

Es gibt nur den endlosen Kreislauf aus Feuer und Rost, Geburt und Tot.

Der funktioniert sehr gut auch ohne sentimentale Trugbilder von Vätern, die mit ihren Kindern am Schoß, über einen leere Autobahn dem Sonnenuntergang entgegen gleiten.

Dieser Gedanke Florians wog schwer und der bitterer Nachgeschmack würde sich nicht einfach mit einer Flasche rumänischen Rotweins hinunterspülen lassen.

Florian warf noch einen letzten Blick auf den Sarg, wandte sich ab, wollte gehen, als er ein Geräusch vernahm.

Eine Grabreihe weiter zwängte sich eine vielleicht dreißig Jahre alte Frau in einem roten Kleid zwischen zwei Grabsteinen hindurch und kam, leicht wackelig auf ihren hohen Stöckelschuhen auf Florian zu. Er sah die Frau verwirrt an, kannte sie nicht und war unsicher, ob sie wirklich zu ihm kommen würde, oder nur eine Abkürzung zum Hauptweg suchte.

Florian wollte sich umdrehen, doch da winkte sie ihm zu. Er blickte sich um, suchte nach jemandem, dem die Frau noch hätte zuwinken können, doch da war niemand.

Einen Meter vor Florian blieb die Frau stehen, betrachtete ihn. Sie hatte dunkle Augen, einen vollen hübschen Mund und ein, mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Das rote Kleid, der bunte Schmuck um ihren Hals und die vom Wind gekämmten, langen Haare erinnerten Florian an eine reife Hippie-Prinzessin, die sich auf einen Friedhof verirrt hatte.

Entschuldigen Sie, ich glaube, wir kennen uns nicht. Ich bin sein Sohn, Florian Schuster.“, sprach er zögernd, streckte die Hand zum Gruß aus. .

Sie lächelte, kam näher, nahm seine Hand, hielt sie fest.

Ich weiß, wer du bist“, meinte die Frau mit sicherer Stimme „Ich bin Lisa und habe deinen Vater ein paar Mal im Krankenhaus getroffen. Er hat mir viel von dir erzählt. Ich glaube, du hast es nicht immer leicht gehabt mit ihm. Aber weißt du, er… er hat dich sehr geliebt.“

Die Frau kam einen Schritt näher, legte ihre Hand auf seine Schulter und küsste Florian auf die Wange.

Noch bevor er begriff, was geschehen war, spazierte die Frau mit ihren hohen Stöckelschuhen davon.

Betäubt sah ihr Florian nach, bis sie hinter einer Baumgruppe verschwunden war.

Wieder drehte er sich zu dem offenen Grab, sah hinunter zum Vater und dann, ganz langsam quollen sie hervor, die Tränen, die heiß ersehnten und tropften in immer höherer Frequenz auf den lehmigen Boden.

Florian zitterte, seine Knie wurden weich und seine Gesichtsmuskulatur begann unkontrollierbar zu zucken.

Eine Welle aus Gefühlen überrollte Florian, schüttelte und befreite ihn, ließ ihn laut schluchzen und spülte ihn, an den rettenden Strand einer Insel im Ozean der Zweifel.

.

Kapitel 9

8. Februar

Du bist tot, tot, tot, tot, tot. Wie dieses Wort aussieht. Zwei kleine Türme mit einem Loch in der Mitte. Ich verstehe es nicht, will nicht, kann nicht.

Gelogen.

Natürlich verstehe ich „tot“. Tot, seit einem Jahr. Nicht ganz. In 24 Minuten, ist es soweit. Auf dem Totenschein steht die genaue Uhrzeit. Noch 24 Minuten werde ich dich halten. Du atmest unregelmäßig mit geschlossenen Augen, eingefallenen Wangen, aber du atmest. Ich spüre, wie du mir langsam entgleitest.

Noch 23 Minuten.

Dr. Mayer hat gesagt, ich soll das schreiben. Das hilft, hat sie gesagt. Nein, sie hat gesagt: „Schreiben Sie alles auf, was ihnen durch den Kopf geht, Frau Neustifter, ganz ungefiltert. Vielleicht kommen wir so weiter.“

Weiterkommen? Wohin? Ich hab noch nie Tagebuch geschrieben. Bisschen spät mit 35.

Aber ich tu´s. Damit es mir besser geht. Auch ohne dich. Dabei wird es mir nie besser gehen, als mit dir. Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich.

Lisa loves Stefan. 4 fucking ever and ever.

Noch 20 Minuten.

10. Februar

Migräne. Hab im Büro angerufen, kann nicht. Solln sich ihre Scheiß Pensionistenzeitung selber lektorieren.

(3 Stunden später) Jetzt hab ich Migräne. Und du liegst nicht neben mir, willst nicht mit mir schlafen und ich kann nicht sagen: „Schatz, ich hab Migräne, nimm die Finger da weg, sonst kratze ich dir die Augen aus.“

Du hast mich nie gefragt, wenn ich nicht wollte. Manchmal hab ich mir sogar gewünscht, du würdest mich einmal fragen, wenn ich nicht will, einfach um dir sagen zu können, „Nein, ich will heute nicht.“

Du wirst mich nie mehr irgendetwas fragen.

11. Februar

Bin im Büro gewesen und hab die Pensionistenzeitung lektoriert. Ich hasse diese Arbeit. Dabei sind alle sehr nett zu mir – „Lisa würdest du bitte…“; „Lisa könntest du…“ In jeder anderen Firma hätten sie mich schon hinausgeschmissen. Die sind sicher froh, dass ich nur zwei Tage die Woche da bin. Hab keine Ahnung, wie lange ich mir das noch leisten kann.

Seit einem Jahr, sehe ich mir keine Kontoauszüge an.

Weißt du was komisch ist, bei den Leuten im Verlag? Ich bin da die Einzige, die nicht selber schreiben will. Keine Kurzgeschichte, Roman, Krimi oder sonst was. Warum wollen die das alle? Ich kann gar nicht schreiben.

Hab von dir geträumt. Du bist plötzlich vor der Tür gestanden mit diesem riesigen Auto, von dem du immer geredet hast. Wolltest mit mir eine erste Fahrt machen.

Ich steig ein und seh dich an. Auf dem Rücksitz sind zwei Kindersitze. Ich frag dich, wozu die da sind. Du meinst ganz ruhig: „Lisa, gib mir noch einen Monat, dann haben wir auch die Kinder für die Sitze.“ Ich fange an zu lachen und wache auf.

14. Februar

Anna hat mich gefragt, ob ich mit ihr in die Kirche gehen will. Ich war so perplex, dass ich „Ja“ gesagt habe. Also das ist jetzt verkürzt. Ich habe nicht gesagt, „Ja, ich will in die Kirche mitkommen“ sondern nur, dass ich am Sonntagmorgen nichts vor habe.

Wer hat etwas vor am Sonntagmorgen? Nur du bist am Sonntag ewig im Fitness-Studio gewesen.

Ich werde in die Kirche gehen. Warum nicht. Ich glaube, dass es da eine höhere Macht gibt. Ich glaube, dass du im Himmel bist. Ich glaube, ich bin entweder 2012 oder 2014 aus der Kirche ausgetreten.

15. Februar

Die Pensionistenzeitung ist fertig. Jetzt kommen bald die Gartencenter mit ihren Foldern. Eine Kirchenzeitung hatten wir noch nie. Die haben wahrscheinlich kein Geld für ein anständiges Layout samt Lektorat. Der liebe Gott wird ihnen den einen oder anderen Rechtschreibfehler verzeihen.

Anna hat erzählt, das wäre gar keine normale Kirche. Das sind Amerikaner, die hier eine evangelische Bibelgemeinde gegründet haben. Schön.

Ich hör dich lachen. „Lisa geht in eine Kirche.“ „Lisa geht in eine Kirche.“

Du Idiot. Du weißt gar nicht, was ich hier alles in deiner Abwesenheit tue. Ich schlucke zweimal täglich Tabletten. Ich, die Fleisch gewordene Homöopathie, schlucke so Zeug, wo drei Leute unterschreiben müssen, dass das eh okay ist.

Da kann ich auch zu amerikanischen Bibelfreaks in die Kirche gehen.

18. Februar

Ich glaub es einfach nicht. Dieses stille, kleine Bürschlein, dass seit einem Jahr in unserem Zimmer sitzt und eigentlich so gut wie nie den Mund aufmacht, hat einen Krimi veröffentlicht.

Da steht er vor mir, zittert fast und reicht mir die Einladung zu einer Lesung. Ich hab ihn so giftig angesehen, wie nur irgendwie möglich.

Ich hasse Krimis. Ich hasse sie. Ja, ja, ganz, ganz tiefer Hass ist das. Diese Küchenschaben, die sich am Leid anderer aufgeilen. Ja, ja, ich weiß, ich bin ungerecht, aber im Arm von dem Bürschlein ist noch niemand gestorben. Was weiß der von Leid, Tod, Verzweiflung. Schade.

Irgendwie habe ich ihn ganz sympathisch gefunden, aber jetzt speib ich mich fast an, wenn er vorbeigeht.

19. Februar

Samstagabend. Ich sitze vor dem Fernseher und schlucke die Tabletten mit Preiselbeerkompott. Schmeckt nicht schlecht.

20. Februar

Ja. Kirche. Sogar ohne Anna. Die hat kurz davor angerufen, dass sie mit Fieber im Bett liegt. Dachte mir, das ist vielleicht sogar besser so, weil wenn mir die Gebetsmurmelei zu viel wird, dann kann ich schnell gehen und muss mich nicht lange rechtfertigen. Hab mich angezogen, wie meine Oma.

Ich glaub mit ihr zusammen war ich auch das letzte Mal, ganz ohne Anlass, in einer Kirche, um eine Messe anzuhören. Das ist gefühlte 100 Jahre her. Langer Rock, blickdichte Strumpfhosen, dunkle Bluse, Seidenschal. War ein bisschen wie Verkleiden.

Vor der Kirche drehte ich mich dreimal um, weil es unter der angegebenen Adresse eben nur diese vollkommen normale Tür zu einem Souterrainlokal gab. Ich öffnete sie und stand in einem hellen, cremefarbenen, großen Vorraum. Überall standen Menschen, Erwachsene und Kinder, plauderten, schüttelten Hände.

Alle machten einen so seltsam fröhlichen Eindruck, als wäre das eine Art Bezirks-Jahrestreffen glücklicher Familien. Ich wollte wieder umdrehen, als ein 40 -jähriger, gut aussehender Mann auf mich zukommt und mir die Hand reicht. Das war der Pfarrer. Der hatte aber keine besondere Kleidung an oder irgend ein Aschenkreuz auf der Stirn.

Er sagte ein paar Sätze auf Englisch, grinste von Ohr zu Ohr und da kam auch gleich seine Frau – Jennifer – auf mich zu. Sie schob ihn fast beiseite, nahm mich am Arm und führte mich in die kleine Küche. Dort standen wir kurz und tranken einen Kaffee. Ich war sprachlos.

Die ganze Kirche besteht nur aus einem vielleicht 200 Quadratmeter großen L-förmigen Raum, mit einer Küche und einem Büro. Der eine Teil des L’s ist der Empfangs – und Aufenthaltsraum, der andere die eigentliche Kirche. Einen Altar oder diverse Heiligenbilder sucht man vergeblich. An der Stirnseite hängt ein schlichtes Holzkreuz, ganz ohne halb toten Jesus. Der Pfarrer predigt vor oder hinter einem kleinen Pult und in der Ecke neben ihm sitzt eine seiner Assistentinnen an einem normalen Klavier.

Ich war so überrascht, dass ich mich kaum auf die Predigt konzentrieren konnte. Ohja es ging um „Vergebung“. Wer wem zu vergeben hat, hab ich vergessen.

Und viele Lieder wurden gesungen. Aber nicht so komische Sachen, die kein normaler Mensch je vor sich hin summen würde, sondern echte Melodien, die alle ein bisschen klangen, als wären sie von Popsongs der frühen 1970 Jahre abgekupfert. Vielleicht kamen die Popsongs aber auch erst nach diesen Kirchenliedern.

Die Zeit ist so schnell vergangen. Ganz verwundert hab ich mich nach dem letzten Gebet umgesehen. Alle standen auf. Apropos Aufstehen: wenn man während der Messe aufstehen soll, sagt der Pfarrer einfach: „Bitte steht alle auf.“ Ich kann mich noch erinnern, wie peinlich das immer mit Oma war, wenn ich an den falschen Stellen aufgestanden oder sitzen geblieben bin.

Und die haben echte Stühle! Ja, echte Stühle mit einem hellblauen Polsterbezug. Hier muss sich niemand auf einer kalten Holzbank den Allerwertesten … (Ist das jetzt blasphemisch? – Hey, die Frau Doktor hat gesagt „vollkommen ungefiltert!!“). Also da friert man nicht auf einer harten Holzbank.

Nach der Messe gingen alle in den Aufenthaltsraum. Dort hatte Jennifer in der Zwischenzeit einen kleinen Tisch mit Mehlspeisen aufgebaut. Wieder plauderten wir und tranken Kaffee.

Eine wildfremde Frau um die fünfzig stand plötzlich vor mir und meinte ohne einen Hauch Ironie, sie sei total froh, dass ich gekommen bin. Ich fing an zu heulen und lief hinaus.

Das Glas mit dem Preiselbeerkompott ist fast leer.

23. Februar

Das Bürschlein sitzt mir gegenüber.

Was wäre, würde ich plötzlich aufstehen, ihm den gespitzten Bleistift an die Brust halten und schreien: „Ich stech dich ab, du Sau!“

Na da würd er sich schön in die Hosen pinkeln, der Herr Krimiautor.

Ich muss mich konzentrieren. Der Text für das Gartencenter ist da. Vergebung. Ja, Herr vergib den Gartencentern und den Krimiautoren und vergib mir. Seit fast einem Jahr habe ich es nicht geschafft, deinen Vater anzurufen.

Moment, ich muss arbeiten.

(zu Hause)

Eine Zeit lang habe ich mir eingeredet, er sei selber Schuld, dein Herr Papa, aber das ist natürlich Blödsinn. Er hat gemacht, was von ihm erwartet wurde, und ich habe ihn sogar darum gebeten.

Ich hatte einfach nicht die Kraft, ein Begräbnis zu organisieren. An dem Tag dann – ich schäme mich so – ich mein, ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so blöd sein würde.

An dem Tag: ich war allein – na klar, weil du warst ja in dieser Scheiß Kiste – ja, allein war ich und bis oben hin vollgestopft mit Anti-Alles-Tabletten, hab nur geheult.

Das Begräbnis war für 12 Uhr angesetzt und ab 10 Uhr begann ich mir Mut anzutrinken.

Gegen 11:30 war ich total besoffen und hatte die brillante Idee, doch mein langes, rotes Hochzeitskleid anzuziehen. Der Taxifahrer machte ein ziemliches Gesicht, als ich beim Zentralfriedhof (Zweites Tor) ausstieg.

Auf dem kurzen Weg zur Einsegnungshalle bin ich zweimal hingeflogen.

Als ich endlich in der Halle stand, verheult, zornig und verdreckt, begann ich sofort herumzuschreien. Alle habe ich beschimpft: den Pfarrer, deine Eltern, jeden, den ich gesehen habe. Es war furchtbar. Du kannst froh sein, dass du in deiner Kiste davon nichts mitbekommen hast.

Zum Schluss wollte ich mich noch ganz theatralisch auf den Sarg werfen, bin aber, dem Kleid sei Dank, noch einmal hingeflogen und diesmal bewusstlos liegen geblieben.

Hey, ich hab dir doch immer gesagt: „I ain’t smart, but I got a rock’n roll heart.“

Scheiße, ich brauch ein Taschentuch.

Ja, Vergebung, ja, brauch ich. Und da meint die Frau Doktor, wir kommen nicht weiter mit unserer kleinen Depression. Blödsinn.

Hätten wir ein Kind gehabt, wäre das alles ganz anderes gelaufen. Ich hätte das Kind getröstet, mit ihm oder ihr geheult, hätte es beschützt, wie ein Fels in der Brandung.

Nein, das ist keine Ausrede, ich weiß, dass es so gewesen wäre. Aber ich hatte niemanden, den ich hätte beschützen können und der Gedanke, dass deine Eltern in der Situation auch Schutz notwendig gehabt hätten, ist mir nicht in den Sinn gekommen.

Ja, Vergebung. Wahrscheinlich war ich nur deshalb am Sonntag in der Kirche. Mein schlechtes Gewissen hat mich dazu gebracht, mir die Oma-Verkleidung anzuziehen.

Ich werde deinen Vater anrufen. Wann? Bald. Bald. Jetzt geh ich schlafen.

Wo sind die Tabletten? Darf ja nicht vergessen, dieses Preiselbeerkompott zu kaufen. Ohne Preiselbeerkompott schmecken mir die Tabletten nicht mehr.

24. Februar

Anna ist wieder gesund und wollte wissen, ob ich sonntags mit ihr in die Kirche gehe. Habe gesagt, dass ich möglicherweise eingeladen bin. Weiß auch nicht wieso.

War schon ewig nicht mehr eingeladen. Wer lädt schon gerne jemanden ein, der jeden Moment in Tränen ausbrechen kann oder sonst wie einen Anfall bekommt. „Emotional instabil“ hab ich einmal diese Tante von der Buchhaltung flüstern gehört. Stimmt schon.

Vielleicht sieht mich das Krimibürschlein auch deshalb immer so verschreckt an. Ach wie gerne würde ich ihm einen kleinen Anfall vorspielen. Das wäre ein Spaß.

Hey, das ist krank. Konzentrier dich lieber auf das Gartencenter.

25. Februar

Franz hat sich gemeldet. Also bei der Wahl deines besten Freundes hättest du echt ein bisschen vorsichtiger sein können. Naja im Kindergarten war das vielleicht noch nicht absehbar.

Versteh nicht, wie der eine Frau gefunden hat. Ich mein, Eva ist keine Schönheit, malt aber sehr gut. Während Franz definitiv nicht schreiben kann. Hast du noch seine „Ode an die Brettljause“ gelesen? Dafür hat er Geld bekommen, echtes Geld!

Ganz vorsichtig hat er gefragt, wie es mir geht. Zuerst wollte ich einfach nur ganz, ganz laut ins Telefon schreien, dann ist mir aber dieses Bild eingefallen: Es war Sommer. Du sitzt mit Franz am Esstisch. Ihr beiden spielt seit Stunden so ein vertrotteltes Kartenspiel, trinkt und zerkugelt euch wegen irgend einem Blödsinn. Vor lauter Lachen laufen euch Tränen über die Wangen. Du siehst so glücklich aus.

Ich hab einfach aufgelegt.

27. Februar

Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Ich will ihm eine Gefährtin machen. Und Gott der Herr machte eine Frau aus der Rippe des Mannes. Da sprach der Mann: „Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.“ Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen um mit seiner Frau zu gehen und sie werden sein ein Fleisch.

Wie der Pfarrer das vorgelesen hat, sind mir wieder die Tränen gekommen. Ich wollte raus laufen, aber das Singen hat mich beruhigt.

Wusste gar nicht, wie gerne ich singe. Die Gemeindemitglieder sahen mich so freundlich an. Nein, nicht nur mich, das machen die bei allen so.

Vor und nach der Messe kannst du zu jedem hingehen und mit ihr oder ihm reden. Die Stimmung in diesem „L“ ist fast gespenstisch gut.

Anna brachte einen Kuchen. Überhaupt bringen alle irgendeine Kleinigkeit zum Essen für den Kaffee nach der Messe, und keiner vermittelt den Eindruck, aus reiner Pflicht anwesend zu sein.

Dachte nie, dass Kirche so angenehm sein könnte. Die Sonntage mit Oma in der scheußlichen Kirche im Arsenal kann man damit nicht vergleichen. Dort sind nach dem letzten Wort des Pfarrers alle von den Sitzen gesprungen und so schnell wie möglich nach Hause gegangen.

Hier läuft niemand davon. Anna und ich sind noch mindestens 40 Minuten herumgestanden und haben mit Jennifer gesprochen.

Ihr Deutsch ist so gut wie mein Englisch. Die Arme kommt aus Kalifornien. Quasi eine Heilige, weil der Winter ist heuer ziemlich hart. Ich hab mindestens fünf Stück von ihrem süßen Kuchenzeug gegessen.

2. März

Das Bürschlein hat mich angesprochen. Ob er mir auch einen Kaffee holen soll. Spinnt der? Der ist höchstens 25 und ich bin eine verheiratete Frau.

Hab ihn sehr lange ruhig angesehen und dann recht heftig geantwortet: „Nein, Kaffee will ich keinen, aber ein Glas Wasser wäre fein. Wenn ich nämlich nicht innerhalb von zwei Minuten meine Tabletten nehme, bekomme ich einen Anfall.“

Irgendwie dürfte dem Bürschlein der Witz entgangen sein, denn nach rund 10 Sekunden stand ein Glas Wasser vor mir. Ich hab mich artig bedankt und meine Vitamine geschluckt. Er hat sich fast verbeugt und ist rückwärts aus dem Büro gestolpert. Wie er draußen war, bin ich fast vom Stuhl gefallen vor Lachen.

Klara – kannst du dich erinnern? – die Rothaarige, die früher mal einen Verlag hatte und ständig mit ihrem Gewicht kämpft – die sitzt seit dem Sommer auch in dem Zimmer – Also Klara hat gemeint, ich soll nicht so bös sein zum Bürschlein.

Hab sofort gefragt, ob sie auf ihn steht, aber sie hat gesagt, nein, er tue ihr nur leid. Es sei eine verdammt harte Zeit für Autoren. Blabla.

Seine Leiche hat er sich aufs Papier phantasiert, meine ist echt. Fragt sich, für wen da die Zeit wohl härter ist. Jaja, ich weiß, bin unfair. Kann man alles nicht vergleichen. Scheiße. Offiziell bin ich gar keine verheiratete Frau mehr.

3. März

Im Supermarkt haben sie das Preiselbeerkompott abverkauft. Ich nahm alle angebotenen Gläser. An der Kassa sah mich die Dame komisch an. Ich fragte sie, ob das Preiselbeerkompott je wieder kommt. Sie wusste es nicht. Bat sie, der Filialleiterin auszurichten, dass ich dieses Preiselbeerkompott brauche, weil ich meine Tabletten nur noch damit schlucken kann. Daraufhin hat sie jeden Augenkontakt verweigert.

Egal. Bin jetzt stolze Besitzerin von 12 Gläsern Preiselbeerkompott – á 600 Gramm. Muss ich mir ausrechnen, wie lange ich damit auskommen werde?

4. März

Wieder Supermarkt. Wieder relativ einseitige Konsumation. Habe mich mit Backutensilien eingedeckt. Während ich an der Kassa stand, starrte die Dame höchst konzentriert auf ihre Fingernägel. Die wird sich gedacht haben: „Schau, da kommt wieder die Verrückte.“

Aber, ich kann backen. Nicht so gut wie Oma – die, die nach der Kirche immer sofort nach Hause gelaufen ist – aber ich hab das gelernt. Also ich habe zugesehen. Dir hat es immer geschmeckt. Kannst du dich an diese Haselnussküsse erinnern, die ich einmal gemacht habe? Die waren großartig.

Nachtrag: Hab dem Bürschlein einen Kaffee gebracht. Nur so. Hab ihn ohne Worte vor ihm abgestellt. Mir ist lieber, er glaubt, ich sei ein bisschen gefährlich.

Natürlich bin ich nicht gefährlich. Er hat sich bedankt. Ich lächelte und schluckte anschließend gespielt verwirrt eine Tablette. Meinte ganz treuherzig: „Ist besser so. Wegen der Anfälle.“ Klara hat nur den Kopf geschüttelt. Wehe, sie sagt ihm, dass das nur Vitamine sind.

Die echten Sachen schlucke ich nur morgens und abends. Jeweils mit Preiselbeerkompott.

5. März

Bin total aufgedreht. Es ist mitten in der Nacht und ich sitze vor dem Backofen. Die Küche sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Laut Kochbuch muss ich noch 45 Minuten warten. Bin verdammt müde.

6. März

Bittet, so wird euch gegeben; suchet so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da suchet, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.

Hab viel gesungen. Diese Sonntagsmesse entspannt mich, als hätte ich eine doppelte Dosis Tabletten geschluckt. Es sind auch so schöne Texte von allumfassender Liebe.

Jennifer stand beim Kaffee danach – „Kaffee danach“ klingt ein bisschen wie „Zigarette danach“ – also sie stand neben mir und meinte, sie und ein paar andere Frauen würden für mich beten. Ich fand das unheimlich schön.

Um ja nicht wieder loszuheulen, dachte ich schnell an die letzten Worte des Pfarrers. In seiner Predigt ging es darum, warum die katholische Kirche eben nicht so toll ist wie diese hier.

Das fand ich unpassend. Wenn man etwas nur durch den Glauben erfahren kann, also keine logischen Argumente zur Verfügung hat, um die eigene These zu untermauern, dann kann ich doch nicht sagen, die anderen, die auch nur meinen – Hey glaubt an uns, weil beweisen können wir das alles auch nicht – hätten nicht recht.

Das hat funktioniert. Keine Träne.

Bin übrigens wegen der blöden Haselnussküsse zu spät gekommen. Stellte beim Eingang schnell mein Tablett auf den Tisch mit den anderen Nachspeisen und ging auf Zehenspitzen zu meinem Platz.

Zugegeben die Haselnussküsse haben leicht verbrannt ausgesehen, waren aber geschmacklich ganz in Ordnung. Nach der Messe schob ich mir demonstrativ zwei Stück auf einmal in den Mund und versuchte Jennifer gegenüber nonverbal klar zu machen, wie gut sie mir schmecken.

Hat nicht funktioniert. Sie erzählte, dass es da eine Frauengruppe gibt, die sich trifft und miteinander betet. Ich nickte brav und aß noch ein paar Haselnussküsse.

Kurz bevor ich ging, sah ich nach, wie viele davon noch übrig waren. War etwas enttäuscht. Offensichtlich hat niemand außer mir davon gekostet. Der Teller mit Jennifers Kuchen war leer.

Wahnsinnig experimentierfreudig sind die hier nicht.

Mir ist ein bisschen schlecht.

Abend. Überlege gerade, warum ich mich in der Kirche so wohl fühle. In diesem relativ kleinen, freundlichen Raum, umgeben von gut aufgelegten Kindern und Erwachsenen scheint die Welt an sich sinnvoll, gut.

Frau Doktor Mayer hat gesagt, es wird mir nicht besser gehen, bevor ich nicht wieder „Vertrauen in mein Leben“ habe und „den Sinn des Lebens nicht in Frage stelle.“

Warum mir das in der Kirche leichter fällt, kann ich nicht erklären. Wenn ich da vorne vor meinem blauen Sitz stehe und ein Lied singe, scheint alles so logisch und einfach zu sein.

Du bist nicht da, aber ich bin hier und ich lebe. Du bist nicht verloren, aber ich gehe verloren, wenn ich an der Vergangenheit festhalte.

Bin wild entschlossen, eine vollkommen nebenwirkungsfreie Süßspeise zu backen. Werde gleich Omas Kochbuch suchen.

7. März

Krank.

13. März

Ich meine aber folgendes: Wer da kärglich sät, der wird auch kärglich ernten, und wer da sät im Segen, der wird auch ernten im Segen. Ein jeder, wie er´s sich im Herzen vorgenommen hat, nicht mit Unwillen oder aus Zwang, denn Gott liebt den fröhlichen Geber. Brief des Paulus an die Korinther.

War das wirklich nur ein Brief? Das muss man sich einmal ansehen. In der Bibel, die ich habe, besteht der Brief aus zehn doppelspaltigen, sehr klein bedruckten Seiten.

Wenn man den Text mit der Hand schreiben würde, käme da ein gewaltiger Stapel Papier zusammen.

Hatten die damals überhaupt Papier oder waren das Ziegenhäute? Noch schlimmer wären Steintafeln.

Den Postler möchte ich sehen, der diesen Brief zustellt. Deine Briefe. Deine Briefe an mich. Deine wunderbaren Briefe an mich.

Wie der eine in Omas Kochbuch gerutscht ist, weiß ich auch nicht. In dem Brief hast du mir gedroht, jeden Mann, den ich außer dir attraktiv finden könnte, augenblicklich in Cruella De Vil zu verwandeln.

Wie gut, dass wir deine Zauberkünste nie testen mussten. Die Tränen sind mir aus den Augen geschossen und haben alle guten Vorsätze, wieder ein normales Leben zu führen, weggespült.

Die letzte Woche verbrachte ich in einem Rausch aus Medikamenten und Preiselbeerkompott. Immerhin habe ich es aber diesmal geschafft, nicht zu viel von den Dingern zu schlucken.

Bin nur herumgelegen, habe gekotzt, geheult und geschlafen. Rief in der Arbeit an. Das Bürschlein war am anderen Ende der Leitung. Ich muss recht überzeugend gewesen zu sein.

Was mir geholfen hat, war der Wunsch, am Sonntag in die Kirche zu gehen. Ich wusste, das würde mich wieder aufrichten. Und nicht nur das. Ich wollte mit einer Süßigkeit einreiten, die mir die Gemeindemitglieder beim „Kaffee-Danach“ aus der Hand reißen würden.

Also zuerst Korinther, Singen, Entspannung und dann kam der große Moment. Der Einfachheit halber hatte ich mich wieder für die Haselnussküsse entschieden. Diesmal sahen sie aber viel schöner aus. Der Geschmack war ebenfalls besser.

Enttäuschung pur. Genau zwei Kinder nahmen sich jeweils einen Haselnusskuss. Ich stand die ganze Zeit über neben dem Tisch mit den Süßigkeiten, weiß genau, wer was genommen hat.

Jennifers Kuchenteller war wie üblich als erster leer, dabei hat sie mir erzählt, dass ihre Kinder immer mithelfen.

Ich verstehe die Frau nicht. Hat einen netten Mann, vier (in Zahlen: 4!!) Kinder, wirkt so entspannt, als würde sie mindestens die dreifache Dosis meiner Tabletten schlucken und kocht nebenher noch so gute Sachen.

Andererseits: habe ihren Kuchen probiert und war nicht begeistert. Ausgesehen hat der top, aber der Geschmack war nicht herausragend. Ihre Sachen sehen eigentlich immer toll aus, schmecken aber alle gleich.

Ich meine das nicht als Vorwurf, aber der Inhalt deckt sich nicht mit der Verpackung.

Wenn man da jetzt den Paulusbrief hernimmt: na logisch, bringt Arbeit, die mit Freude gemacht wird statistisch gesehen mehr, aber Garantie ist das keine, siehe meine Haselnussküsse.

14., 15., 16., 17. März

Versinke in Texten. Muss wegen der „Krankheit“ viel Arbeit aufholen.

Bürschlein hat sich nach meinem Befinden erkundigt. Hat der keine Freundin? So schlecht sieht er auch wieder nicht aus. Seine Garderobe müsste er etwas überdenken.

Manche Männer glauben, dass sie mit einem schwarzen Rollkragenpullover schrecklich intelligent aussehen.

19. März

Samstag. Habe gestern und heute damit verbracht, den Gugelhupf meines Lebens zu backen.

Mehrere Prototypen sind im Mistkübel gelandet. War dreimal beim Supermarkt um diverse Zutaten nach zu kaufen.

Habe nicht erwartet, dass die Dame an der Kassa je wieder Blickkontakt mit mir aufnehmen wird. Beim dritten Mal hat sie mich aber angesprochen und gemeint, dass sie mein Preiselbeerkompott-Begehr an die Filialleiterin weitergereicht hat.

Wenn das so weiter geht, werden wir noch ganz dicke Freunde.

20. März

Ich beschwöre euch ihr Töchter Jerusalems, findet ihr meinen Freund, so sagt ihm, dass ich vor Liebe krank bin. Was hat dein Freund, dass du uns so beschwörst? Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden. Sein Haupt ist das feinste Gold. Seine Locken sind kraus, schwarz wie ein Rabe. Seine Augen sind wie Tauben an den Wasserbächen, sie baden in Milch und sitzen in reichen Wassern. Seine Wangen sind wie Balsambeete, in denen Gewürzkräuter wachsen. Seine Lippen sind wie Lilien, seine Finger sind wie goldene Stäbe. Sein Leib ist wie reines Elfenbein, mit Saphiren geschmückt. Sein Mund ist süß, und alles an ihm ist lieblich. So ist mein Freund, ihr Töchter Jerusalems.

Nein, das war nicht Teil der Messe. Habe es zufällig in der Bibel gefunden.

Die Predigt hielt so ein 22-jähriger Grünschnabel aus South Carolina. Übereifrig und mit hoch rotem Kopf hat er erklärt, dass wir alle Sünder, ja mit Sünde geboren sind. Ich dachte kurz an die Kinder, die da rund um mich herum saßen und habe mich ein wenig für den Prediger geniert.

Was sollen die Kleinen da schon ausgefressen haben, um so einen Haufen Blödsinn ertragen zu müssen?

Nachdem der Prediger in dem Ton weiter machte, habe ich einfach in meiner Bibel geblättert und nicht weiter aufgepasst.

Singen konnte der Grünschnabel auch nicht. Ehrlich: gegen den ist mein Bürobürschlein ein weiser, alter Mann. Beim Kaffee wollte ich Jennifer gegenüber eine spitze Bemerkung machen, aber sie hat sich so intensive mit dem Grünschnabel unterhalten, dass ich da nicht dazwischenfunken konnte. Da hatte man kurz den Eindruck, der Grünschnabel wäre ihr eine kleine Sünde wert.

Spannend wurde es kurz danach. Habe demonstrativ meinen Traum-Gugelhupf ausgepackt und auf den Tisch neben Jennifers Cupcake gestellt. (Cupcake: kleines, süßes Zeug; primitive Mischung aus Mehl und Zucker, die besser aussieht, als sie schmeckt.)

Nach dieser Predigt hatte ich Lust auf einen kleinen Test. Hier die gezuckerten Früchte der gottesfürchtigen, gegen die Sünde ankämpfende Frau des Pfarrers und gleich daneben mein Gugelhupf. Es heißt doch, an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, weshalb dieser Mehlspeisenvergleichskampf auch eine theologische Komponente hatte.

Offensichtlich sind nicht alle Menschen gleichermaßen erkenntnisfähig, denn wieder waren von Jennifers Cupcakes nur mehr Krümel übrig, während mein Prachtstück mit großer Skepsis aufgenommen wurde. Die Hälfte blieb übrig. Ich habe den Rest eingepackt und die Kirche etwas mürrisch verlassen.

Was hat diese Frau, was ich nicht habe? Okay, da wäre einmal ein liebender Mann, vier Kinder, eine himmlisch ausgeglichene Ausstrahlung, ihre Erbsünde und ihre Fähigkeit etwas zu backen, von dem sich jeder ein Stück nehmen will.

Was ich vergessen habe zu erwähnen: einen Cupcake habe ich für Testzwecke mitgenommen.

21. März

Habe im Büro Klara ein Stück Gugelhupf und einen Cupcake kosten lassen. Sie meinte, beides sei etwas trocken und erkundigte sich, ob da hoffentlich nicht zuviel Zucker drin ist.

Na was denn sonst? Tofu? Aus lauter Verzweiflung reichte ich dem Bürschlein auch zwei Kostproben. Genaugenommen hielt ich ihm mit wildem Blick den Teller vor die Nase und meinte: „Welches Stück schmeckt nach Erbsünde und welches nach reiner Liebe?“

Im ersten Moment dachte ich mir, dass er nun endgültig davon überzeugt sein muss, ich sei verrückt, aber dann lächelte er, schob sich beide Stücke nach einander in den Mund und antwortete: „Kann denn Liebe Sünde sein?“

Ich gestehe, ich musste lachen, hatte mich aber sofort wieder im Griff und fauchte nur: „Das war keine Antwort.“

Da hat mich das Bürschlein doch wirklich angegrinst und ganz kokett gemeint: „Wenn Sie zu meiner Lesung kommen, sage ich Ihnen welches Stück mir besser geschmeckt hat.“

Gut, da bin ich laut geworden. „Hör mal gut zu, du kleiner Pisser. Ich bin fast doppelt so alt wie du. Wenn du also jemanden zum Spielen suchst, bagger ein paar Teenies an. Und abgesehen davon gehe ich nicht zu Lesungen von Autoren, deren modische Phantasie bei einem schwarzen Rollkragenpullover endet.“

Kurz war es ganz still. Das Bürschlein sah mich traurig an, drehte sich um und verließ das Büro.

Klara wollte etwas erwidern, aber ich habe ihr nach dem ersten „Also das wa…“ das Wort abgeschnitten und geschrieen: „In dem Cupcake war soviel Zucker, dass du morgen einen Pferdearsch haben wirst!“

War das eine Sünde?

22. März

Bin sehr früh mit einem Strauß Blumen ins Büro gekommen. Klara ist immer als Erste da und ich wollte mit ihr allein sein. Ich weiß, sie mag Pfingstrosen. Gott sei Dank kann man die heuer so früh kaufen.

Bat sie um Verzeihung, musste mir aber eine ziemliche Predigt anhören. Dass es nicht angeht, wie ich mich der Belegschaft gegenüber verhalte. Alle wüssten, dass ich gewisse Probleme habe, und würden mich sowieso nur mit Samthandschuhen anfassen, weil ich wegen jedem Dreck entweder explodiere oder in Tränen ausbreche.

Irgendwann müsste ich mich aber entscheiden, wie es weitergehen soll. Wenn ich keine Möglichkeit sehe, meinen Schmerz auf ein, für alle ertragbares Niveau zu reduzieren, soll ich bitte kündigen, weil so könne man nicht weiter machen.

Dann hat sie an den Pfingstrosen gerochen und gemeint, die seien aber besonders schön. Ja und ob ich ernsthaft meine, ihr Hinterteil sei zu groß. „Nein“, war meine spontane Antwort, doch in Wirklichkeit dachte ich mir, dass es in ihrem Fall auf die Vorliebe des Betrachters ankommt.

Ich meine, wenn man auf kleine Popos steht, dann ist ihrer mit Sicherheit zu groß, wenn man es aber, hinten herum, lieber füllig mag – und da sind gewisse Männer ganz eigen – ja dann wird man ihren Popo lieben.

Aber das sagte ich ihr natürlich nicht. „Ja, du hast recht“, murmelte ich, und eben „Nein, dein Hintern ist perfekt.“

Ich wollte mich auf meinen Platz setzen, um wenigstens so zu tun, als würde ich über ihre Worte nachdenken, da kam auch schon das Bürschlein, eingehüllt in eine dicke Winterjacke ins Zimmer.

Um die Sache so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen, bat ich ihn, mit mir kurz in die Teeküche zu gehen.

Wir standen uns in dieser winzigen Küche dicht gegenüber und zum ersten Mal war ich gezwungen, ihn mir genauer anzusehen.

Er ist um eine Spur größer als ich, hat lockige, brünette Haare, einen breiten Mund, ein paar Sommersprossen auf den Wangen und so komische Augenlider, die ihn ein wenig tollpatschig aussehen lassen.

Eigentlich ist er ganz hübsch. Ich stand da, suchte nach einem Satz, als er plötzlich seine Jacke auszog. Unter der Jacke trug er einen rosa Rollkragenpullover.

Er verzog keine Miene. Ich riss die Augen auf und musste mir auf die Zunge beißen, um nicht laut aufzulachen.

Hier ein Gedächtnisprotokoll unserer Unterhaltung: („Gedächtnisprotokoll“ ist ein schönes Wort. Klingt irgendwie nach Objektivität, und ich habe ein gutes Gedächtnis.)

Er (ernst): „Was wollten Sie mir sagen?“

Ich reiß mich wirklich zusammen, atme tief durch. „Also, erstens, also… ich, ich bin nicht doppelt so alt wie du.“

„Wie ‚Sie‘!“

Was ‚wie Sie‘?“

„Wir sind ‚per Sie‘!“

„Ah so? Wirklich?“

Sie sind kaum älter als ich und ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns gegenseitig das Du-Wort angeboten hätten.“

Okay, ich meine, das war nicht unhöflich gemeint oder so. Du… also Sie, machst… machen so einen jugendlichen Eindruck auf…“

Nein, das „Du“ hat da sicher eine andere Bedeutung. Im übrigen glaube ich nicht einmal, dass Sie wissen, wie ich heiße.“

Na klar doch, du bist das Bü… Bü… Bü …der Bernhard.

„Das ist falsch.“

„B… B… Benno.“

„Das ist auch falsch.“

Er starrt mich noch immer recht grimmig an. In mir steigt die Verzweiflung hoch und ich beschließe in die Offensive zu gehen. Ich strecke ihm, soweit das in der Miniküche möglich ist, meine Hand entgegen.

Ich heiße Lisa und es würde mich sehr freuen, wenn du, also wenn Sie, mich auch so nennen würden.“

Er nimmt meine Hand, lächelt mich an.

„Hallo Lisa, ich bin der Wolfgang.“

„Hallo Wolfgang.“

Er lässt meine Hand nicht los. Wir sehen uns an.

„Lisa, haben Sie vielleicht Lust, zu meiner Lesung zu kommen?“

Er lächelt noch immer, aber nicht blöd. Ich sehe seinen rosa Pullover an, schlucke.

Okay Wolfgang, also wenn Sie mir eine Einladung geben, wo da alles drauf steht, so „Wie, Wann, Wo,“ dann…, dann überleg ich es mir.“

Er lässt meine Hand los, sagt: „Gut, ich freu mich.“, dreht sich um, und geht ins Büro.

Ich bleib in der Teeküche stehen, wie ein Vollidiot. „Wolfgang“, „Wolfgang“, natürlich habe ich es gewusst. So blöd bin ich auch wieder nicht. In der Eile ist es mir eben nicht eingefallen.

Muss ich ihn jetzt immer siezen? Irgendetwas hat er, aber was, weiß ich auch nicht.

25. März

Habe zwei anstrengende Tage in diversen Konditoreien hinter mir. Hatte nach dem letzten Debakel die Idee, einfach eine Torte zu kaufen, aber das war mir dann doch zu billig.

Möchte Jennifer und die Erbsünde im ehrlichen Wettstreit besiegen.

Aber man kann sich ja Tipps holen. Ihr wird die Kochkunst ja auch nicht vom heiligen Geist eingehaucht worden sein. Oder?

Bin also in jede Menge Konditoreien gegangen, habe einiges gekostet und wenn es geschmeckt hat, habe ich um das Rezept gebeten. Einige Damen und Herren haben mich angesehen, als hätte ich sie nach ihren sexuellen Eigenheiten gefragt, aber andere waren sehr hilfreich.

Habe jetzt viele Rezepte und einige Kilos mehr auf den Hüften.

Der Strategie zuliebe habe ich mich entschieden, mit ganz großen Waffen anzutreten. Das heißt, ich will etwa kochen, was eigentlich niemand nicht mögen kann. Egal wie kompliziert und wie viele Zutaten ich da heranschaffen muss.

Solange ich es mir irgendwie leisten kann, werde ich es herstellen.

23 Uhr 30. Gut. Es ist entschieden. Es wird ein Frischkäse-Parfait mit einer Pfeffer Karamell-Sauce.

26. März

Vom Rezept her ist es gar nicht so ein Problem. Finde es schmeckt auch ganz ordentlich, aber die Logistik macht Schwierigkeiten.

Die Karamellsauce darf man erst kurz vor dem Verzehr auf das Parfait geben. Ich kann aber nicht die Messe schwänzen und dann mit einem Topf Sauce in der Hand beim Kaffee-Danach auftauchen.

27. März

Denn die da fleischlich sind, die sind fleischlich gesinnt, die aber geistlich sind, die sind geistlich gesinnt. Aber fleischlich gesinnt sein ist der Tod, und geistlich gesinnt sein Leben und Frieden. Denn fleischlich gesinnt sein ist Feindschaft gegen Gott, weil das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht Untertan ist.

Hey, hey, jetzt kenne ich mich wirklich nicht mehr aus. Da gibt es also einen Gott, der alles gemacht hat, uns, das Fleisch und das Frischkäse Parfait, aber wehe wir erfreuen uns daran.

Also ich hab ja keine große Ahnung von Theologie, doch Freund Paulus kommt mir vor wie ein ganz Eifriger, der nicht so recht verstanden hat, worum es geht.

Andererseits, seine Briefe werden ständig zitiert, wogegen meine wahrscheinlich kaum in die Kulturgeschichte eingehen werden.

Egal, dem Pfarrer kann man einfach nicht böse sein. Er strahlt soviel Freude und gute Stimmung aus, dass man sich in seiner Umgebung einfach wohl fühlt.

Wie er mit seinem Fleisch umgeht, ist ja mehr Jennifers Problem. Vor lauter Freude, dass wieder er und nicht der Grünschnabel aus Carolina gepredigt hat, sang ich ganz laut mit.

Dem Pfarrer gefiel es. Er strahlte mich förmlich an.

Dass dieser Sonntagvormittag so ein trauriges Ende nehmen würde, war mir zu dem Zeitpunkt nicht klar. Bin sofort nach dem letzten Lied aufgesprungen und in die Küche gelaufen, um die Sauce für das Parfait anzurühren.

Alles funktionierte nach Plan. Ich stand stolz mit Kochschürze und Topf vor den zehn Tellern mit Parfait. Jedem, der zum Tisch mit den Mehlspeisen kam, erklärte ich, welche Zutaten ihn erwarten würden und das Jesus Christus vom Kreuz gestiegen wäre, hätte man ihm so ein Parfait vor die Nase gehalten.

Ich wartete mit dem Topf in der Hand, bis der letzte „Gast“ die Kirche verlassen hatte. Nur Jennifer war noch in der Küche und wusch die Krümel von dem Teller, auf dem sie ihre Cupcakes – ich kann dieses Wort nicht mehr hören – abgestellt hatte.

Bis zu dem Zeitpunkt hatte niemand den Mut, von meinem Parfait zu kosten. Ich war so wütend, dass ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich losheulen oder laut aufschreien sollte.

Nach einiger Zeit kam Jennifer aus der Küche, stellte sich vor mich hin und meinte: „Well, Darling, was wir tun jetzt?“

Bin mir nicht sicher, ob man das als Beweis für die Nicht-Existenz eines gerechten Gottes ansehen kann, aber Jennifer sank in dem Augenblick nicht mit Schmerz verzerrtem Gesicht und vom Blitz getroffen zu Boden.

Nein, sie nahm sich einen kleinen Löffel, steckte ihn in mein Parfait und kostete. Lächelnd wog sie den Kopf hin und her. „Ein bisschen zuviel Sugar, Darling.“

Ich will die Sache nicht überinterpretieren, aber in ihrem Blick konnte ich ganz genau lesen, wie sehr sie es genoss, diesen Vergleichskampf eindeutig für sich entschieden zu haben.

Bis zu diesem Zeitpunkt wäre ich bereit gewesen, unter welchen Schmerzen auch immer, von dannen zu ziehen, doch da ließ sie plötzlich den Löffel in das Parfait fallen, verschränkte die Arme vor ihrer Brust und fragte mich: „Soll ich helfen, es in die Mistkübel werfen oder willst du es machen alleine?“

Nächstenliebe hin oder her – meine Tabletten hatte ich auch nicht dabei – also nahm ich den Topf mit der Karamellsauce und goss ihn ihr ganz langsam über den Kopf.

Sie starrte mich an, wie das Kaninchen die Schlange, bewegungsunfähig, mit weit aufgerissenen Augen. Ich blieb ganz ruhig und meinte: „Jetzt bist du wirklich süß.“ Dann stellte ich den Topf ab und ging.

28. März

Du sollst keine anderen Götter neben mir haben, Vater und Mutter lieben, nicht töten, stehlen, ehebrechen oder falsches Zeugnis ablegen.

Weit und breit kein Satz von wegen Karamellsauce über das Haupt deines Nächsten gießen. Ehrlich, ich fühle mich gut.

War den ganzen Tag über total aufgekratzt und habe sogar im Büro, quasi öffentlich, gelacht. Klara sah mich jedes Mal an, als würde sie der Sache nicht ganz trauen.

Das Bürschlein – Entschuldigung „Wolfgang“ – hat mich angelächelt, als wären wir ein vertrautes, altes Paar.

Sein Rollkragenpullover war wieder schwarz, habe das aber nicht kommentiert. Gott sei Dank wollte er nicht wissen, ob ich zu seiner Lesung komme. Was soll ich dort?

Wieder daheim hat sich meine Stimmung leicht eingetrübt. Nicht schlimm, weiß nur nicht, was ich am Sonntag tun werde. Soll ich in die Messe gehen oder die ganze Sache vergessen.

Habe einen Folder von der Kirche:

Woran wir glauben: A: Gott liebt dich; B: Du hast gesündigt; C: Tue Buße und glaube an die heilige Schrift; D: Erwähle Christus als deinen Retter.“

A ist gut, C und D in Ansätzen, B stimmt einfach nicht. Ein Gott erschafft die Welt und die Menschen, sagt ihnen aber sofort, sie hätten gesündigt? Das wäre eine Art Generalsünde. Du bist geboren worden, also hast du gesündigt. Nein.

Und was ist mit den Menschen auf so einer Südseeinsel, die noch nie etwas von den amerikanischen Bibelfreaks gehört haben?

Nimmt man diese Christen ernst, dann sind die Menschen auf der Insel Sünder und werden am jüngsten Tag in der Hölle schmoren.

Das macht einfach keinen Sinn und klingt mehr nach dem Kundenbindungsprogramm einer Telefongesellschaft.

Genauso lächerlich ist die Vorstellung, dass alle, die eben an etwas anderes glauben, schlechte Menschen sind.

Nein, wenn es einen Gott gibt, der liebt, dann kann es keine Ausnahmen geben. Ein liebender Gott kann nur alle Menschen lieben. Alles andere wäre eben nicht göttlich.

Der Pfarrer betont jedes Mal, dass seine Kirche sich ausschließlich an der Bibel orientiert. Aber sogar ich weiß, dass die Bibel eine Sammlung von Texten ist.

Menschen haben diese Texte zu einem Buch zusammen gefasst, Menschen mit Wünschen und Hoffnungen, Zielen und Vorlieben.

Warum orientiert sich der Pfarrer nicht mal an seinem Verstand? Den hat er doch auch von Gott.

Okay, das ändert alles nichts daran, dass ich Jennifer die Sauce über den Kopf geschüttet habe.

Ich fühle mich in der Kirche wohl und es würde mir Leid tun, darauf zu verzichten. Klingt ein bisschen unlogisch, ich weiß.

Schön an der Kirche ist, abgesehen von der Singerei, dass sie sich dort mit der Frage nach einem Gott und einem sinnvollen Leben beschäftigen. Vielleicht haben sie ja nicht immer die richtigen Antworten, aber das Bemühen, den guten Vorsatz, kann man ihnen nicht absprechen.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Moment, es klingelt an der Tür.

23:00

Bin sprachlos. Jennifer war da, mit einem großen Strauß Gerbera. Jetzt ist sie weg. Die Blumen sind noch da, lachen mich an, als wären alle meine Überlegungen, betreffend Gott oder die Sünde lächerlich. Die Blumen sind einfach nur wunderschön.

Jennifer hat sich lang und breit bei mir entschuldigt. Ich musste sie bremsen, sonst wäre sie noch vor mir auf die Knie gefallen.

Wie es aussieht, hatte sie Angst, ihr Mann – der Pfarrer mit Orientierung – könnte mich zu attraktiv finden. Ich würde so schön singen, wäre so sexy (Kein Witz! Sie hat wirklich „sexy“ gesagt.) und meine Süßigkeiten wären so verlockend gewesen.

Er hätte auch zu Hause öfter von mir gesprochen und da habe sie plötzlich Angst bekommen. Kurz danach hat sie den anderen Gemeindemitgliedern erzählt, dass ich an einer Durchfallerkrankung leide, weshalb sich niemand getraut hat, etwas von meinen Sachen zu kosten.

Ziemlich perfid. Egal. Ich habe ihr verziehen. Sie hat so traurig ausgesehen und war total panisch, ich könnte ihretwegen nicht mehr in die Kirche kommen.

Habe ihr erklärt, dass ich ihren Mann zwar sympathisch finde, aber mir nie im Leben vorstellen könnte, mit so jemandem ins Bett zu gehen.

Da war sie kurz eingeschnappt. Daraufhin musste ich erklären, dass ich mich schon seit längerem alles andere als „sexy“ fühle.

Vielmehr sei ich es, die sie bewundern würde. Für ihre ausgeglichene Art, ihr Leben mit Mann und Kindern, diese Fröhlichkeit, ihre Gewissheit, dass ein sinnvolles Leben möglich ist.

Deshalb habe ich mich zu diesem dummen Mehlspeisenvergleichskampf hineinreißen lassen. Da war sie wieder beruhigt.

Zum Schluss wollte sie noch mit mir eine Runde beten, aber das habe ich abgelehnt. Mir war mehr nach Preiselbeerkompott.

Zum Abschied drückte ich sie fest an mich und gab ihr eine kleine theologische Spitze mit auf den Weg: „Gott liebt dich, wie du bist.“

Kurz sah sie mich etwas verdutzt an und bat mich dann zum wiederholten Mal, am Sonntag zur Messe zu kommen.

Ich lächelte, antwortete aber nicht. Muss mir das noch überlegen.

Bin müde, esse Preiselbeerkompott und starre nach jedem Löffel die Blumen an. Diese Farben!

1. April

Nachmittag. Habe den ganzen Tag absolut nichts getan und fühle mich großartig. Schon am Morgen lachte die Sonne in mein Fenster und ich mit ihr.

Bin nur herumgelegen, habe in Frauenzeitschriften geblättert.

Die Fotos von den neuen Badeanzügen haben mich abgelenkt. Mein Gott, habe schon seit Ewigkeiten nicht mehr an Badeanzüge gedacht.

Ich gehe nicht gerne ins Schwimmbad und bin keine gute Schwimmerin, andererseits ist ein Bikini eher etwas fürs Auge und das eigene Selbstwertgefühl.

Kurz entschlossen holte ich meine gesammelten Badeanzüge aus dem Schrank und probierte sie an. Dabei wurden mir zwei Dinge klar.

Erstens: ich brauch einen neuen Badeanzug und zweitens muss das so ein Ding sein, das mehr verhüllt als zeigt. Bisher dachte ich ja, dass meine Problemzonen mehr im mentalen Bereich liegen.

Langsam wird es Abend und ich will einfach nicht alleine bleiben. Ich könnte Anna anrufen und fragen, ob sie Lust hat, ins Kino zu gehen. Oder?

2. April

Samstag. Liege allein mit dem Computer im Bett.

Das war nicht die ganze Nacht so.

Komme mir vor, als wäre ich durch eine Tür gegangen, würde in einem neuen Haus stehen und mich leicht verwirrt umsehen. Das neue Haus sieht nicht schlecht aus, aber werde ich mich darin wohl fühlen?

Der Reihe nach: Meinem manischen Schub von gestern folgend, habe ich Anna nicht angerufen. Allein und verwegen wie ein Westernheld bin ich kurz nach 18:00 Uhr vor meiner Haustür gestanden.

Wohin ich gehen sollte, war mir zu dem Zeitpunkt noch nicht klar, aber meine Füße haben mich schlussendlich zu einem trostlosen, kleinen Café in der näheren Umgebung getragen.

Ich blickte durch die Fenster hinein, wollte sofort wieder kehrt machen, aber er hatte mich schon gesehen.

Das konnte man ihm nicht Übel nehmen. Außer ihm und dem Wirt waren genau drei weitere Gäste in dem Lokal. Ablenkung war das Gebot der Stunde. Als er mich sah, wechselte sein Blick von grenzenloser Enttäuschung zu heller Freude. Er tat mir augenblicklich leid.

Das war also das Forum, die Geburtsstätte des Literaten, der Ort, wo Wolfgang seinen Roman zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentieren wollte.

Klaras Worte von der schlechten Zeit für Autoren klangen in meinen Ohren nach wie ein überdimensionaler Gong aus einem chinesischen Film.

Bitte lieber Gott, sollte ich je auf den absurden Gedanken kommen, ein Buch zu schreiben, lass meinen Computer abstürzen, bevor ich den ersten Ausdruck gemacht habe.

Ich betrat das Lokal, Wolfgang schoss auf mich zu, umarmte mich und flüsterte mir leise ins Ohr. „Ich bin so froh, dass du gekommen bist, und bitte, bitte, sag jetzt nichts.“

Ich sah ihn an, schwieg, grinste von Ohr zu Ohr und ließ mich von ihm zu einem Platz in der „ersten Reihe“ führen.

Eine Minute später hatte ich ein Glas und eine Flasche Rotwein in der Hand. (O-Ton Wolfgang: „Nimm, da. Das ist mein Lohn für den heutigen Abend.“)

Ich hatte beides kaum auf dem kleinen Tisch abgestellt, als Wolfgang Platz nahm und das Publikum begrüßte.

Ahja, das Publikum: Ergänzend zu meiner ersten groben Schätzung von genau drei Gästen muss noch gesagt werden, das zwei dieser Gäste schwer betrunken an der Bar lehnten und der dritte Gast, ein offensichtlich obdachloser Literaturfreund, sein Kinn auf der Brust fixiert hatte, ich also nicht sagen kann, ob seine Augen offen waren.

Immerhin: die Betrunkenen quittierten Wolfgangs Begrüßung mit Applaus, wobei einer von seinem Barhocker auf den Boden rutschte.

Ohne weitere einleitende Worte begann Wolfgang zu lesen. Schnell und hastig verschluckte er die ersten Sätze, fand erst nach ein paar Minuten einen angemessenen Rhythmus.

An den Inhalt kann ich mich nicht genau erinnern. Es ging da um eine verbitterte alte Frau, die mit ihrem Pudel den Mord an einem Zirkusclown aufklärt. Teilweise muss es lustig gewesen sein, denn ich lachte mehrmals.

Hauptsächlich habe ich aber ihn angestarrt, wie er da saß, mit seinem abgewetzten Sakko über dem unvermeidlichen Rollkragenpullover und langsam aber sicher aufblühte.

Sein ganze Körper schien zu beben und er nicht nur Worte, sondern auch seltsame Schwingungen und Wellen auszusenden.

Und ich war ganz klar sein Empfänger, obwohl das restliche Publikum ebenfalls beeindruckt gewesen sein muss.

Hinter mir wurde es sehr still.

Ob all die Signale, die ich da empfangen habe, wirklich im Text standen, bezweifle ich. Die Wellenlänge änderte sich nämlich eindeutig, als nach zwanzig Minuten eine Gruppe von rund 12 Personen das Lokal betrat.

Es waren Freunde und Verwandte von Wolfgang, die sich auf der Suche nach dem Café verlaufen hatten. („Ehrlich Wolfi, wir haben’s nicht g´funden. Ned bös sein.“)

Man sah ihm die Erleichterung an und mir ging es nicht anders.

Es ist keine angenehme Vorstellung von jemandem mit Wellen beworfen zu werden, der sozial isoliert ist und keine Freunde hat, die ihn vor einer literarischen Demütigung beschützen.

Aber, wie gesagt, die Art der Wellen änderte sich. Bis zu dem Punkt, an dem wir zusammen das Lokal verließen.

Aus irgendeinem Grund hielt er meinen Arm fest, dabei wankte ich keinen Millimeter, hatte auch nur einen kleinen Schluck Rotwein getrunken. Seine Bezahlung war ungenießbar.

Nach der Lesung waren wir noch mit seinen Freunden beisammen gesessen. Als ich aber, mehr aus Verlegenheit, einmal auf die Uhr sah, sprang er auf und meinte, er müsse mich nach Hause bringen.

Prinzipiell brauche ich niemanden, der mich nach Hause bringt, aber hier wollte ich nicht bleiben. Und eben diese Wellen waren wieder da, genau zu dem Zeitpunkt, als die Tür des Lokals sich hinter uns schloss, er meinen Arm hielt, mich zu sich drehte und meinen Mund küsste.

Nach vielleicht zwei Sekunden löste er sich, strahlte mich an und meinte: „Danke. Ohne dich wäre ich heute gestorben. Komm gehen wir was Essen, ich bin so hungrig.“

Etwas verwirrt, antwortete ich: „Sind wir jetzt per „Du““? Zugegeben, das war nicht unbedingt die intelligenteste Antwort.

Er lachte und meinte: „Sehr geehrte Frau Lisa Neustifter, würden Sie mir die Ehre erweisen, Sie mit „Du“ ansprechen zu dürfen?“

„Wieso hast du mich geküsst?“

„Ich… ich…. es….“

(sehr streng) Wer hat dir das erlaubt?

(betretenes Schweigen, dann:) „Es tut mir leid. Das war zu euphorisch. Verzeihst du mir?“

„Nein.“

„Heißt das, du willst jetzt nicht mit mir Essen gehen?“

„Nein.“

In dem Augenblick hatte sich die Situation wieder umgedreht. Er war verwirrt und ich die Herrin über das Geschehen.

Er setzte seinen traurigen Literatenblick auf und stammelte: „Also, ich, was…?“

Ich nahm seinen Arm und lenkte die Schritte Richtung Taxistand.

„Ich möchte in ein Lokal mit vegetarischer Küche und anständigem Rotwein.“

Gegen ein Uhr nachts gab uns der sonst so freundlich lächelnde Chinese zu verstehen, dass wir sein Lokal augenblicklich verlassen sollten.

Wir waren die letzten Gäste. Vier Stunden lang hatten wir geredet, gelacht, gegessen, getrunken.

Als wir das Lokal verließen, wusste Wolfgang einiges über mein Leben und alles über mein Kirchendilemma.

Ich hingegen war versorgt mit Informationen betreffend seine diversen Beziehungskrisen und seine 10! Jahre alte Tochter.

Der Mann ist 28 und hat eine 10 Jahre alte Tochter! Was bitte lernen die Kinder heutzutage in der Schule?

Nach dem Chinesen fuhren wir mit dem Taxi zu mir. Vor meiner Haustür verabschiedete er sich artig.

Als er wieder ins Taxi steigen wollte, hielt ich ihn fest und küsste ihn.

Gut. Wenn du willst, können wir jetzt zu mir hinauf gehen. Wir legen uns auf mein Bett. Du darfst mich küssen und meine Brüste streicheln. Sollte deine Hand aber in die Nähe meiner Hose wandern, überlebst du den Abend nicht.“

Wenig später lagen wir in meinem Bett und Wolfgang hielt sich penibel an die Spielregeln. Er küsst sehr gut und hat herrlich sanfte Hände.

Gegen drei in der Früh musste ich kurz ins Bad. Vor dem Spiegel dachte ich ernsthaft daran, die Zonengrenze für seine Hände etwas zu lockern, doch als ich wieder ins Schlafzimmer kam, war er eingeschlafen. Diese Literaten.

Ich schlief kaum und um sechs in der Früh läutete mein Wecker, weil ich vergessen hatte ihn abzustellen.

Es war kein Schock, ihn so neben mir liegen zusehen, eben vielmehr wie dieser Gang durch eine Tür in ein neues Haus.

Ich weckte ihn auf, meinte bestimmt aber höflich, dass er jetzt gehen müsse. Er lächelte mich an, stand auf und tat wie befohlen.

Genauso war es. Heute ist Samstag. Ich muss einkaufen.

Nachmittag.

Wolfgang hat mir einen Zettel mit einem Rezept für Kekse hinterlassen. Außerdem stand da noch drauf, dass er am Dienstag mit mir Essen gehen will und bereit ist, jede nur denkbare Auflage zu akzeptieren.

Jetzt koche ich einmal dieses Rezept nach.

3. April

Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.

Nein, ich war nicht in der Kirche. Ich tue, was all die Christen machen, ich blättere in der Bibel und suche heraus, was mir gefällt.

Wie ich die Kekse, gebacken nach Wolfgangs Rezept, aus dem Ofen geholt habe, war ich noch felsenfest davon überzeugt, in die Kirche gehen zu müssen.

Die Kekse waren großartig. Eine simple Sache mit ein bisschen Schokolade, genau das Richtige zum Kaffee vor dem sonntäglichen Mittagessen.

Mir schmeckten sie so gut, dass ich die Hälfte davon gleich vom Backblech weg aufgegessen habe. Der Rest schien mir nicht ausreichend, um in der Kirche damit punkten zu können.

Aber das war nur ein Grund.

Ich fühlte mich leicht und froh. Dieser Zustand ist neu und ich war so dankbar. Es drängte mich, diese Dankbarkeit auch zu zeigen, diese leichte Freude zu verteilen, etwas zurückzugeben.

Ich bin zu dir auf den Friedhof gegangen und dort, vier Reihen weiter, bot sich die Möglichkeit, Gutes zu tun.

Ein Mann, so um die 40zig, stand mit einem verzweifelt unsicheren Gesichtsausdruck vor einem offenen Grab. Auf dem Grabstein stand: Familie Schuster.

Kurz zuvor hatte er noch mit einer jungen Frau gesprochen und seinen Blick kaum von ihrer Oberweite lösen können.

Letztere hat auch mich beeindruckt. Muss ein Vermögen gekostet haben. Als sie ging, blieb er allein zurück.

In dem Grab lag wohl seine Mutter oder sein Vater. Das letzte Jahr über war ich so oft auf dem Friedhof, habe so viele Begräbnisse beobachtet, dass ich die Trauernden mittlerweile sehr gut einschätzen kann.

Wenn die Eltern sterben, ist die Stimmung bei den erwachsenen Kindern oft nicht eindeutig. Das Ende hinterlässt meist mehr Fragen als Antworten.

Zuerst war ich nervös, schließlich kannte ich weder den Mann noch den Toten, doch die Sache konnte eigentlich nicht schief gehen.

Ich wusste, nur eine eindeutige Antwort würde diesen Mann befreien, also habe ich sie ihm gegeben. Es ist schon paradox: Vieles im Leben ist so kompliziert und anderes wieder so einfach.

Meine gute Stimmung hat sich den ganzen Tag über gehalten. Ganz erstaunt stellte ich fest, dass ich zweimal hintereinander vergessen habe, meine Tabletten in das Preiselbeerkompott zu geben. Offensichtlich komme ich auch ohne Medikamente zurecht. Kaum hatte ich das begriffen, schmeckte mir das Preiselbeerkompott nicht mehr.

Das ist schade, weil sie nämlich im Supermarkt wieder eine Lieferung bekommen haben, und die Kassiererin mich ganz stolz darauf angesprochen hat.

Brauche ich keine Tabletten und kein Preiselbeerkompott, muss ich auch dieses Tagebuch nicht weiter schreiben.

Ehrlich, ich schreibe nicht gern. Es wird sowieso viel zu viel geschrieben. Wolfgang gegenüber sollte ich das vielleicht nicht erwähnen. So ein netter Mann. (Steht da wirklich „Mann“?)

Ich koste noch einmal seine Kekse und, wenn sie mir wieder so gut schmecken, schlafe ich vielleicht mit ihm.

Apropos: im wahrsten Sinne des Wortes habe ich sein Rollkragenpullovergeheimnis gelüftet. Wie wir auf dem Bett lagen, zog ich ihm dieses schwarze Ding aus.

Ich konnte es einfach nicht mehr sehen. Er wehrte sich ein bisschen und als der Pullover am Boden lag – wo er auch hingehört – sah ich diese lange Narbe, die sich von seiner linken Brustwarze quer über die Brust bis knapp unter sein rechtes Ohr zieht.

Kurz starrte er mich an, erwartete fast ängstlich meine Reaktion. Ich küsste jeden Millimeter der Narbe und, als ich bei seinem Ohr ankam, lächelte er so dankbar, dass es mir fast weh tat.

Übrigens einen kleinen Schock gab es doch an dem Morgen, an dem ich neben ihm erwachte. Noch in der Phase zwischen Traum und vollständigem Erwachen fiel mir dein Cruella De Vil-Versprechen ein.

Ich drehte mich schnell zu Wolfgang. Einerseits war ich erleichtert, andererseits ein wenig enttäuscht. Neben Cruella aufzuwachen, hätte mich in dem Fall auch glücklich gemacht.

So, ich hör auf. Meine schriftstellerische Karriere endet mit diesem Tag.

Ich danke den amerikanischen Bibelfreaks, dass sie mir einen Blick auf ihren Glauben erlaubt haben, sehe die positive kulinarische Seite meines Konflikts mit Jennifer, aber schreiben muss ich nicht mehr darüber.

Eins noch: Ich war heute bei deinen Eltern. Vom Friedhof aus habe ich sie angerufen und gefragt, ob ich vorbei kommen darf.

Habe mich für mein schreckliches Verhalten beim Begräbnis entschuldigt und ihnen gesagt, wie blöd es von mir war, nicht auch ihren Schmerz zu bedenken.

Wir sind alle drei im Wohnzimmer gesessen, haben uns an den Händen gehalten und geweint.

Du weißt ja, wie schwer mir der Kontakt mit deinen Eltern fällt. Zum ersten Mal habe ich mich ihnen nahe gefühlt.

Sie vermissen dich so. Dein Vater pflegt dein Grab wie einen Garten und deine Mutter wechselt noch immer einmal pro Woche die Bettwäsche in deinem Zimmer.

Sie hat zwar behauptet, das wäre das neue Gästezimmer, doch insgeheim hofft sie, dass du dich, auch nach deinem Tod, von mir scheiden lässt und wieder bei ihnen einziehst.

Und ich? Bin ich jetzt geheilt? Nein, ich werde nie wieder so, wie ich es war, mit dir an meiner Seite.

Erst mit dir bin ich zu einem ganzen Menschen geworden, erst durch dich habe ich gemerkt, wie glücklich ich sein kann. Ich werde dich immer lieben. Ausnahmslos, bedingungslos, ewig.

PS: Heute auf einem der Gräber den Namen „Konrad Maulbeer“ entdeckt. Das war doch dieser absurde Namen, den Franz seinem Romanhelden geben wollte. Musste ihn sofort angerufen. Haben beide sehr gelacht.

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Kapitel 10

Das ist total unfair“, jammerte Benni und betrachtete Peters Hand.

Der Maier-Opa hatte beiden Kindern jeweils einen Euro gegeben, damit sie diesen in einen Kaugummiautomaten vor dem Gasthaus werfen konnten.

Im Gasthaus war der Leichenschmaus bereits in vollem Gang und die Stimmung, wie üblich bei so einer Gelegenheit, sehr ausgelassen. Nur der Maier-Opa machte sich Sorgen, weil sein Schwiegersohn Florian noch immer nicht erschienen war, die Gäste aber bereits die Nachspeise bestellten.

Die beiden Kinder konnte man nicht so lange ruhig auf ihren Sitzen halten, also hatte der Opa ihnen etwas Geld gegeben, damit sie den Automaten vor dem Lokal füttern konnten.

Peter hatte seinen Euro als erster eingeworfen und hielt stolz sechs große Kaugummis, drei Süße, drei Saure in seiner Hand.

Bennis Münze war nur mit zwei Kaugummis belohnt worden. „Du weißt, eh, dass das echt unfair ist.“

Peter sah seinen Freund an, überlegte schnell.

„Hier, da hast du zwei von meinen, dann haben wir beide vier.“

ENDE