#41 – Weihnachten wie damals
Als Fanny von Arnstein 1814, einer deutschen Mode folgend, den ersten Weihnachtsbaum in Wien aufstellte, konnte sie nicht ahnen, welche Konsequenzen das für mich haben würde.
Jedes Jahr vor Weihnachten zwingt mich die Familie, einen toten Baum zu beschaffen, der drei Wochen lang mit angestaubtem Dekorationsmaterial und Schokoschirmen behängt wird. Ich mag Schokoschirme, muss sie aber nicht zuerst aufhängen, um sie zu essen.
Wie ein regloser Elefant, der von einer sowjetischen Militärbehörde mit Orden geschmückt wurde, steht der Baum dann in der Mitte des Wohnzimmers, nimmt Platz weg, denn man weit besser nutzen könnte, wirft dabei still seine Nadeln ab und wartet auf sein Ende in einer städtischen Verbrennungsanlage.
Nervenaufreibend daran ist, dass es meine Stellung als aufgeklärter, liberal-moderner Familienvater notwendig macht, jedes Stadium dieses immergrünen Ärgernisses zu begleiten.
Ach wie schön war das früher, als ich noch ein arbeitendes Kind am Hof meiner Eltern war. Immer, kurz vor dem Heiligen Abend, deutete die Mutter, mit ihren, vom vielen Waschen schrumpeligen Händen flehentlich Richtung Wald. Der Vater wusste, was sie zu brauchen meinte, schnaubte missbilligend, aber auch am Land war eine Ehe halt ein Geben und Nehmen. Also nahm er die Hacke vom Küchentisch, begab sich in den Wald und hieb die erste windschiefe und von Rehen angefressene Fichte um, die er finden konnte. Illusionslos schliff er den Baum durch den winterlichen Schneematsch bis in die Küche und ließ ihn dort liegen. Um alles Andere, inklusive der Entsorgung, hatte sich die Mutter bzw. der Rest der Familie zu kümmern. Mein Vater, der Bauer, war nicht etwa geizig, doch hart erarbeitetes Geld auszugeben, um einem Baum beim Verdorren zuzusehen, erschien ihm geradezu widernatürlich.
Am Heiligen Abend standen wir dann überrascht vor dem Baum, denn die Mutter hatte es wie jedes Jahr geschafft, die Lücken im Geäst der Fichte mit Dekorationsmaterial derart zu kaschieren, dass ein echter Christbaum daraus wurde. Und alle, inklusive der Vater, waren irgendwie glücklich.
Ja, das ist lange her. Von heutigen Familienvätern werden ganz andere Kunststücke verlangt. Schon Mitte Dezember wird mir signalisiert, dass ehebaldigst der hoch dekorierte grüne Elefant das Wohnzimmer besetzen muss, denn die schönsten Exemplare wären bald vergriffen. Alle meine argumentativen Ansätze das zu verhindern, werden regelmäßig abgeschmettert. Bäume gibt es prinzipiell mehr als Käufer, die Zwillinge glauben schon lange nicht mehr an das Christkind und der Hund hat Angst vor dem grünen Monster. Meine liebe Sophie, mit ihren ganz und gar nicht schrumpeligen Händen meint, der Hund sei ein Trottel und ich wäre nur geizig.
Standhaft wie eine Sandburg lasse ich die Beleidigungen auf mich niederprasseln und zögere das familiäre Anliegen bis zum letzten möglichen Termin hinaus. Das Argument, schöne Bäume gäbe es nicht lange, konnte ich noch jedes Jahr widerlegen und für mein Zögern gibt es außerdem einen weit wichtigeren Grund: das breite, unverschämte Lächeln der Christbaumverkäufer!
Wer immer vor dem 22.12. ihre Bäume fachmännisch unter die Lupe nimmt und nach dem Preis des einen oder anderen fragt, ist nicht mehr als ein Schaf vor der Schlachtung. Der Verkäufer – meist ein Herr aus der Provinz, der sich in seinem Lagerhausfrack an den Städtern rächt – kann so gut wie jeden Preis verlangen, wohl wissend, dass der arme Teufel nicht ohne Baum nach Hause kommen darf, will er einen halbwegs angenehmen Abend verbringen.
Erschwerend kommt hinzu, dass der Preis des Baumes extrem von seinem Standort abhängt. Und zwar nicht vom Standort seines Wuchses, sondern dem Standort seiner Aufbahrung. Geschieht letztere an einem Ort mit hohem Durchschnittseinkommen der Bevölkerung, ist der Baum plötzlich viel mehr wert.
Mir ist klar, dass den Bewohnern meines Bio-Bezirks der Preis ihres Baumes recht egal ist. Mir nicht. Einmal Bauernkind, immer Bauernkind.
Mein Modus Operandi ist also derart, dass ich am Abend des 23. 12. bis zu einem Platz am industriell erschlossensten Ende der Stadt spaziere und dem dort stationierten Christbaumhändler eine knapp drei Meter hohe Fichte zu einem Preis abkaufe, für den man bei uns ums Eck höchstens einen Bonsai bekommt. Außerdem lächelt am 23.12. sowieso kaum noch ein Christbaumverkäufer. Zu dem Zeitpunkt gibt es mehr Ware als Kunden und der Herr in Latzhose ist plötzlich sehr flexibel, wenn es um die preisliche Gestaltung seiner Bäume geht.
Aus rein erzieherischen Motiven bin ich in den letzten Jahren dazu übergegangen, den Kauf des Baumes gemeinsam mit den Zwillingen vorzunehmen. Außerdem ist das Ding zu schwer für einen allein, und der Weg doch recht weit.
Die ersten Jahre war der Baumkauf mit den Kindern ein totales Fiasko. Ständig haben sie mir mit diversen Kommentaren in die Verhandlungen hineingepfuscht, wollten immer einen noch schöneren Baum, blieben regelmäßig beim Händler vor unserem Haus stehen und meinten: warum kaufen wir nicht einfach hier einen Baum? Vor zwei Jahren haben sie im pubertären Blutrausch den weiten Weg überhaupt verweigert und einen Händler im Stadtzentrum angesteuert. Dort kam es dann zu einem Schreiduell zwischen ihnen und mir. Fazit: Der Verkäufer hat mir breit grinsend zu verstehen gegeben, dass ich auch das Holzkreuz bezahlen muss.
Mittlerweile sind sie alt genug, um die Grundsätze der Christbaumwirtschaft verstanden zu haben, halten aber weiter an Sophies irrigem Glauben fest, dass der Baum sehr groß und sehr schön zu sein hat. In der Woche vor Weihnachten muss ich deshalb immer sehr lange mit dem Hund spazieren gehen, um nicht das familiäre Gejammer anzuhören, wann wir denn jetzt endlich den Baum kaufen, weil die schönsten Bäume ja sofort weg sind. Ich liebe meine Familie, aber manchmal ist es auch ganz schön, mit dem Hund zu reden.
Heuer schien es so, dass zumindest der Christbaumerwerb in gewohnten Bahnen verlaufen würde, doch habe ich leider nicht vorhergesehen, dass sich dieses verflixte Jahr 2020 nicht an Regeln halten würde.
Unschuldig mache ich in der Woche vor Weihnachten lange Spaziergänge, schloss mich unter dem Vorwand, Geschenke einzupacken, oft im Wohnzimmer ein und war meist extrem beschäftigt. Ab und an borgte ich mir auch die Noise-Cancelling Kopfhörer eines Kindes aus. Normalerweise werden bei diesen Kopfhörern nur die Stimmen der Eltern durch ein gefinkeltes technisches Verfahren neutralisiert, doch ich habe herausgefunden, dass es auch in die Gegenrichtung funktioniert, wenn man sie falsch herum aufsetzt!
Schlag 18 Uhr am 23.12., draußen ist es bereits stockdunkel, bitte ich die Zwillinge – ich schreie dreimal, weil sie wieder die Noise-Cancelling-Kopfhörer zurückgefordert haben – mich beim Christbaumkauf zu begleiten. Sie nehmen die Kopfhörer nicht ab, trotten aber langsam neben mir her, bis wir nach längerer Zeit endlich die Stadtgrenze erreichen. Kurz blicke ich über den dunklen Platz und lächle wissend. Der Christbaumhändler ist schlecht gelaunt und hinter der kleinen Absperrung stapeln sich die Bäume. Ich trete näher an ihn heran, will meine eingeübten Sätze loswerden, doch der Mann lässt mich nicht zu Wort kommen. „Es ist eine Tragödie, meint er. Noch nie hätte er so etwas erlebt. Die Kunden haben ihm die Bäume schon in den ersten Tagen aus der Hand gerissen. Dreimal hätte er seine Chefin um Nachschub gebeten, doch die Bauern sind mit dem Umhacken nicht mehr nach gekommen. Heuer ist niemand auf Urlaub gefahren und alle haben das frei gewordene Budget in große Christbäume „investiert“. Fünfmal so viel hätte er verkaufen können, aber er hat einfach nichts mehr.
Leicht blass sah ich mich um, betrachtete, den Stapel an Bäumen genauer und musste feststellen, dass es nur ein paar größerer Zweige waren, die übereinander lagen. Mit zitternder Stimme bat ich den Verkäufer mir den größten, verfügbaren Baum zu zeigen. Seufzend griff der Mann in den Haufen und stellte einen Baum vor uns hin, der mich fatal an meine Kindheit erinnerte. Die Zwillinge schüttelten wortlos die Kopfhörer.
Flehentlich bat ich den Mann um Alternativen, doch er zuckte nur mit den Schultern und meinte, weil ich so ein treuer Kunde sei, würde er mir den Baum nur um das Doppelte des üblichen Preises verkaufen.
Ich will an dieser Stelle nicht verraten, was mich dieser Baum bzw. seine Akzeptanz in der Familie gekostet hat, aber ich garantiere, dass sich die Christbaumhändler in den nächsten Jahren sehr warm anziehen werden müssen.
Der Heilige Abend war dann eigentlich ganz nett. Sophie hatte ein dekoratives Wunder vollbracht, die Kinder vor Begeisterung die Kopfhörer abgenommen und sogar der Hund wedelte kurz mit dem Schwanz. Und ich dachte mir, wie ich so vor dem Baum stand und „Stille Nacht“ summte: „Schau wie schön, ein Weihnachten wie früher.“
PS: Fanny von Arnstein liegt übrigens auf einem Friedhof in meiner Nähe. Bei meinem nächsten Besuch werde ich ihr respektvoll ein paar trockene Nadeln auf den Grabstein legen.